
Kapitel 27
Am anderen Ende des Platzes stand Solomon auf dem Turm des Kornspeichers, umgeben von Waffen, Tauen und Köchern. Unter ihm in den Gassen waren Soldaten versteckt, bewachten die Pferde, schärften Pfeile mit Silberspitzen, lauerten in Fenstern. Alles war bereit. Es gab nichts weiter zu tun, als sich mit einem Messer die Fingernägel zu putzen und den Schmutz auf den Boden zu schnippen. Seine Haut, leicht abgeheilt, spannte wie die eines Bratapfels. Pater Auguste gesellte sich zu ihm.
»Wissen Sie, wie man einen Tiger fängt, Pater Auguste?«, flüsterte Solomon mit steinerner Miene und blickte hinab zu der jämmerlichen Puppengestalt der an den Altar geketteten Valerie. »Man bindet seine beste Ziege draußen an und wartet.«

Neben der bröckligen Dorfmauer kauerte eine dunkle Gestalt und suchte im Schein einer Fackel etwas im Schnee. Sie fand, was sie suchte, und senkte die Fackel. Einen Augenblick lang geschah nichts.
Dann fing der Boden Feuer, und eine Flammenlinie züngelte über den Platz, wurde immer schneller und raste über die Lampenölspur hinaus zu der leer stehenden Scheune und dem großen Haufen Anzündholz, der dort genau zu diesem Zweck gestapelt war. Peter duckte sich mit der Fackel und beobachtete, das Gesicht von den Flammen erhellt, mit Befriedigung, wie seine und Cesaires Arbeit Früchte trug.

In seinem Befehlsstand auf dem Kornspeicherturm blinzelte Solomon in den plötzlichen Lichtschein, sah, wie Flammen und Rauch sich auf dem Platz unter ihm ausbreiteten. Er stieß einen leisen Fluch aus. Ausgerechnet heute Nacht. Er gab dem Hauptmann ein Zeichen – und im nächsten Augenblick seilten sich seine Männer an der Mauer des Kornspeichers ab.

Das Innere der Maske füllte sich mit Licht, und Valerie spähte durch die Augenlöcher, verblüfft über die Flammen und den wirbelnden Rauch. Sie zuckte in ihren Fesseln zusammen, als sie dicht hinter sich ein Geräusch hörte.
»Ich hole dich hier raus.«
Trotz des Durcheinanders wusste sie sofort, dass es Henry war. Doch sein eindringlicher, fieberhafter Ton machte ihr Angst.
»Was ist geschehen?«, fragte sie verwirrt.
»Das gehört alles zum Plan. Ich hole dich hier raus«, wiederholte er und berauschte sich am Klang seiner eigenen Worte. Er war es, nicht Peter, der die eigentliche Befreiung durchführte. Er begann, mit den seltsamen Schlüsseln zu hantieren, die er am Nachmittag geschmiedet hatte – Dietrichen. Er hatte geübt und seine Finger arbeiteten für ihn. Der Dietrich knirschte im Schloss, erkundete die Zuhaltungen.
Als er sich über Valerie beugte, sah sie durch die Augenlöcher der Maske nur seine braunen Augen, die im Schein der Flammen glänzten. Feurige, intelligente Augen.
Genau wie die des Wolfs.
Valerie musste an die Worte ihrer Großmutter denken. Sie dachte an den Brief in Lucies Hand. Jemand musste ihn geschrieben haben. Dann dachte sie an ihr Hirschhornmesser.
Klick. Ein Schloss sprang auf. Nur noch zwei.

Aus seiner geduckten Haltung an der Mauer sah Peter, wie die Soldaten die Flammen austraten und mit Schnee zuschütteten. Durch die Rauchschwaden konnte er zwei Gestalten am Altar erkennen. Henry hatte Valerie noch nicht befreit. Warum dauerte das denn so lange?
Henry musste die Rolle des Befreiers übernehmen. Valerie würde ihm ewig dafür dankbar sein, dass er ihr das Leben gerettet hatte, würde immer glauben, er hätte alles geplant.
Henry, der Held. Verflucht!
Wir stehen auf derselben Seite, rief er sich in Erinnerung. Er spähte zum Kornspeicher und erkannte, dass er Henry etwas mehr Zeit verschaffen musste.

Klick.
Das zweite Schloss sprang auf.
Valeries Hände waren frei.
Nur noch eines.
Henry machte sich an die Maske. Seine Finger wussten, was sie zu tun hatten, so wie die Finger eines Musikers die Saiten von alleine finden, wenn er ein Lied oft gespielt hat. Doch so verzweifelt er sich auch bemühte, er bekam den Verschluss nicht auf. Er knurrte ärgerlich.
Valeries freie Hand tastete heimlich nach dem Messer. War es möglich, dass der Wolf sie unter dem Deckmantel einer Befreiung holte? War das möglich?

Zack!
Peter hatte den Soldaten, der die Tür zum Kornspeicher bewachte, mit dem Stiel seiner Axt von hinten niedergeschlagen und warf jetzt ohne Zögern seine Fackel durch die Tür. Doch bevor er nachsehen konnte, ob die Flammen ihr Ziel fanden, gaben seine Beine unter ihm nach.
Verdutzt schaute er nach unten und sah, dass er in einer schweren Kette gefangen war, die jemand nach ihm geschleudert hatte. Im nächsten Augenblick fiel der Kettenwerfer über ihn her.

Solomon wandte seine scharfen Augen keine Sekunde von dem in Rauch gehüllten Altar. Das Mädchen war noch da, soweit er erkennen konnte, aber vom Wolf war keine Spur zu sehen. War es möglich, dass ihn diese Dorftrottel zum Narren halten wollten?
Er hörte ein Schnalzen. Es war nur ein leises Geräusch, aber gleichwohl ein Geräusch.
Und dann hörte er noch eines.
Er schnupperte und wusste sofort Bescheid. Auch der Kornspeicher brannte. Jemand würde für die Schlampereien heute Nacht büßen müssen.
»Räumen!«, befahl er seinen Soldaten.
Er ging auf der Wendeltreppe voraus. Die dicke, rauchige Luft machte ihn ganz benommen. Als er um eine Kurve bog, erstarrte er – durch ein Fenster sah er am Altar eine zuckende Bewegung, kaum zu erkennen.
Genau das, was er befürchtet hatte.
Der Kornspeicher um ihn herum erzitterte. Erste Wände gaben nach, brennende Pfeiler fielen, Flammen schlugen in die Nacht.
»Dort!«, rief Solomon zu dem Armbrustschützen hinter ihm.
Der Schütze und Pater Auguste blickten in die von ihm gewiesene Richtung. Der Rauch hatte sich so weit gelichtet, dass zu erkennen war, wie ein Mann in einem Mantel bei Valerie kauerte und ihr die Wolfsmaske abnahm.
Der Schütze hob die Armbrust, zögerte aber, als ein Balken krachend zu Boden stürzte.
»Halt! Warte!«, rief Pater Auguste und presste die Hände ineinander, als halte er etwas Wertvolles fest.
»Tu es«, befahl Solomon.
Der Schütze legte durch das Fenster auf Henry an. Ein unbewegliches Ziel, ein leichter Schuss …
Doch im selben Moment, als er abdrückte, huschte etwas so dicht vor seinen Augen vorbei, dass er zusammenzuckte und dem Bolzen eine falsche Richtung gab.
Pater Auguste, der Grausamkeiten endgültig überdrüssig, war vor den Schützen hingesprungen, sodass er den Schuss verriss.
»Flieht!«, rief Pater Auguste in Richtung Altar und fuchtelte mit seiner Bibel in der Luft.
Diese eine Silbe hallte durch die Luft wie ein Glockenschlag.
Solomon verlor keine Zeit. Er holte aus und stieß Auguste seinen Dolch in die Brust.
Die beiden Männer starrten einander an. Pater Augustes Augen weiteten sich vor Entsetzen und Schmerz, ehe das Leben in ihnen erlosch. Er sackte zusammen, und seine Bibel fiel neben ihm zu Boden, mit dem Deckel nach unten.
Solomons Blick flog zurück zur Opferstätte. Die Wolfsmaske lag verwaist neben dem Altar. Er begriff, dass es vorbei war. Wieder fiel ein Balken. »Wir sollten gehen«, sagte er ruhig.
Draußen stellte er fest, dass seine Soldaten einen Gefangenen gemacht hatten.
»Der da hat das Feuer gelegt.« Der kräftigere der beiden Soldaten stieß Peter nach vorn. Er trug Handschellen. Sie waren nicht zimperlich mit ihm umgesprungen, denn sie hatten es nicht gern, wenn sie von einem Rumtreiber lächerlich gemacht wurden.
»Unsere Männer haben ihn entdeckt, wie er mit einem Soldaten gerungen hat«, sagte der andere.
»Sperrt ihn in den Elefanten. Das untersuchen wir später. « Solomons Stimme war klar wie Kristall und wie mit Ekel geschliffen, als er auf den schwelenden Platz trat.