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Kapitel 16

Der Mann im Wolfskostüm hatte unnötig an Valeries ohnehin schon strapazierten Nerven gezerrt. Sie hatte fast vergessen, dass die »Feier« des Vogts trotz allem stattfand. Als sie mit überreizten Sinnen den Platz betrat, fühlte sie sich von Augen angestarrt. Ängstlich spähte sie nach links und sah, dass sie einem Wildschweinkopf gehörten, der auf einem Zinnteller vorbeigetragen wurde. Er hatte einen roten Apfel im Maul und Weintrauben statt Augen, die ihm einen seltsam entrückten Blick verliehen.

Aus einer Pyramide von Wurzeln, angespitzten Stöcken und Abfällen war eine hoch aufragende Wolfspuppe errichtet worden. Sie brannte am anderen Ende des Platzes und spie Funken aus ihrem schwarz verkohlten Maul.

Der Blutmond stand prall an einem leeren Himmel.

Eine Bühne war zusammengezimmert worden, bestehend aus ein paar durchhängenden Brettern, auf denen der Ziegenhirte und ein paar Waldarbeiter auf Lauten klimperten und an Drehleiern kurbelten. Simon, der Schneider, dudelte auf einer Sackpfeife, die schrille, hohe Töne von sich gab wie ein verendendes Tier. Die Hornisten stießen mit aller Macht in ihre Instrumente, bis ihnen die Puste ausging, genehmigten sich rasch noch einen Schluck und bliesen dann weiter.

Trotz all der köstlich aussehenden Speisen, lag noch der Gestank nach fauligem Abfall und Männerschweiß über dem Platz. Valerie drehte sich der Magen um.

Sie hielt nach Solomon und seinen Leuten Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Sie hatte gesehen, dass sie in der geräumigen Scheune hinter dem Getreidespeicher Quartier bezogen hatten, und vermutete, dass sie sich dort verkrochen hatten, um nicht an dem Treiben teilzunehmen.

Alle schienen umso fester zu feiern, als sie sich einreden wollten, dass sie überhaupt einen Grund zum Feiern hatten. Sie tanzten wild und ausgelassen, um im Freudentaumel zu vergessen. Ein paar Männer, sonst anständige Leute, krochen auf allen vieren im Schnee und ruinierten sich die Hosen. Direkt vor Valerie geriet eine Frau ins Straucheln und fiel in den Matsch, doch bevor sie ihr aufhelfen konnte, wurde sie von einem Tänzer fortgezogen. Rotgesichtige Männer schwangen ihre Partnerinnen und bewunderten, sie an den erhobenen Händen fassend, ihre Rundungen. Mädchen tanzten mit ihren jüngeren Brüdern, schielten aber nach den Jungs auf der anderen Seite der Bühne. Stimmen hallten über den Platz und erweckten den Anschein, als wären Hunderte von Feiernden mehr da.

Valerie war von lauter Menschen umgeben, die sie kannte, und dennoch fühlte sie sich ganz allein.

Suzette schlug die Augen nieder und verschwand wortlos in der Menge. Valerie entdeckte den Vogt. Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. An einer langen Festtafel, die man vor der Schenke aufgebaut hatte, führte er das große Wort. Er winkte sie zu sich. Sie beachtete ihn nicht. Doch es fiel ihr schwer, ihre Verbitterung und Empörung beizubehalten. Hier waren zu viele Menschen, die sich dem Rausch des Festes hingaben, um einem Einzelnen die Schuld zu geben. Trübsal zu blasen, war kräftezehrend. Sie gab auf.

Ihr Vater hing sorglos an einem Ast, blies kräftig in ein Ochsenhorn und signalisierte unsinnigerweise den Beginn eines Festes, das längst begonnen hatte. Das lange tiefe Tröten, das dem Horn entschlüpfte, klang wie das Schnäuzen einer Nase.

»He! He, alle mal herhören!«

Valerie und die Leute in ihrer Nähe blickten in die Richtung, aus der die schrille Stimme kam.

Marguerite hatte, um sich größer zu machen, einen rostigen Eimer umgedreht hingestellt, den sie nun, schreiend und mit den Armen fuchtelnd, erklomm. »Seid alle mal still!« Das behelfsmäßige Podest stand auf unebenem Boden und kippte langsam nach hinten. Henry sprang herbei und hielt es fest, bevor die Schankfrau herunterfiel.

An den beiden Enden der Tafel unterhielt man sich weiter, entweder weil man sie nicht gehört hatte oder nicht hören wollte. Marguerite erhob ihren Zinnkrug. »Auf den Vogt!«, rief sie und setzte, als sie merkte, dass sie alle zum Zuhören genötigt hatte, hinzu: »Für … äh … seine Tapferkeit und seinen Mut und seine Furchtlosigkeit.«

Valerie fragte sich, ob sie noch mehr sagen wollte. Anscheinend war sich Marguerite unschlüssig und hatte von Anfang an gar nicht gewusst, was sie sagen sollte.

»Und dafür … dass der Wolf jetzt so tot ist wie ein Sargnagel. Wie einer von den Nägeln, die unser kleiner Henry hier macht.«

Henry lächelte und versuchte, eine höfliche Miene aufzusetzen.

»Obwohl er ja gar nicht mehr so klein ist.« Sie zwinkerte ihm zu und wackelte zur Verdeutlichung mit den Hüften. Claude und Roxanne standen mit roten Köpfen etwas abseits und wahrten gnädiges Schweigen. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sie in Verlegenheit brachte. Valerie warf Roxanne einen mitfühlenden Blick zu.

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Valerie hielt Abstand zur Menge. Kummer und Sorge erfüllten die Dorfbewohner und vermischten sich mit Wut, was ihnen das Gefühl gab, unbezwingbar zu sein, und sie dazu verleitete, über die Stränge zu schlagen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden sie immer übermütiger.

Ein Kerzenzieher saß auf dem Brunnenrand, strampelte mit den Beinen und spritzte die Musikanten nass. Der Mandolinenspieler spähte in das Schallloch seines Instruments.

Prudence kam, mit beiden Händen den Saum ihres grauen Rocks raffend, auf Valerie zugetanzt.»Ich bin so froh, dass du gekommen bist!«, schrie sie gegen den Lärm an und warf ihre braunen Haare von einer Seite auf die andere.

Ob sie damit meinte, fragte sich Valerie, dass sie ihr die Verlobung mit Henry verziehen hatte? Sie hoffte es und beschloss, der Freundin ihre Bedenken anzuvertrauen.

»Prudence, der Wolf ist noch nicht tot, oder?«, fragte sie, und ihre Stimme klang hohl in ihren Ohren, als sie diese Frage stellte, die allen auf der Zunge brannte, die aber keiner über die Lippen brachte.

Prudence hörte auf zu tanzen und ließ ihren Rock fallen. »Wie kannst du so etwas sagen?« Sie runzelte die Stirn. »Du hast den Vogt doch gehört.«

»Aber Vater Solomon …«

»Die Männer werden schon wissen, was sie tun. Komm jetzt!«

Valerie entdeckte Claudes roten Haarschopf in der wogenden Menge. Sie hoffte, er konnte sich nach den Ereignissen am Tag zuvor ein wenig amüsieren.

Als er bemerkte, dass sie zu ihm hersah, legte er ein Tänzchen hin und schleuderte in den komischsten Winkeln die Beine in die Luft, um sie zum Lachen zu bringen. Sie rang sich für ihn ein Lächeln ab. Doch er unterschätzte seine Größe und geriet beim Tanzen in eine Gruppe griesgrämiger Frauen, die ihm nur sehr widerwillig Platz machten. Er bedankte sich mit einem sonnigen Lächeln, da kam William, ein Halbwüchsiger, angesaust und riss ihm den Hut vom Kopf.

»Wer hat Angst vor dem großen, bösen Wolf?«, rief William mit gespielter Unschuld.

»Lass das!«, schrie Valerie, doch der Junge war schon zu weit in die andere Richtung gelaufen.

Claude jagte ihm nach und verfolgte ihn um den Brunnen herum, bis er im Schlamm ausrutschte. Roxanne, die ihren Bruder nie lange aus den Augen ließ, eilte zu ihm und tröstete ihn. Dabei blickte sie schicksalsergeben zu Valerie und zuckte mit den Schultern.

Wem wollen sie etwas vormachen?, fragte sich Valerie. Bei der Wolfspuppe warfen ein paar Schwachköpfe ramponierte Möbel ins Freudenfeuer. Die Menge jubelte, als jemand das Vollmondsymbol vom Wolfsaltar in die Höhe hob und in die Flammen schleuderte.

Sie sah, wie Henry Lazar um den Platz herum in ihre Richtung kam. Sie dachte an den Trost, den sie heute bei ihm gefunden hatte, und verspürte nicht den Drang, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie fühlte sich durch das Band der Trauer mit ihm verbunden.

»Henry«, grüßte sie ihn.

»Ich finde das alles sehr unpassend«, sagte er. »Wir haben sie doch gerade erst bestattet.«

Valerie blickte in die lärmende Menge und entdeckte mit Schrecken, dass Rose mit Peter tanzte und sich verführerisch in ihren breiten Hüften wiegte. Er zog sie zu sich heran und drückte sie an seine Brust, während beide gleichzeitig die Schultern rollten.

»Nein«, sagte Valerie und wandte sich unvermittelt Henry zu. Ihr Mitgefühl mit ihm stieß an seine Grenze. »Lass sie doch feiern.«

»Jetzt ist nicht die richtige Zeit, finde ich.« Er schüttelte den Kopf.

Plötzlich wollte sie ihm wehtun, so wie ihr wehgetan worden war. »Du hast den Vogt doch gehört. Der Wolf ist tot. Das Leben geht weiter.« Schon im nächsten Augenblick hasste sie sich dafür. Er hatte doch nur ausgesprochen, was sie selbst empfand, und sie hatte ihn dafür angegriffen. Anscheinend war sie nicht mehr recht bei Verstand.

Sie drehte sich um, um sich zu entschuldigen, aber Henry war bereits fort.

William flitzte vorbei, Claudes Hut auf dem Kopf. Valerie entdeckte Claude auf der anderen Seite des Platzes. Er wirkte verwirrt und unschlüssig, was er tun sollte. Es war kein leichter Abend für ihn gewesen. Sie eilte zu ihm. »William ist ein Esel. Wir holen dir deinen Hut wieder.«

Er wollte nicht kindisch erscheinen, konnte aber sein Stottern nicht unterdrücken: »M-meine Schwester hat ihn g-gemacht.«

Valerie tätschelte ihm den Arm und sah zu William, überallhin, nur nicht zu Peter. Dann wandte sie ihren Blick dem Feuer zu. Je lauter die Musik wurde, desto höher schlugen die Flammen in den Nachthimmel. Dann erblickte sie ihren Vater. Er war im Matsch ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen. Ein Mädchen hüpfte über ihn hinweg und die Schnürsenkel ihrer Stiefel streiften unsanft sein Gesicht.

»Entschuldige mich, Claude.« Im Näherkommen sah sie, dass ein Mann in einem schäbigen Wolfskostüm bei Cesaire stand und ihm mit dem flachen Wolfsschwanz ins Gesicht schlug.

»Ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten …«

»Lass ihn in Ruhe!«, schrie Valerie.

Als er nicht hörte, rannte sie hin, ergriff ein Scheitholz und drosch damit auf ihn ein. Ein paar Frauen, die feixend dabeistanden, verstummten und wichen erschrocken zurück.

»Du sollst ihn in Ruhe lassen, habe ich gesagt!«, schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte. Der Mann schlüpfte zurück in die johlende Menge.

»Willst du mein Trommelfell zum Platzen bringen?«, lachte Cesaire, mit dem Gesicht im Matsch auf dem Boden liegend. Anscheinend wusste er nicht, was mit ihm geschehen war, und wie es aussah, hatte er den Abend dazu genutzt, sich sinnlos zu betrinken.

»Ich meine es ernst.« Für gewöhnlich ging Valerie auf seine Späße ein. Aber heute Abend konnte sie nicht. Angesichts der erhöhten Aufmerksamkeit, die ihre Familie heute erfuhr, wollte sie ihn lieber nach Hause bringen. In diesem Augenblick empfand sie den Verlust ihrer Schwester noch schmerzlicher als zuvor. Lucie hätte ihr geholfen, sich um ihren Vater zu kümmern. Beschämt sah sie, dass er in einer Lache seines eigenen Erbrochenen lag. »Papa …«

»Ich steh ja schon auf.« Es gelang ihm, sich aufzusetzen, aber weiter kam er nicht. »Ich glaube, ich habe mir ein Stück Zahn abgebrochen«, lallte er im Sitzen und rieb sich die Wange.

Valerie half ihm vorsichtig auf die Beine. Trotz seines Zustands gab er sich große Mühe. Sie hielt ihn an beiden Händen fest, während er hin und her schwankte und das Gleichgewicht zu finden versuchte.

»Was am Tag so leicht erscheint …« Er stützte sich auf sie und sie zog ihn von der Menge fort in Richtung ihres Hauses.

Er schaute an sich hinab, sah das Erbrochene auf seinem Hemd. »Ich mach das nur kurz sauber, dann bin ich wieder wie aus dem Ei gepellt«, sagte er und versuchte, es wegzuwischen.

Sie kamen an einer Gruppe Halbwüchsiger vorbei.

»Ist die bärtige Dame in Ohnmacht gefallen?«, rief ein Junge in singendem Tonfall.

»Ein Fräulein in Nöten!«, trällerte ein anderer.

Valerie biss sich auf die Zähne. Das Gewicht ihres Vaters hing wie ein Mühlstein um ihren Hals.

»Kümmere dich nicht um die«, murmelte Cesaire und torkelte weiter neben ihr her.

Valerie schämte sich dafür, dass sie sich für ihren Vater schämte. Sie wusste, dass er es merkte, und sie wusste, dass es ihn verletzte.

»Du bist mein gutes Mädchen«, brachte er heraus und bekam, in seiner Trunkenheit empfindlich, feuchte Augen. Er wollte sie mit der freien Hand tätscheln, verfehlte sie aber. Er drehte sich zu ihr, und diesmal gelang es ihm, ihren Kopf zu finden. Sie wusste, dass sie ihn von diesem abscheulichen Fest, das trotz des Todes seiner Tochter gefeiert wurde, fortbringen musste.

Er schaute sich um, überlegte, wo sein Haus war, und entdeckte es. Mit einem Ruck riss er sich von ihr los. »Geh zurück und amüsier dich«, befahl er ihr.

Mehr väterlichen Rat konnte er nicht aufbieten, und ohne noch einmal in ihre Richtung zu blicken, torkelte er los, machte aber den Eindruck, dass er vor dem Haus vielleicht noch eine kleine Pause einlegen sollte, ehe er die Leiter zu erklimmen versuchte.

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Auf dem Weg zurück zum Dorfplatz sah Valerie zwei kleine Mädchen, die Arm in Arm gingen und achtgaben, dass sie einander in der Menge nicht verloren. Das erinnerte sie an ein Fest, das ihre Familie besucht hatte, als Lucie und sie noch klein waren. Ihr Vater hatte sie in seinen Armen herumgewirbelt, und später hatte ihre Mutter sich zu ihnen heruntergebeugt und sie mit mundgerechten Bratenstücken gefüttert wie eine Vogelmutter ihre Jungen.

»Ich wünschte, ich könnte so aus mir herausgehen wie Rose«, schrie Prudence gegen die Musik an und kam auf sie zugetänzelt. Selbst beim Tanzen bewahrte sie ihre tadellose Haltung.

Valerie wusste sofort, worauf sie anspielte, und mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch drehte sie sich um, um nach Peter und Rose zu sehen. Sie schlang gerade die Arme um seinen Hals. Und er hob die Hände und griff in ihr dunkles Haar, das seinem ähnlich war, was seine Geste irgendwie noch intimer und zu einem noch größeren Verrat machte als das, was ihre Körper taten. Die Kapelle spielte und feuerte die beiden johlend an, was Rose nur dazu ermunterte, sich noch mehr ins Zeug zu legen. Peter hielt den Kopf gesenkt. Valerie hatte das Gefühl, Rose wollte sie Henrys wegen bestrafen – obwohl sie doch gar nichts dafür konnte.

Valerie wünschte ihnen den Tod. Sie wusste nicht, wen sie mehr hasste, Peter oder Rose. Während sie die beiden beobachtete, verschwamm ihr plötzlich alles vor den Augen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Prudence und legte ihr die Hand auf den Rücken.

»Ja.«

»Ich frage mich, ob wir nicht einschreiten sollten. Sie ruiniert sich ihr letztes bisschen Ruf, wenn sie ausgerechnet mit ihm tanzt.« Prudence klemmte sich eine Strähne ihrer braunen Haare hinters Ohr.

Valerie sah, dass das Freudenfeuer noch größer geworden war. Die Flammen schlugen hoch empor und warfen zuckende lange Schatten über den Platz. »Nein«, erwiderte sie finster. »Soll sie doch tun, was sie will.«

In diesem Moment kam ein Glaser vorbei, der im Gehen aus einer Bierflasche trank und wegen der vielen Blätter, die in seinem Gesicht klebten, kaum zu erkennen war.

Valerie riss ihm die Flasche aus der Hand, legte den Kopf zurück und schüttete sich das würzige Gebräu in den Mund. Sie ließ sich den gesamten Inhalt der Flasche durch die Kehle rinnen. Als sie absetzte, hatte sie das Gefühl, durch die Luft zu schweben.

Sie packte Prudence, zog sie in den Schein der ungezügelten Flammen und brach mit ihr in einen wilden Tanz aus.

Sie stellten sich einander breitbeinig gegenüber und beugten sich vor, tauchten tief hinab, wirbelten ihre langen Haare im Kreis und richteten sich wieder auf. Zwei stampfende Schritte vor, zwei zurück. Dann drei Schritte vor, sodass sie sich Auge in Auge, Brust an Brust wiederfanden. Valerie, die nie viele Gedanken an ihren Körper verschwendet hatte, tanzte unbefangener als Prudence und die anderen Mädchen, und sie schüttelte sich, als sei ein mächtiger Geist in sie gefahren.

Valerie und Prudence dachten nicht darüber nach, in welche Richtung sie sich drehen sollten oder in welche die andere sich drehen würde. Sie taten es einfach und es gelang. Leichtfüßig und beschwingt wirbelten sie im Kreis, hoben ihre Röcke und ließen ihre Hände schweben, bis sie einander fanden. Ihre Blicke verschmolzen ineinander und Geheimnisse funkelten in ihren Augen. Die Verbundenheit mit ihrer Freundin heiterte Valerie auf.

Unterdessen wich Peter Rose nicht von der Seite und sie schürzte ihren Rock und zeigte ihre Beine. Obwohl Valerie und Peter unterschiedlich tanzten und ihre Körper auf verschiedene Weise bewegten, tanzten beide denselben Tanz. Es war der Tanz der Eifersucht, der so alt war wie die Welt.

Verstohlene Blicke flogen hin und her, vorbei an den Leibern eines tanzenden Paars, das zwischen ihnen kreiselte. Valerie beobachtete Peter und Peter beobachtete sie, und beide gaben vor, es nicht zu tun.

Zack!

Unbemerkt von Valerie, war Henry auf sie zugewankt, in der Hand einen Krug, aus dem Bier schwappte und der offensichtlich nur der Letzte einer ganzen Reihe war. Peter hatte sich schützend zwischen sie geschoben und Henry den Weg versperrt.

Mit Genugtuung registrierte Valerie, dass Peter sie offensichtlich genauso beobachtet hatte wie sie ihn.

In seinem betrunkenen Zustand begriff Henry nicht gleich, was los war, aber schließlich erkannte er, dass er gegen Peter gestoßen war. Wutschnaubend wirbelte er herum und stürzte sich, drei betrunkene Männer mit Schweinchenmasken aus dem Weg stoßend, auf den Rivalen.

Rose sprang zur Seite, als sie den irren Ausdruck in Henrys Augen sah, und klammerte sich an Prudence. Henry rammte Peter so hart, dass dieser rückwärts taumelte.

»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, sagte Peter, der rasch das Gleichgewicht wiederfand und mit einem Blick erfasste, in welchem Zustand Henry war.

»Freund? Du hast uns im Stich gelassen, oben in den Höhlen.« Henry spannte die Muskeln an.

Peter wich vorsichtshalber noch einen Schritt zurück. Henry war wie von Sinnen.

»Manche Leute scheinen nichts zu vertragen«, sagte Peter, ging aber nicht weiter, da er fürchtete, er könnte Valerie an ihren Vater erinnern.

»Und jetzt …«, führte Henry seinen eigenen Gedanken unbeirrt fort, trat auf ihn zu und blies ihm seine Alkoholfahne ins Gesicht, »… ist auch mein Vater tot.«

»Bitte, tu es nicht«, sagte Valerie und ging dazwischen. »Das ist es nicht wert.«

Henry drängte achtlos an ihr vorbei. Der Schwung ließ Valerie nach hinten straucheln. Peter packte Henrys Arm und verdrehte ihn. Da holte Henry aus und versetzte ihm einen Faustschlag aufs Auge. Die Menge lachte, als Peter hart zu Boden stürzte.

Im nächsten Moment war Henry über ihm, packte ihn am Kragen und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen, wie er es noch nie getan hatte. Peter sah in die Augen eines Mannes, der ihn für den Tod seiner Eltern verantwortlich machen wollte, weil er den schrecklichen Gedanken nicht ertragen konnte, dass an allem nur ein dummer Zufall Schuld gewesen sein sollte.

»Du Schwein«, stieß Henry hervor.

Das brachte die Dorfbewohner erst recht zum Lachen.

Doch Peter lachte nicht mit. Er zog ein Messer aus seinem Stiefel, sprang auf und hielt es Henry drohend vors Gesicht. »Lass die Hände von ihr, sonst schneide ich sie dir ab.« Die Klinge zitterte nur Zentimeter vor Henrys Gesicht, und Peter machte ganz den Eindruck, als könnte er seine Drohung wahrmachen.

Henry wirkte keineswegs eingeschüchtert.

»Peter, bitte …«, sagte Valerie leise. Henry war auf eine Rauferei aus, aber Peter, das spürte sie, war auf Blut aus. Valerie versagte die Stimme, als ihr bewusst wurde, wie schön und aufregend es war, so sehr geliebt zu werden. Gefühle von Schuld und Stolz durchströmten sie bei dem Gedanken an ihre Macht, bei dem Gedanken, so mörderisch geliebt zu werden.

Als Peter ihre Stimme hörte, wich er langsam zurück, blieb stehen und richtete noch einmal das Messer auf Henry. »Das wird dir noch leidtun.« Dann verschwand er vom Platz.

Henry blieb sprachlos stehen. Valerie sah ihn einen Augenblick enttäuscht an, dann lief sie hinter Peter her.

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Sie folgte ihm in eine dunkle Gasse. Zwischen den Häusern war der Lärm des Festes nur gedämpft zu hören.

Peter lehnte an einer Mauer. Seine Brust wogte und seine Augen blitzten gefährlich. »Lass mich in Ruhe!«

Doch dafür fühlte Valerie sich zu mächtig. Sie ließ sich nicht vorschreiben, was sie zu tun hatte. »Du blutest.« Sie fasste zärtlich nach seinem Auge.

»Na und?«, erwiderte er und schlug grob ihre Hand weg. »Mein Gott, Valerie. Was ist nur los mit dir? Was muss ich tun, damit du aufgibst?«

Ein Nein wollte sie als Antwort nicht gelten lassen, denn sie wusste, wie schön ein Ja sein würde. Vorhin noch hatte sie ihren Gefühlen für ihn abgeschworen, doch sie konnte nicht bestreiten, was sie jetzt wirklich und wahrhaftig empfand. Sie spürte, wie der Alkohol sie durchströmte und auf seinen Wogen trug.

»Peter«, begann sie. Er schaute sie an und sie sah den Schmerz in seinen Augen. »Ich liebe dich«, sagte sie ganz offen. Vor Peter legte sie ihr Inneres bloß, er zwang es aus ihr heraus.

Peter wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Augen loderten. Er zeigte sie Valerie nur einen Augenblick lang, dann wandte er sich ab. Er sog scharf die Luft ein.

»Was sollte das mit Rose?«, fragte sie ihn, sie musste es einfach wissen.

Seine Miene verfinsterte sich wieder. Er kehrte ihr den Rücken zu, ging einen Schritt tiefer in die Gasse hinein und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Ich muss sie nicht mögen, um zu bekommen, was ich will.«

»Ich glaube dir nicht«, erwiderte Valerie und fasste wieder nach seinem Gesicht. Peter entzog sich ihr. »Du lügst.«

Valerie sehnte sich so danach, ihn zu berühren, seinen Herzschlag zu spüren, zu wissen, dass es da drin war, dass das ihr Peter war. Bevor er sie daran hindern konnte, schlang sie von hinten einen Arm um ihn und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Dein Herz schlägt so schnell«, sagte sie. »Ich weiß, dass du dasselbe empfindest.«

Er fuhr herum und griff nach dem Armreif, den ihr Henry geschenkt hatte. Sie überließ ihm den Reif nicht.

»Valerie, du weißt, dass ich dir so etwas nicht schenken kann. Ich kann es jetzt nicht und werde es niemals können.«

»Glaubst du, ich mache mir etwas aus Geld?«

»Valerie«, sagte er und gab ihr eine letzte Chance, von ihm zu lassen. »Ich bin der Falsche für dich.«

»Das ist mir egal.«

Endlich wandte er ihr das Gesicht zu, wagte, ihr zu glauben, und ehe sie sich’s versah, küsste sie ihn auf den Mund, fest und schnell. Er zögerte, dachte an das Versprechen, das er ihrer Mutter gegeben hatte, doch als Valerie ihre kühlen Arme um ihn schlang und ihm mit ihren Fingern durchs Haar fuhr, kam er nicht mehr dagegen an. Er war bis jetzt hart geblieben, zitternd wie ein angeschlagener Baum, der kurz vor dem Umfallen stand. Doch dieser Kuss war der letzte, der entscheidende Hieb, und endlich gab er nach und fiel.

Seine Finger, rau von der Arbeit, streichelten ihre Wange, und sie atmeten zusammen.

»Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.« Er sog die Luft ein und kämmte mit den Fingern ihr langes maisblondes Seidenhaar.

Doch genau in diesem Augenblick spürte Valerie wieder den Blick, den sie schon auf dem Fest gespürt hatte, diese Traubenaugen. Sie fühlte sich beobachtet. Sie vernahm ein Geräusch am Eingang der Gasse. Diesmal war es kein Wildschweinkopf.

»Hast du das gehört, Peter?«

Er machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hob sie mit seinen warmen Händen hoch, trug sie in den nahen Kornspeicher, die Treppe hinauf, und dann drückte er sie an die hölzerne Wand, und Valerie vergaß alles andere.

»Besser?«, brachte er heraus.

Valerie konnte nicht antworten. Sie spürte, wie jeder Zentimeter seines Körpers gegen ihren drängte, wie seine Hände über ihre Taille glitten. Er suchte nach den Schnüren ihrer Bluse. Als er sie gefunden hatte, zog er, bis sie sich lockerten.

Peters Gesicht war nicht glatt, seine Hände waren nicht weich.

»Peter …« Ihre Hand wanderte, blieb auf seine Hüfte liegen. Er war da und sie war da und sein Körper presste sich fest gegen ihren. Sie wollte ihren Körper seinem für immer aufprägen, den Abdruck spüren. Seine Kleider, ihre Kleider, alles, was zwischen ihnen war, wurde ihr plötzlich unerträglich, und sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, ihn wirklich zu berühren, mit ihren Händen, ihrem Wesen und all ihrem Sein.

Peter legte sie auf das Stroh, mit dem der Speicherboden ausgelegt war. Sie schaute hinauf in das hohe, schattige Kuppeldach. Es war schwindelerregend, und sie kam sich vor wie in den holzverkleideten Kammern eines riesigen Kaleidoskops.

Sie spürte seinen abgehackten und ungleichmäßigen Atem an ihrem Hals. Die Hitze schoss durch ihren Körper wie eine entfesselte Flut. Fast hätte sie selbst das Atmen vergessen.

Er öffnete ihre Bluse, die aus ihrem Rock gerutscht war. Raue Finger strichen über ihre Haut und suchten einen Weg nach innen. Sie begriff, dass das zu weit ging. Sie schnappte nach Luft, sagte sich, dass sie fortmusste, dass sie auf sein ungestümes Verlangen nicht vorbereitet war, da drang von unten plötzlich ein Klappern herauf.

Sie fuhren auseinander.

»Schnell«, wisperte Peter, zog sie hoch und schob sie hinter einen Pfosten, damit sie von dem Eindringling nicht gesehen werden konnte.

»Peter!«, rief jemand.

Er spähte nach unten. Zwei Holzfäller luden ein Fass in eine Schubkarre.

»Peter, könntest du uns helfen?«

Peter warf Valerie einen verzweifelten Blick zu. Sie winkte ihn zu sich, und während er sich bückte und so tat, als schüttele er einen Stein aus seinem Stiefel, flüsterte sie ihm zu: »Ich möchte nur mit dir leben.« Dann zog sie ihn an sich und bedeckte ihn mit ungestümen Küssen. Peter taumelte, strich über ihre glühende Wange und eilte fort.

Sie lehnte sich gegen den Pfosten, spürte noch seine heiße Haut auf ihrer. Es war überwältigend gewesen und am liebsten hätte sie diesen Augenblick für immer festgehalten.

Wieder fühlte sie sich beobachtet. Unwillkürlich hob sie den Blick. Eine Krähe mit wachen schwarzen Augen hockte oben auf dem Turm. Sie warf einen suchenden Blick herab, breitete die Flügel aus und flog davon.

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Hinter einem anderen Pfosten versteckt, sah Henry Lazar, dass Valerie seine Gegenwart spürte und aufschaute. Scham sammelte sich in seinem Inneren wie etwas Nasses. Seine Gefühle waren wie abgeschnitten, wie abgestorben. Eigentlich hatte er umkehren wollen, als er sie und Peter zusammen sah, doch er hatte einfach nicht wegsehen können. Und so stand er jetzt da, starr von Entsetzen und wie gebannt von der Intensität und Schönheit dieses furchtbaren Anblicks.

Er verharrte noch einen Augenblick, dann schob er das Kinn vor und schlich sich davon.