|76|DRITTES KAPITEL

Am Tage darauf erhielt ich abermals ein Billett von Madame de Guise, ich solle sie um Schlag zehn Uhr im erzbischöflichen Palast besuchen: was besagen wollte, wie ich annahm, daß sie den Abgrund ihres ›Verfalls‹ überwunden hatte und wieder auf der Höhe ihrer herbstlichen Schönheit war.

Ich fand sie im Bett, aber geschminkt, frisiert und in einem sehr kleidsamen hellblauen Morgengewand. Und unter der Decke neben ihr erblickte ich eine Schlafgefährtin, die mir den Rücken zuwandte.

»Ich bin wieder ins Bett gekrochen«, sagte die Herzogin, »mir war kalt. Das Wetter ist so plötzlich umgeschlagen. Nun, Söhnchen, bleibt nicht da stehen. Kniet Euch hier zu mir. Perrette, bring ein Polster für den Chevalier! Aber daß du mir nicht wieder mit ihm äugelst, wie du es gerne machst, sonst schick ich dich zurück zu deinen Kühen.«

»Madame«, sagte Perrette leicht entrüstet, »ich habe noch nie Kühe gehütet.«

»Dann lernst du es. Anfangen muß jeder mal.«

»Wer ist da?« fragte mit gedehnter Stimme die Schläferin, die uns den Rücken kehrte.

»Der Chevalier de Siorac.«

»Ach, bitte, Mama, gebt dem kleinen Cousin von mir einen poutoune. Er allein ist netter als meine vier Brüder zusammen.«

Auch wenn die Schläferin nicht ›Mama‹ gesagt und von ihren Brüdern gesprochen hätte, ich hätte die Prinzessin Conti allein an ihrer spöttelnden, koketten Stimme erkannt.

»Madame«, sagte ich, »für diese Ehre würde ich das Bett gern umrunden.«

»Kleiner Cousin«, sagte sie, »ich habe Euch vorgestern zwei Küsse gegeben. Das reicht. Sonst gewöhnt Ihr Euch noch daran … Nur weil alle Männer mich anbeten, muß ich meine Gunst ja nicht verschwenden.«

|77|»Nur dauert die Anbetung nicht ewig, leider!« sagte Madame de Guise, indem sie mit kläglicher Miene den Kopf schüttelte.

»Nicht, wenn ich nach Euch gehe, Frau Mama«, sagte die Prinzessin, diesmal ohne ihren spöttelnden Ton, indem sie sich zu uns herumdrehte und ihrer Mutter mit dem Handrücken das Gesicht streichelte.

»Mehr als einer am Hof«, setzte sie mit Wärme hinzu, »würde sich nur zu gerne in diesen blauen Augen spiegeln, wenn Ihr nicht so an einem bestimmten Herrn hinget.«

»Ach, Tochter, Tochter!« sagte Madame de Guise. »Wäre ich doch an Eurer Stelle!«

Da ich sah, daß sie gleich wieder in ihren schwarzen Gründen zu versinken drohte, gab ich mir einige Mühe, die Flut einzudämmen.

»Auch wenn die Prinzessin wunderschön ist«, sagte ich, »verlöre ich viel, wenn Euer Wunsch in Erfüllung ginge: ich hätte keine liebe Patin mehr. Und wie leer wäre es dann in meinem Leben!«

Hiermit ergriff ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen.

»Ihr habt recht, Töchterchen«, sagte Madame de Guise mit bewegter Stimme, »er ist wirklich lieber als die anderen vier zusammen! Mein Gott, wenn ich daran nur denke! Dieser Erzbischof! Muß er diese Charlotte in der Galerie über dem Chor plazieren! Am Tag der Salbung! Hinter einer Säule wie hinter seinem kleinen Finger versteckt! Wenn sie wenigstens nicht so gewöhnlich wäre.«

»Aber, wie ich hörte«, sagte die Prinzessin, »ist Madame des Essarts doch wohlgeboren?«

»Ach, was heißt hier wohlgeboren, wenn eine Frau nicht auch Anmut hat! Die Trine hat doch keine Haltung. Sie ist linkisch zum Erbarmen, geht über den Onkel. Und Busen hat sie zwar, aber keinen Hintern.«

»Mama«, sagte die Prinzessin lachend, »woher wollt Ihr das wissen?«

»Das sieht man, und wenn sie sich noch so auspolstert. Da, seht Euch Perrette an: ihr braucht ihr nur ein wenig die Kuhfladen abzukratzen …«

»Aber, Madame, ich habe niemals Kühe gehütet!« sagte Perrette verzweifelt.

|78|»Still, dumme Pute! Zieht der Perrette die feinen Plünnen von Madame des Essarts an, und sie werden ihr hundertmal besser sitzen, und sie wird tausendmal hübscher aussehen!«

»Vielen Dank, Madame!« sagte Perrette, plötzlich froh. »Trotzdem, wenn ich sagen darf, was ich denke, so wollte ich lieber nicht mit dem Herrn Erzbischof schlafen aus Furcht, daß mir mein Gewissen schlüge.«

»Wollte Gott«, rief die Herzogin, indem sie die Augen zum Himmel hob, eine Mimik, die sie oft anwandte, weil sie ihre schönen Augen in Geltung setzte, »wollte Gott, meinen Söhnen schlüge mal das Gewissen! Vor allem Charles! Söhnchen, sagt mir, habt Ihr bei Ludwigs Krönung unter den Pairs den Herzog von Guise gesehen?«

»Nein, Madame, und ich war sehr verwundert, weil ich ihm vorgestern doch hier begegnet bin.«

»Ha, dann werde ich Euch sagen, weshalb er fehlte! Vorgestern hat Charles den ganzen Tag versucht, den Herzog von Nevers zu überreden, daß er ihm bei der Salbung den Vortritt läßt, aber der Herzog lehnte ab, ganz zu Recht, schließlich ist er Gouverneur von Reims und hier zu Hause. Daraufhin beschloß doch dieser Narr, der Salbung überhaupt fernzubleiben, ich mochte bitten, wie ich wollte, aber er scheute sich nicht, dem König, der Regentin, dem Kardinal de Joyeuse und den anderen Pairs eine solche Kränkung anzutun!«

»Frau Mutter«, sagte die Prinzessin Conti, die vielleicht vermeiden wollte, daß sie nach dem Erzbischof und dem Herzog nun auch ihr Teil abbekam, »erlaubt, daß ich gehe und Euch Perrette entführe. Es ist spät, und ich möchte Toilette machen.«

»Geht, mein Kind«, sagte Madame de Guise, »wenn es auch ganz unnötig ist, daß Ihr Euch anputzt, weil Ihr in Eurer Jugend sowieso am schönsten seid, wie Ihr aus dem Bett aufsteht. Aber tut mir vorher einen Gefallen: sagt Eurem armen Gemahl guten Morgen.«

Ohne etwas zu versprechen, erhob sich die Prinzessin in ihrem Nachtgewand (das sehr leicht, sehr ausgeschnitten und fast durchsichtig war), raubte uns jedoch nicht umgehend das Licht ihrer Schönheit, denn unter dem Vorwand, sich zu strecken und ihre langen schwarzen Haare auf dem Scheitel aufzustecken, ließ sie uns in Muße ihren prächtigen, schlanken und doch wohlgerundeten Körper bewundern, indem sie ihr |79|Rekeln und Strecken mit herausfordernden und gleichwohl sehr liebevollen Mienen begleitete, denn trotz ihrer Koketterie, ihres hochfahrenden Wesens und der Scharfzüngigkeit, mit der sie ihre Nächsten traf, war sie ihnen sehr zugetan.

»Habt Ihr gehört, Louise-Marguerite?« sagte die Herzogin. »Ich befehle es Euch! Ihr geht jetzt auf der Stelle zum Prinzen: diese Höflichkeit seid Ihr ihm schuldig dafür, daß er wieder einmal allein geschlafen hat.«

»Madame«, sagte sie, »ich kann nicht anders! Der Prinz schnarcht! Und das Tollste ist, er schnarcht in Stößen: sogar im Schlaf stottert er.«

»Oh, seid Ihr boshaft!« rief Madame de Guise. »Geht bloß! Wäret Ihr nicht meine Tochter, müßt ich Euch hassen.«

Aber während sie diese mögliche Verdammung aussprach, lächelte sie halb ärgerlich, halb belustigt und folgte ihr mit gerührtem Blick, während die Prinzessin in lässigem Schritt, die Nase hoch, die Schultern sehr gerade, hinausging.

»Wie grausam man ist, wenn man nicht liebt!« sagte Madame de Guise seufzend. »Der arme Prinz! Sicher ist er alt, häßlich, leidend, kann keine drei Worte nacheinander sagen! Und taub ist er, wozu soll man da mit ihm reden? Und wie soll er antworten, da er schwachköpfig ist? Von seinen anderen Schwächen ganz zu schweigen … Also, Ihr könnt Euch vorstellen, daß er mit der Prinzessin nicht mehr anfangen kann als sie anzuhimmeln, und selbst diese Freude gönnt sie ihm nicht oft. Aber zum Teufel mit meinem Gejammere! Kommen wir zu unseren Dingen. Ich habe genug mit meinen Söhnen zu tun, um mir auch noch Sorgen um meinen Schwiegersohn zu machen.«

Hierauf betrachtete sie mich schweigend mit einer Ernsthaftigkeit, die ihr, wer weiß wieso, ein wundersam kindliches Aussehen gab.

»Söhnchen«, sagte sie, »ich bin froh, daß wir jetzt unter vier Augen sprechen können. Was ich Euch zu sagen habe und was äußerst folgenreich für Euch und alle ist, die Euch lieben (dabei lächelte sie mich an), muß bei Strafe, die Sache zu verderben, vollkommen geheim bleiben. Ihr dürft Euch nur Eurem Vater eröffnen, denn letztlich hängt von ihm der Erfolg eines Unterfangens ab, das Eurem Fortkommen sehr dienlich sein könnte.«

|80|Ich erbebte bei diesem Wort, denn als meine liebe Patin das letztemal für mein ›Fortkommen‹ hatte sorgen wollen, war ich zwölf Jahre alt. Damals wollte sie mich unbedingt zum Pagen des Königs machen: ein Vorschlag, der, wenn mein Vater ihn gutgeheißen hätte – aber er tobte vor Zorn! – mich gezwungen hätte, meine Studien fahren zu lassen, um mich – ich zitiere die väterlichen Worte – in die Schule der ›Tagedieberei und des Lasters‹ zu begeben. Da ich aber zunächst mit meinem Vater über das jetzt ins Auge gefaßte Vorhaben sprechen sollte, hatte ich, wie mir schien, nicht viel zu fürchten, denn mein Vater würde jede abwegige Idee im Keim ersticken.

»Ihr blickt so grübelnd, Söhnchen..?«

»Ich brenne vor Neugier, Madame.«

»Ihr sollt zufriedengestellt sein. Kennt Ihr den Marquis de Saint-Régis?«

»Nein.«

»Er ist einer der vier Ersten Kammerherren des Königshauses.«

»Was ihm, wette ich, sehr gute Einkünfte bringt.«

»In der Tat, aber der Marquis de Saint-Régis ist über die Fünfzig, und weil er vom Hof und vom Pariser Gestank genug hat, will er sein Amt verkaufen und sich nach Joinville auf sein Landhaus zurückziehen, das er mit dem Erlös aus diesem Verkauf instand setzen will. Er hat mir seinen Plan unterm Siegel der Verschwiegenheit anvertraut.«

»Und warum die Geheimhaltung?«

»Der Marquis de Saint-Régis ist mit den Guises verwandt und würde sein Amt, wenn möglich, gerne an meinen Jüngsten, den Chevalier de Guise, verkaufen, der aber keinen blanken Sou besitzt.«

»Und warum kauft Ihr es ihm nicht, Madame?«

»Ihr macht wohl Witze, Söhnchen! Der Marquis de Saint-Régis verkauft sein Amt für hunderttausend Livres. Wo soll ich eine solche Summe hernehmen? Ich habe vierhunderttausend Livres Schulden und halte meinen Rang nur dank der Freigebigkeit der Königin. Aber die ist nicht grenzenlos. Trotzdem habe ich mich gehütet, Saint-Régis gleich abzuweisen. Zumal er in seiner Treue um jeden Preis wollte, daß sein Amt im Haus Guise bleibt. Denn ich dachte an Euch.«

»An mich, Madame!« sagte ich verblüfft.

|81|»An Euch«, sagte sie lächelnd. »Verbindet uns beide nicht auch ein Blutsband?«

»Oh! Und wie teuer es mir ist! Aber hunderttausend Livres! Wo sollte ich die hernehmen?«

»Euer Vater wird sie Euch geben.«

»Mein Vater! Aber Ihr wißt doch wie ich, wir leben daheim glücklich, aber karg.«

»Genau so wird man reich, mein Söhnchen. Viel einnehmen, wenig ausgeben.«

»Mein Vater und reich? Ich traue meinen Ohren nicht!«

»Er ist es! Auch wenn er als Edelmann bei seinen Geschäften nicht in Erscheinung tritt und Strohmänner benutzt, kennt Euer Vater, mein Kind, tausend und ein Mittel, einen Sou in einen Ecu zu verwandeln.«

»Und er sollte hunderttausend Livres ausgeben, um mir dieses Amt zu verschaffen?«

»Er liebt Euch, also wird er es tun, wenn er sieht, daß diese Stellung Euch nicht widerstrebt.«

»Sie widerstrebt mir ganz und gar nicht!« rief ich.

Und auf der Stelle küßte ich ihre Hände. Aber sie nahm meinen Kopf in die ihren, zog mich bewegt an sich und flüsterte: »Ach, mein Sohn, mein Sohn!« Sie hatte mich noch niemals so genannt, auch nicht, wenn wir allein waren. Diesmal aber konnte sie sich nicht bezwingen. Und weil sie sich auf dem Gipfel ihres irdischen Glücks fühlte, weinte sie.

Auch ich war heftig bewegt durch die Zeichen ihrer großen Liebe und noch mehr vielleicht durch ihre Vorliebe für mich, denn seit jeher hatte sie mich weit über ihre legitimen Söhne gestellt. Trotzdem war ich nicht aus denselben Gründen glücklich wie sie und hütete mich, ihr ein Wort davon zu sagen. Madame de Guise sah mich in Stellung bei Hofe, mit einem ehrenwerten Titel geschmückt, mein Leben lang im Genuß einer hohen Pension und – die höchste Ehre – einer Wohnung im Louvre. Ich war für die Vorteile dieser Stellung weder blind noch unempfänglich, aber das Entscheidende daran war für mich, daß sie mir erlauben würde, um Ludwig zu sein und ihm zu dienen, wie ich es mir immer gewünscht hatte, und ganz besonders nach dem Tod seines Vaters.

»Mein Gott!« rief plötzlich Madame de Guise, indem sie mich aus ihrer Umarmung freigab und erschrocken mit beiden |82|Händen ihre Wangen faßte, »ich habe geweint! Geschminkt, wie ich bin! Nein, wie konnte ich … Söhnchen, bitte, seht mich nicht an! Und laßt mich allein, geht, laßt mich!«

Obwohl dieser jähe Abschied mich ein wenig verstörte, kannte ich Madame de Guise doch zu gut, als daß ich sie hätte umstimmen können, wenn sie in solcher Verfassung war. Und ich verließ sie mit einem letzten Blick, den sie mir nicht zurückgab, weil sie nur beschäftigt war, sich in einem kleinen Spiegel mit einer so angstvollen Miene zu betrachten, daß es mir ins Herz schnitt.

Ich war noch keine zehn Schritt von ihrem Zimmer entfernt, als ich auf einen großen, sehr kräftigen jungen Geistlichen stieß, der mich tief grüßte und in dem ich denjenigen erkannte, der während der Salbung in der Galerie über die Sicherheit von Madame des Essarts gewacht hatte. Ich erwiderte seinen Gruß, und zu meiner großen Überraschung blieb er vor mir stehen und sprach mich an.

»Monsieur, seid Ihr nicht der Chevalier de Siorac?«

»Der bin ich.«

»Monsieur de Bassompierre hatte Euch von seinem Fenster aus hier eintreten sehen, und weil er sich dachte, daß Ihr die Frau Herzogin von Guise besuchen würdet, hat er mich beauftragt, Euch abzupassen und ohne Aufsehen zu ihm zu bringen. Ist Euch dies genehm, Herr Chevalier?«

Ich betrachtete ihn, während er sprach. Er war strohblond, trug eine kleine Calotte (schwarz wie seine Soutane) und hatte fahle Augen, die mir sehr klein vorkamen. Sicherlich, weil er andauernd zwinkerte wie ein Nachtvogel im jähen Licht. Im Gegensatz zu seinen Augen und seiner Nase, die ebenfalls sehr klein war, hatte er einen so langen Kiefer, daß er einem Pferd ähnlich sah. Er geizte nicht mit Verbeugungen, wahrlich nicht. Beinahe bei jedem Satz klappte er nach vorn. Es sah immer aus, als bräche er entzwei. Aber, Gott sei Dank, richtete er sich jedesmal wieder auf, sehr groß, sehr gerade und in einem fort zwinkernd.

»Sicher«, sagte ich, »es ist mir genehm.«

Nach einer neuen Verbeugung sagte der Geistliche mit jener samtig murmelnden Stimme, mit der Priester zugleich ihre Demut und ihre Abscheu vor den Kriegskünsten bekunden: »Herr Chevalier, ich stehe Euch zu Diensten. Beliebt mir zu |83|folgen. Ich führe Euch an einen Ort, wo Monsieur de Bassompierre Euch sprechen kann, ohne beobachtet zu werden.«

Nach neuerlichem Gruß zog er mich so geschwind mit sich fort durch ein Gewirr von Gassen, daß ich kaum hinterherkam, vor allem weil er ellenlange Beine hatte, auf denen er übermäßig ausschritt, während seine Soutane bald vorwärts, bald rückwärts um seine Quadratfüße knatterte. Ich eilte ihm fast im Laufschritt nach, bis er endlich vor einer niedrigen Rundbogenpforte anhielt, mit der Hand tief in seine Soutane griff und einen großen Schlüssel hervorzog, mit dem er aufschloß.

Die Pforte öffnete einen tintenschwarzen Raum, der Geistliche wandte mir seinen Pferdekopf zu und bat mit neuerlicher Verbeugung, ich möge warten. Er schlug ein Feuerzeug an, mit der kleinen Flamme an seinem langen Arm ging er hinein und zündete zwei Leuchter an, so daß aus der Finsternis ein kleiner Altar mit einem Kruzifix und einem sehr niedrigen, sehr feuchten Gewölbe darüber auftauchte, dessen Modergeruch mir schwer entgegenschlug.

»Was ist das hier?« fragte ich überrascht, weil der Raum so winzig war.

»Wie Ihr seht, Herr Chevalier, ist dies eine Kapelle. Ein Vorgänger des Erzbischofs pflegte sich hierher zurückzuziehen, eben weil die Kapelle so klein und dunkel ist wie ein Grabgewölbe.«

»War er ein so frommer Mann, daß er dadurch sein Fleisch abtöten wollte?«

»Ich bin zu jung, um ihn gekannt zu haben, aber manche sagen, er sei sehr weltlich gewesen und habe seine Diözese nur selten besucht. Sie bezweifeln, daß er in dieser Kapelle jemals gebetet habe. Andere versichern hingegen, er beliebte hier über seinen Tod zu meditieren.«

»Und wann ist er gestorben?«

»Der Herr hat ihn in seinem dreiunddreißigsten Jahr abberufen, das war 1588 im Schloß zu Blois«, sagte der Geistliche, indem er schamvoll die Augen niederschlug.

»Ah,« sagte ich, »dann ist es der berühmte Kardinal Guise! Der Onkel unseres Erzbischofs.«

Hierauf antwortete der Geistliche nur mit einer neuen Verbeugung.

|84|»Herr Chevalier, erlaubt, daß ich mich entferne. Ich werde Euch stehenden Fußes Monsieur de Bassompierre zuführen.«

»Monsieur«, sagte ich, indem ich ihm einen Ecu reichte, »tausend Dank für Eure Verbindlichkeit, bitte, nehmt diese bescheidene Gabe und lest eine Messe für mich.«

»Herr Chevalier«, sagte der Geistliche, indem er den Ecu mit wunderbarer Geschwindigkeit in einer Tasche seiner Soutane versenkte, »ich bin erst Hilfsdiakon und darf noch keine Messen lesen, aber ich werde für Euch beten.«

Hierauf durchmaß er mit einem Riesenschritt das Kapellchen, schloß hinter sich die Pforte, und ich traute meinen Ohren nicht, als ich den Schlüssel zweimal im Schloß knirschen hörte.

Dieses Übermaß an Vorsicht und Geheimniskrämerei dünkte mich ziemlich seltsam, denn Bassompierre und ich wollten ja keine Staatsgeheimnisse austauschen. Und anstatt dem einfältigen Hilfsdiakon zu trauen, dachte ich eher, daß er dem uns erwiesenen Dienst nur Wichtigkeit verleihen wollte. Ich setzte mich in den Lehnstuhl, neben dem Betpult das einzige Mobiliar in der Kapelle, und wartete, ohne daß ich, wie ich gestehen muß, das geringste Bedürfnis verspürte, dort zu beten oder über meinen Tod nachzusinnen, wie es vom Kardinal Guise behauptet wurde.

Offen gestanden hielt ich diese Version schlicht für eine Erfindung der Liga, um aus dem Kardinal Guise einen Märtyrer zu machen. Denn nicht friedlich war er ›von Gott abberufen‹ worden, sondern der Kardinal wurde ermordet durch einen Spieß in der Brust, zwei Tage, nachdem sein Bruder, der Herzog von Guise, auf Befehl Heinrichs III. von den Fünfundvierzig1 zur Strecke gebracht worden war: ein Doppelmord, zu dem dieser menschliche, fromme und zur Vergebung geneigte König sich gezwungen sah, weil beide Brüder sich gegen seinen Thron und sein Leben verschworen hatten.

Bekanntlich konnte sich Heinrich III. seines Sieges nicht lange freuen. Im Jahr darauf wurde er von der Liga ermordet. Obwohl ich damals noch nicht geboren war, hat mein Vater, ein Zeuge dieser Ereignisse, mir all das so eindringlich und auf meine Bitten hin so oft erzählt, als ich Kind war, daß ich fast glaubte, ich hätte es selbst miterlebt.

|85|Diese Erinnerungen, wenn ich so sagen darf, waren nicht gerade erfreulich. Der Ort, an dem ich sie berief, vermehrte in mir das Grauen darüber. Und der Modergeruch, der durch das Halbdutzend Kerzen, die in dem engen Gewölbe brannten, nicht gemildert wurde, verstärkte in mir das Gefühl zu ersticken. So war ich unendlich erleichtert, als der Schlüssel aufs neue im Schloß knirschte und Bassompierre hereintrat.

»Mein Freund«, sagte er in raschem Ton zu dem Geistlichen, indem er ihm eine Handvoll Ecus hinstreckte, »seid so gut, uns Euren Schlüssel zu überlassen. Ihr erhaltet ihn zurück, sowie dieses Gespräch beendet und die Pforte zuverlässig abgeschlossen ist. Auf Wiedersehen, mein Freund, und gedenkt meiner in Euren Gebeten.«

»Ich werde es nicht versäumen, Herr Graf«, sagte der Geistliche, der vor Überraschung über die sehr reichliche Spende sogar einmal aufhörte, mit den Augen zu zwinkern.

»Ich werde es nicht versäumen«, wiederholte er zur Bekräftigung. Und nachdem er sich vor Bassompierre bis zur Erde verneigt hatte, schwenkte er auf seinen großen Füßen herum, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und ich bezweifelte sehr, daß er zum Dank für mein armseliges Goldstück auch nur ein Pater noster für mich beten würde.

Bassompierre verriegelte die Tür, dann umarmte er mich und sagte gedämpft: »Sprechen wir leise. Womöglich lauscht der sonderbare Vogel hinter der Tür, wenn sie auch unglaublich dick ist.«

»Alle Wetter!« fuhr er lauter fort, »das ist ja hier wie eine Gruft! Und wie das stinkt! Ma non importa. Presto avrò finito.1 Schöner Neffe«, sagte er, vom Italienischen ins Deutsche wechselnd, »unsere Freundin hat in Heidelberg keine sehr glücklichen Tage. Nach dem Tod des Pfalzgrafen hat sein Sohn Friedrich die Nachfolge angetreten, aber er ist erst vierzehn Jahre alt, und bei den Personen, die an seiner Statt regieren, steht unsere Freundin nicht im Ruch größter Frömmigkeit: was sie zusätzlich veranlaßt – außer dem Euch bekannten Grund«, fügte er mit einem Lächeln hinzu –, »sobald als möglich nach Paris in ihr Hôtel, Rue des Bourbons, zurückzukehren. ›Spart weder Zeit noch Geld‹, schrieb sie mir. Aus Gründen, die ich nicht nenne, schöner |86|Neffe, will ich aber in dieser Angelegenheit nicht in Erscheinung treten. Darum beschloß ich, meinen Kredit beim Marquis von Ancre zu nutzen, den ich seinerzeit in Florenz ziemlich gut kannte, wo er ein loses Leben führte, viel Geld, das er nicht besaß, in alle Winde streute und auf Pump üppig lebte. Er weiß mir Dank, daß ich die Summen, die ich ihm lieh, gefälligst vergessen habe. So trat er auf mein Verlangen an die Königin heran, die ihn beschied, er möge die Sache mit der Marquise regeln.«

»Wie!« rief ich, »die Marquise von Ancre entscheidet an Stelle der Regentin?«

»Sicher, vermittels eines Nadelgeldes.«

»Eines Nadelgeldes? Was soll das heißen?«

Er hatte das deutsche Wort Nadel verwendet, das ich wohl kannte, doch in diesem Zusammenhang konnte ich nichts damit anfangen.

»Nadelgeld ist bei Frauen dasselbe wie Trinkgeld bei den Männern.«

»Wie! Ich soll dieser Leonora Geld dafür anbieten, daß die Regentin unserer Freundin erlaubt, nach Frankreich zurückzukehren? Das ist doch unerhört!«

»Mein schöner Neffe«, sagte Bassompierre, »ich bin Deutscher: darüber, wie die Dinge derzeit in Frankreich laufen, steht mir kein Urteil zu. Vergeßt nicht, in diesem Land bin und bleibe ich, und will auch nichts anderes sein, immer nur ›Pfarrkind dessen, der Pfarrer ist‹.«

»Und wohin geht dieses Geld?« fragte ich staunend.

»Natürlich in die Truhen der Marquise, die ebenso bodenlos sind wie ihre Redlichkeit. Und, um es abzuschließen: da ich, wie gesagt, in dieser Angelegenheit nicht hervortreten will, überlasse ich es Euch, die Marquise in ihrem Bau aufzusuchen.«

»Ich soll sie aufsuchen?«

»Ja, Ihr!« sagte er lachend. »So jung und schön Ihr auch seid, wird die Marquise Euch doch nicht gleich fressen. Ihre einzige Liebe ist das Geld.«

Und weiter lachend ging er zur Tür, entriegelte sie blitzschnell und warf einen Blick hinaus.

»Ich habe der zwinkernden Giraffe Unrecht getan«, sagte er, nachdem er wieder zugeschlossen hatte. »Alsdann«, fuhr er lebhaft fort, »es liegt nun bei Euch, den Handel mit dieser Dame zu führen. Fürs erste bietet Ihr fünftausend Livres.«

|87|»Fünftausend Livres!«

»Die ich Euch im Namen Frau von Lichtenbergs gebe und die sie mir dann zurückerstattet. Wißt aber, daß diese Summe die Marquise nicht im mindesten beeindrucken dürfte. Wahrscheinlich wird sie eine kleine Schippe ziehen und mit ihrer näselnden Stimme sagen: ›È derisorio, Signor!‹1 Dann bietet Ihr zehntausend Livres.«

»Zehntausend Livres! Und was, wenn ihr die noch nicht reichen?«

»Dann nehmt Ihr den liebenswürdigsten Urlaub und sagt, Ihr würdet es Euch überlegen, und ich frage dann brieflich bei unserer Freundin an, ob ich den Einsatz erhöhen soll.«

»Und angenommen, die Marquise nimmt die zehntausend Livres, wer garantiert uns, daß sie Wort hält?«

»Die Marquise von Ancre würde jede Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie ihre Zusagen nicht einhielte. Wozu sollte sie sich außerdem so einträgliche Geschäfte verderben? Selbst der Ehrlose, schöner Neffe, bedarf einer gewissen Ehrenhaftigkeit.«

Bassompierre schien sehr froh, zum Schlußwort gefunden zu haben. »Geht Ihr als erster, schöner Neffe«, sagte er, »es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen gehen sähe.«

Damit umarmte er mich, und ich ging mit gemischten Gefühlen davon, denn mein glühender Wunsch, Frau von Lichtenberg wiederzusehen, wurde durch die unerquickliche und für mein Gefühl nahezu ehrenrührige Seite des Handels verdüstert, von dem ihre Rückkehr abhing. Für Bassompierre, den glücklichen Spieler, war dies nur ein anderes Spiel, bei dem er belustigt die Fäden zog. Mir aber lag die Sache so sehr am Herzen, daß es mich schwer bedrückte, deshalb mit diesem heillosen Pärchen feilschen zu müssen, das unser Land ausplünderte.

* * *

Auf der Heimreise nach Paris ließ mein Vater unsere Kutsche einen großen Umweg über Soissons und Villers-Cotterêts fahren, denn er wollte nicht in das unerhörte Gedränge der Equipagen geraten, in denen der Hof unserem schönen, stinkenden Paris entgegenstrebte. Weil man aber der Königin |88|folgte, die sich an den Stationen gerne Zeit ließ, traf der Hof erst volle zwei Tage nach uns in der Hauptstadt ein.

Im Unterschied zu anderen vornehmen Parisern behandelte mein Vater unser Hausgesinde, wie es sein Vater auf seinem Gut im Périgord damit hielt. Nicht daß er mehr als andere zahlte, aber unsere Leute gehörten zur Familie, und in ihr hatte ein jeder seinen geachteten Rang. Am Tag nach unserer Heimkehr, nachdem wir uns von der Mühsal der Reise erholt hatten, rief mein Vater unsere Leute denn nach dem Mittagessen zusammen und erzählte ihnen von der Salbung in etwa das, was auch ich auf diesen Seiten erzählt habe, indem er jedoch mehr von der Lieblichkeit und Tapferkeit unseres kleinen Königs berichtete als von dem Pomp der Feierlichkeiten und dem Gebaren der Großen.

Auf unserer Heimreise hatte er die Fragen nicht erörtern wollen, die das Amt des Marquis de Saint-Régis und die Rückkehr Frau von Lichtenbergs nach Frankreich betrafen. Aber nachdem wir miteinander gespeist hatten, zog er sich mit La Surie und mir in unsere Bibliothek zurück und verlangte von mir einen lückenlosen Bericht meiner Gespräche zu Reims sowohl mit Madame de Guise als auch mit Bassompierre.

Als ich geendet hatte, und niemand konnte besser zuhören als mein Vater, wenn der Gegenstand ihm wichtig erschien (aber auch schlechter, wenn er ihn frivol dünkte), strich er sich seinen Kinnbart und zwirbelte seine feinen Schnurrbartspitzen.

»Die Gelegenheit«, sagte er, »Euch dieses Kammerherrenamt zu kaufen, erscheint so günstig, daß es ein Jammer wäre, sie ungenutzt verstreichen zu lassen, obwohl die geforderte Summe beträchtlich ist.«

»Ist sie nicht etwas sehr hoch?« fragte La Surie. »Vor einem Jahr verlangte der Herzog von Bouillon für dasselbe Amt fünfzigtausend Livres, als der König es ihm für Bassompierre abkaufen wollte.«

»Und derselbe Herzog von Bouillon hat den Preis vervierfacht, als er dasselbe Amt jetzt an Concini abtrat! Sicher, er wußte nur zu gut, daß Geld keine Rolle spielt bei Leuten, die ihre Hand so dicht am Staatssäckel haben … Zieht man jedenfalls in Betracht, daß die unbedenkliche Freigebigkeit der Regentin sämtliche königlichen Ämter stark verteuert hat, ist |89|die Summe, die der Marquis de Saint-Régis fordert, noch recht maßvoll. Der springende Punkt dabei ist eher, ob ich das Geld fristgemäß zusammenbringen kann.«

»Herr Vater«, sagte ich und stotterte fast vor Aufregung, »wollt Ihr diese gewaltige Summe tatsächlich für mich aufwenden? Könnten Eure anderen Kinder in Montfort-l’Amaury dann nicht mit Recht sagen, daß ich sie um einen Teil ihres gesetzlichen Erbes bringe?«

»Bewahre, mein Sohn. Sie sind erwachsen und wohlversorgt: mein Ältester ohnehin, dann habe ich meine Töchter verheiratet, und meine Jüngsten betreiben gemeinsam einen Seehandel, das einzige Gewerbe, das Adligen erlaubt ist, wie Ihr sicher wißt.«

»Mit noch einer Ausnahme: der Glasbläserei«, ergänzte La Surie, aber nicht, weil er glaubte, mein Vater wisse es nicht, sondern weil er sich gerne selbst besann, daß auch er zum Adel gehörte und die Bräuche seines Standes kannte.

»Im Augenblick«, sagte mein Vater, »könnte ich nur über fünfundsiebzigtausend Livres verfügen, aber ich habe guten Kredit und kann die übrigen fünfundzwanzigtausend bestimmt zu einem angängigen Zins leihen.«

»Was nennt Ihr angängig?« sagte La Surie. »Der Jude, bei dem ich mein Geld Bauch ansetzen lasse, verleiht zu zwanzig Prozent. Wollt Ihr Euch eine derartige Schuld aufhalsen?«

»Ich werde schon etwas für weniger finden«, sagte mein Vater.

»Es ist gefunden«, sagte La Surie. »Ich habe kürzlich einen Wald für ein bißchen mehr als diese Summe verkauft. Sie gehört Euch. Ihr gebt sie mir wieder, wenn Ihr könnt.«

»Dabei machst du aber Verlust, Miroul«, sagte mein Vater, sehr gerührt über dieses Angebot. »Du wolltest das Geld doch sicher deinem Juden anvertrauen, damit er es zu zwanzig verleiht.«

»Mir gibt er sowieso nur zehn Prozent«, sagte La Surie. »Schließlich trägt er alle Risiken.«

»Miroul«, sagte mein Vater, »dann zahle ich dir aber einen Zins.«

»Pfui!« sagte La Surie erhaben, »wollen wir Edelleute auf einmal die Wucherer spielen? Warum soll ich nicht auch etwas zu Pierre-Emmanuels Fortkommen beisteuern dürfen? Also, abgemacht!«

|90|»Hab großen Dank, Miroul«, sagte ich, indem ich ihn in meine Arme schloß.

Ich dankte auch meinem Vater, wollte ihm aber meine ganze Dankbarkeit erst ausdrücken, wenn wir allein wären. Und mit einemmal, wie wir drei da vor dem Feuer standen, trat zwischen uns eine Art Beklommenheit, wenn auch eine freudige, wortlose, als ob das, was wir einander hätten sagen mögen, alle Worte überstiege. La Surie brach als erster den Bann, indem er die Scheite aufrührte, die dessen gar nicht bedurften, und mein Vater setzte sich in seinen angestammten Lehnstuhl und streckte die Füße vors Feuer.

»Aber«, sagte ich, »sind wir nicht im Begriff, die Haut des Bären zu verkaufen?«

»Durchaus nicht«, sagte mein Vater. »Eure Patin hat hundertmal recht. Meint Ihr, die Regentin wird nein sagen? Dafür fürchtet sie die Guises viel zu sehr. Und sofern Saint-Régis bei seinem Angebot bleibt, ist das Amt Euer, mein Sohn, ohne daß wir gezwungen sind, über die Marquise zu gehen und uns an ihren Nadeln zu stechen.«

Wir lachten, dann ging La Surie, sei es, daß er tatsächlich etwas zu tun hatte, sei es, daß er uns allein lassen wollte, weil er ahnte, daß wir von jenen Nadeln bald auf die Gräfin von Lichtenberg kommen würden. Trotzdem verwunderte mich sein Fortgehen, denn für gewöhnlich tat er das nicht, weil er wußte, daß es in diesem Haus keine Geheimnisse vor ihm gab.

»Mein Sohn«, sagte mein Vater, nachdem er mich aufgefordert hatte, mich zu setzen, »habe ich recht verstanden, daß Bassompierre in der Sache Frau von Lichtenbergs bei der Königin nicht zu sehr in Erscheinung treten will und daß er darum erst einmal Concini vorgeschickt hat und nun Euch drängt, mit der Marquise zu verhandeln?«

»So ist es, Herr Vater.«

»Wißt Ihr, warum er im Schatten bleiben will?«

»Wahrscheinlich fürchtet er, da Frau von Lichtenberg Protestantin ist, man könnte ihm eines Tages vorwerfen, er habe einer Ketzerin Einlaß in Frankreich verschafft.«

»Und denkt Ihr nicht, wenn Ihr Euch jetzt an die Marquise wendet, daß man Euch eines Tages denselben Vorwurf machen könnte?«

»Das könnte tatsächlich sein.«

|91|»Trotzdem wollt Ihr dieses nicht geringe Risiko eingehen, weil Frau von Lichtenberg Euch so sehr am Herzen liegt?«

»So ist es.«

»Wenn aber«, fuhr er fort, »Eure Fürsprache bei der Marquise der Regentin nun mißfiele, könnte sie Euch hernach nicht verbieten, dem Marquis de Saint-Régis sein Amt abzukaufen?«

»Das wäre möglich, in der Tat«, sagte ich mit erstickter Stimme, denn in dem Moment erstarrte mein Herz zu Eis: ich war auf das Schlimmste gefaßt.

»Wäret Ihr in dem Fall nicht gut beraten, zuerst das Amt zu kaufen und danach mit der Marquise über die Rückkehr unserer Freundin zu verhandeln?«

»Wenn Ihr dies meint, Herr Vater, werde ich Euren Rat befolgen«, sagte ich unendlich erleichtert.

Mein Vater nickte, wie um mir für meine Zustimmung zu danken, und begann wortlos, die Augen ins Feuer gerichtet, auf seine Stuhllehnen zu trommeln. Zuerst dachte ich, er wollte allein sein, aber als sein Schweigen anhielt, begriff ich, daß er noch etwas anderes auf dem Herzen hatte, aber nicht wußte, wie er es in Worte fassen sollte.

»Mein Herr Sohn«, begann er schließlich mit einer Feierlichkeit, die bei ihm nicht die Regel war, denn für gewöhnlich gab er auch seinen ernsthaftesten Reden einen scherzenden Anflug, »ich finde Eure Gefühle für die Gräfin von Lichtenberg unendlich rührend. Gewiß ist sie doppelt so alt wie Ihr, aber was mich angeht, sehe ich in diesem Unterschied kein Verbrechen: Liebe fragt nicht, wo sie hinfällt, und geht über die kleinlichen Vorurteile der Menschen hinweg. Trotzdem wird dieser Unterschied für Euer Leben nicht ohne Konsequenzen sein, denn von unserer Freundin, gerade weil sie Euch wiederliebt und weil sie zu hochgesinnt, auch zu besonnen ist, um Eure Jugend auszunutzen und Euch zu heiraten, habt Ihr keine Nachkommen zu erwarten. Und weil das Feuer Eurer gegenseitigen Empfindungen stark genug ist, daß es Dauer verspricht, fürchte ich, daß eben diese Dauer Euch an eine Bindung fesselt, deren Unfruchtbarkeit Euch eines Tages leid werden könnte. Deshalb möchte ich Euch eine Frage stellen, die Ihr mir freimütig beantworten sollt: Könnt Ihr sicher sein, daß Ihr in zehn Jahren nicht voll Reue an Mademoiselle de Fonlebon und die schönen Kinder denkt, die sie Euch hätte schenken können?«

|92|Diese Rede setzte mich in Erstaunen durch ihre Länge, ihren Ton, besonders aber durch ihren Inhalt. Dazu stürzte sie mich in Verwirrung, und meine Kehle war beklommen, doch bemühte ich mich, meinem Vater so aufrichtig zu antworten, wie ich nur konnte.

»Ich kann nicht ausschließen«, sagte ich nach einer Weile, »daß ich, wenn die Dinge den von Euch beschriebenen Lauf nehmen, eines Tages nicht mit Wehmut an Mademoiselle de Fonlebon denken werde. Wenn aber andererseits meine Liebe zu Frau von Lichtenberg die Schwelle meiner Träume nie überschreiten würde, bin ich mir sicher, daß ich dies mein Leben lang bereuen würde.«

»Ihr habt also Eure Wahl getroffen«, sagte mein Vater mit einem Seufzer, »und ich weiß nicht, ob ich in Eurem Alter nicht dasselbe getan hätte. Meine Erfahrung ist Euch keine Hilfe, aber, offen gestanden, hilft sie auch mir selber nicht.«

Dies war das einzige Mal, daß mein Vater sich eine Anspielung auf sein Verhältnis zu der jungen Margot gestattete und auf seine Anstrengungen, vor Madame de Guise zu verbergen, daß dieses Mädchen unter unserem Dach lebte: ein Doppelspiel, das ihn allem Anschein nach nicht besonders glücklich machte.

Nach diesem Gespräch, das mir lange im Gedächtnis bleiben sollte, erhob sich mein Vater, und natürlich erhob auch ich mich sofort.

»Herr Vater«, sagte ich mit erstickter Stimme, »wie kann ich Euch meine Dankbarkeit ausdrücken …«

»Schon gut«, murmelte er, damit zog er mich an sich, Wange an Wange, und schloß mich fest in seine Arme.

* * *

Die Königin gab Madame de Guise ihre Einwilligung – was sie auf ihre unwirsche, mürrische Weise tat, denn etwas liebenswürdig und gnädig zu tun, dazu war Ihre Gnädige Majestät außerstande –, der Handel mit dem Marquis de Saint-Régis wurde geschlossen, unterzeichnet, besiegelt und bezahlt, und weil beide Seiten das Geheimnis gewahrt hatten, erfuhr der Hof, daß ein sehr bedeutendes Amt den Besitzer gewechselt hatte, erst, nachdem ich darin bestätigt und bereits in meine Wohnung im Louvre eingezogen war.

|93|Diese Wohnung, auch wenn sie im Haus der Könige lag, hatte so gar nichts Königliches. Sie bestand nur aus zwei Räumen, in dem einen schlief ich, in dem anderen konnte ich Besucher empfangen. Weil dieser fürs erste nur aus vier kahlen Wänden bestand und ich noch niemand einzuladen wagte, wartete ich mit einiger Ungeduld auf den Tag, an dem ich zum erstenmal meine Pension erhalten sollte, um den Raum mit Tapisserien, Teppichen und Sitzmöbeln auszustatten.

Ich hatte meine Pflichten im Louvre noch nicht angetreten, als mein Vater, während ich im Champ Fleuri zum Diner weilte, mir eröffnete, er habe nach reiflicher Überlegung beschlossen, mich die Jarnacsche Finte zu lehren.

»Schöne Leserin, ich sehe, Sie rümpfen Ihre hübsche Nase?«

»Weil ich mich frage, weshalb Ihr Herr Vater Sie diese Finte lehren wollte.«

»Der Hof, Madame, ist nicht nur ein Ort, wo man dienert und tanzt und hurt, man schneidet sich um Nichtigkeiten auch sehr galant die Kehle durch. Unter der Herrschaft des seligen Königs fanden immerhin viertausend Edelleute im Duell den Tod.«

»Sie fühlten sich also gefährdet?«

»Sicher. Ich war neu im Louvre, natürlich hatte meine unerwartete Erhöhung mir Neider und Feinde geschaffen. Die Jarnacsche Finte, die mein Vater noch als einziger im Königreich beherrschte, wurde, sowie ich sie konnte und sich dies herumsprach, mein Küraß und mein Schild.«

»Weil keiner sie parieren kann?«

»Um sie zu parieren, Madame, muß man erst wissen, wie sie ausgeführt wird. Das ist der springende Punkt. Außerdem wird sie von unseren schönen Galanen sehr gefürchtet.«

»Warum?«

»Weil sie nicht tötet, sondern verstümmelt.«

»Und das schreckt sie?«

»Und wie! Unsere schönen Herren, Madame, sind keine Schwächlinge: Sterben, das schert sie nicht groß. Aber ein Bein verlieren! Der Liebe nachlaufen mit einem Holzbein!«

»Man hat Sie also in Frieden gelassen?«

»Nicht ganz. Die Kabale zettelte ein paar Geschichtchen an, nicht so böse, daß ich sie mit dem Degen hätte ausfechten müssen, |94|aber doch boshaft genug, mich zu ärgern. Kurz, man kläffte gegen mich, aber da ich nicht auf den Mund gefallen bin, kläffte ich zurück, damit war die Sache erledigt.«

»Und wie empfing Sie der kleine König?«

»Darauf komme ich gleich, Madame, sowie ich durch diese Plauderei mit Ihnen frischen Mut gefaßt habe.«

* * *

Die Szene spielte sich an einem kalten, grauen Novembermorgen ab, am Montag, dem zweiundzwanzigsten, wenn ich mich recht entsinne. Es war fünf Monate her, fünf lange Monate, seit ich nicht mehr in Ludwigs Nähe gewesen war, und als dieses Glück mir das letztemal zuteil geworden war, hatte er mich gnädig in seine Karosse eingeladen, um in Gesellschaft von Monsieur de Souvré und Héroard die blumengeschmückten, hölzernen Triumphbögen anzuschauen, die auf den Pariser Plätzen für den Einzug der Königin nach ihrer Salbung errichtet worden waren. Eine Spazierfahrt, die in unschuldigster Freude begann und die so unheilvoll abbrach bei der Nachricht, daß König Henri Quatre in der Rue de la Ferronnerie erstochen worden war.

Mein Herz klopfte, als der Großkämmerer von Frankreich mich gemessen und pompös, wie es seine Gewohnheit war, in die königlichen Gemächer führte. Zum Unglück konnte er mich dem König nicht gleich vorstellen, wie es das Protokoll befahl, um in mein Amt eingesetzt zu werden: Ludwig war bei seiner Lateinstunde und so aufmerksam, daß er nicht einmal den Kopf wandte, als ich eintrat.

Es waren mehr Leute zugegen, als ich erwartet hätte. Monsieur de Souvré, Ludwigs Erzieher, der die alleinige ›Macht der Rute‹ über ihn hatte, Monsieur de Préaux, der zweite Erzieher, Doundoun, seine einstige Amme, die Herren Blainville, Praslin, Vitry, seine Gardehauptleute, der große Reiter Monsieur de Bellegarde, Doktor Héroard und Monsieur d’Auzeray, der Erste Kammerdiener. Alle standen ziemlich stumm, entweder weil ihnen nicht nach Reden zumute war oder weil sie von Monsieur de Souvré nicht zur Ordnung gerufen werden wollten.

»Sire«, sagte der Hofmeister zu Ludwig, »erinnert Ihr Euch der zwei Verszeilen, die ich Euch vor zwei Wochen lehrte?

 

|95|Caesareos fateor titulos habet Austria multos.

At Caesar verus Carolus unus erat.«

 

»Ja, Monsieur«, sagte Ludwig.

»Sire, wollt Ihr sie übersetzen?«

»Ich bekenne, daß Österreich viele Kaisertitel hat, aber der einzig wahre Cäsar war Karl.«

»Sehr gut, Sire. Wollt Ihr diese zwei Verse jetzt auf lateinisch wiederholen?«

»Monsieur, ich will sie aber nicht wörtlich aufsagen.«

»Gut, Sire, dann sagt sie auf Eure Weise.«

»Caesareos fateor titulos habet Austria multos, at Caesar verus Henricus unus erat.«

Ludwig hatte nur ein Wort geändert, aber dieses Wort änderte alles: der einzige wahre Cäsar war nicht mehr Karl, sondern Henri.

Ein Schweigen, weit schwerer als die Stummheit zuvor, herrschte im Raum. Wer wollte den kleinen König schelten, daß er seinen Vater über den größten Habsburger stellte? Wer aber konnte andererseits vergessen, daß seine Mutter von den Habsburgern abstammte, genauer gesagt, die Großnichte Karls V. war? Und daß sie Ludwig, ihren ältesten Sohn, mit einer spanischen Habsburgerin vermählen wollte?

Verstohlen ließ ich meinen Blick ringsum über die Gesichter schweifen. Sie waren marmorn. Gerade so, als hätte keiner der Anwesenden genug Latein gekonnt, um den Unterschied zwischen Carolus und Henricus zu erkennen, noch gewußt, welche großen Fürsten die beiden Namen bezeichneten. Ich verweilte bei der Physiognomie von Héroard und fand sie zu meiner Überraschung weniger gleichmütig als besorgt. Erst sehr viel später erfuhr ich den Grund. Héroard wußte (was ich nachher selbst erkannte), daß es unter den Dienern des Königs, die doch alle so beflissen um den kleinen König erschienen, zwei Spitzel gab, die jedes Wort, jedes nichtigste Tun von ihm belauerten und der Königin bis ins kleinste hinterbrachten.

Die Lateinstunde war zu Ende, und ohne Monsieur d’Aiguillon die Zeit zu meiner Vorstellung zu lassen, trat Monsieur de Souvré zu Ludwig und sagte, man müsse ihn jetzt ankleiden, um zur Hohen Messe in die Kirche Notre-Dame zu fahren.

|96|»Ach, nein, Monsieur de Souvré«, sagte Ludwig mit ganz anderem Gesicht, »bitte nicht.«

»Und warum nicht, Sire?«

»Weil es Montag ist, und montags auch noch eine Hohe Messe, das ist zuviel!«

»Aber, Sire«, sagte Monsieur de Souvré, »es gibt Musik, und die liebt Ihr doch sehr.«

»Aber Musik«, sagte Ludwig sehr ungehalten, »gibt es zwei Sorten, und diese da liebe ich gar nicht.«

»Es ist ausgemacht, Sire, Ihr geht!« sagte Monsieur de Souvré, indem er sich mit tiefstem Respekt verneigte.

»Monsieur de Souvré«, versetzte Ludwig mit banger Miene, »gehe ich auch zur Vesper?«

»Sicher, Sire, bei den Augustinern.«

»Bei den Augustinern, Monsieur de Souvré! Aber dort dauert die Vesper zwei Stunden!«

Ich beobachtete Ludwig, während alle Züge seines Gesichtes lang und länger wurden vor Verzweiflung über diesen Zeitplan am Montag. Drei Stunden Hohe Messe in Notre-Dame! Und nach der Mittagsruhe zwei Stunden Vesper bei den Augustinern!

»Sire«, sagte Monsieur de Souvré feierlich, »der sehr christliche König kann sich im Hause Gottes nicht langweilen …«

Hierauf erwiderte Ludwig nichts. Mit gesenkten Augen, zusammengebissenen Zähnen und dem Kinn auf der Brust, verharrte er zwischen Kummer und Zorn.

Diesen Augenblick wählte der Großkämmerer (aber ehrlich gesagt, er hatte gar keine Wahl), mich Seiner Majestät zu präsentieren.

»Sire«, sagte er mit tiefer Verbeugung, »ich möchte Euch den Nachfolger des Marquis de Saint-Régis vorstellen: Herrn Chevalier de Siorac.«

Ludwig hob den Kopf und betrachtete mich mit dumpfer Miene, während ich vor ihm niederkniete und ihm die Hand küßte, die er mir reichte.

»Seid willkommen, Monsieur de Siorac«, sagte er, aber völlig lustlos und fast, als sähe er mich zum erstenmal.

Ich war niedergeschmettert durch diesen Empfang, und wärend ich aufstand, mich aufs neue verneigte und drei Schritte zurücktrat, wie es das Protokoll verlangte, erwartete |97|ich, daß er nunmehr das Wort an mich richten werde, um ihm das geziemende Kompliment zu machen. Aber er wandte sich ab, und mit verschlossener Miene rief er seine Leute zum Ankleiden. Ich wußte, offen gesagt, nicht, was ich mit mir anfangen sollte, und in meiner Ratlosigkeit weiter zurückweichend, geriet ich unversehens an die Stelle, wo Héroard stand. Aber auch da fand ich wenig Ermutigung, denn Héroard gab mir nicht das mindeste vertrauliche Zeichen. Andererseits wagte ich nicht, den König um Urlaub zu bitten, bevor er zur Messe nach Notre-Dame aufbrach. Was er nach einigen Minuten, die mir sehr lang vorkamen, tat, vor sich den Großkämmerer, hinter sich Monsieur de Souvré, Monsieur de Préaux, Bellegarde und die Hauptleute.

Sowie sie hinaus waren, verneigte sich der Erste Kammerdiener, Monsieur d’Auzeray, vor mir und sagte: »Herr Chevalier, wenn Ihr gehen wollt, laßt es mich wissen, ich begleite Euch die Treppe hinab.«

»Monsieur«, sagte ich, ziemlich erstaunt über diese Höflichkeit, »ich danke Euch, aber macht Euch bitte nicht die Mühe.«

»Herr Chevalier«, sagte d’Auzeray betreten, »das Protokoll verlangt, daß die Ersten Kammerherren nicht nur bis zur Tür, sondern die Treppe hinunter begleitet werden.«

»Monsieur d’Auzeray«, sagte nun Héroard, »erlaubt, daß ich den Chevalier an Eurer Statt begleite, denn ich gehe auch.«

»Ehrwürdiger Herr Doktor«, sagte d’Auzeray mit einer Verneigung, »habt tausend Dank. Herr Chevalier, Euer Diener.«

Die Tür schloß sich hinter uns. Im Gehen raunte Héroard mir zu, ohne aber wie sonst meinen Arm zu nehmen: »Seid nicht betrübt. Der Ärmste war außer sich und gab sich alle Mühe, es zu verbergen. Versucht zu begreifen, wie es um ihn steht. Die Tage sind so kurz im November, und er ist so gern in Bewegung, an der Luft, im Wald! Er hatte sich vorgenommen, zu jagen. Statt dessen muß er die einzigen hellen Tagesstunden in der dunklen Kirche sitzen.«

»Fünf Stunden!« sagte ich leise, »fünf endlose Stunden Gottesdienst! Wer verlangt, daß man ihn derart knebelt?«

»Stellt bitte nicht solche Fragen«, versetzte Héroard. »Wenn Ihr hier überleben wollt, legt einen Ochsen auf Eure Zunge, und wenn Ihr einmal dabei seid, heißt gleich noch Eure Blicke schweigen: sie sprechen zu laut! Und, bitte, wahrt auch mir |98|gegenüber Abstand! Man darf uns auch nicht eines Hauchs von Freundschaft verdächtigen können: sonst zöge Euer Sturz den meinen nach sich oder der meine den Euren.«

»Monsieur«, sagte ich verblüfft, daß ein Mann, den ich sehr liebte, mich derweise zurechtwies, »könnt Ihr mir nicht wenigstens sagen, vor wem ich mich in seiner Umgebung am meisten in acht nehmen muß?«

»Selbst das ist zuviel gefragt!« sagte Héroard ziemlich barsch. »Haltet die Augen offen.«

Und mit einem zeremoniösen Gruß ging Héroard davon.

Ich betrat meine kleine Wohnung im Louvre, in ihrer Kahlheit kam sie mir ebenso verlassen vor wie ich selbst. Ich setzte mich aufs Bett, legte den Kopf in die Hände, und ich muß gestehen, daß ich mich zuerst von Ludwigs eisigem Empfang und dann noch von der Standpauke Héroards so tief geknickt fühlte, daß ich in Tränen ausbrach.

Als ich mir die peinliche Szene, der ich in den königlichen Gemächern beigewohnt hatte, aber noch einmal vor Augen führte, fiel mir auf, daß Ludwig es trotz seiner Verzweiflung über sich gebracht hatte, nicht zu weinen. Ich war beschämt, weniger Stärke zu beweisen als ein Knabe, der noch keine zehn Jahre war, trocknete meine Augen und beschloß, mein Gesicht künftig hinter der undurchdringlichen Maske eines alten Diplomaten zu verstecken.

Das Wort ›undurchdringlich‹ gefiel mir. Ich fand es beeindruckend. Mehrmals sprach ich es laut vor mich hin, um mich in meinem Entschluß zu bestärken. Und während ich mit tiefem Ernst in meinen venezianischen Spiegel schaute (mein derzeit einziges Möbel außer dem Bett), versuchte ich mir jenen Ausdruck zuzulegen, der dem Wort, das ich mir vorsagte, entsprach.

Die Mienen, die ich in meinem Wunsch nach Vervollkommnung nacheinander ausprobierte, lenkten mich schließlich von meinem Kummer ab. Ich fand meine Munterkeit wieder, meine guten Geister, und auch meinen Appetit. Ich beschloß, nach Hause zu fahren und dort Mittag zu essen. Und während ich festen Schrittes durch das Labyrinth des Louvre eilte, hatte ich das Gefühl, daß ich Korridore und Treppen mit meiner neuen Unerschütterlichkeit in Erstaunen versetzte. Himmel, war ich damals jung!