I

Es bereitete Wuffa großes Vergnügen, in der toten Stadt Fenster einzuwerfen.

Er ging durch die leeren Straßen nach Norden, die Steinschleuder in der Hand, mehrere Messer im Gürtel, und pfiff ein trauriges Lagerfeuerlied über die Kürze des Lebens vor sich hin. Es war später Nachmittag, und in der tief stehenden Sonne im Süden warfen die Trümmerhaufen lange Schatten. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis die Dunkelheit hereinbrach, aber der haarige Stern war schon jetzt zu sehen; sein langer Schweif zog sich wie ein Banner über den blassen Frühlingshimmel. Er erschreckte Kaninchen, Ratten, Mäuse und ein paar Vögel, die in kahlen Ruinen nach Futter pickten. Die Stadt war so alt, dass sie nicht einmal mehr einen Geruch besaß, abgesehen von dem Grünzeug, dem Unkraut und Gras, das sich seinen Weg zwischen den Pflastersteinen hindurchbahnte.

Der Komet – der haarige Stern – beunruhigte viele Menschen. Die Sachsen hatten sich stets von den alten Steinstädten fern gehalten. Hier hatten sie am Ufer des Flusses westlich der Stadtmauern eine neue Handelssiedlung errichtet. Wuffas Brüder würden es gewiss nicht riskieren, zu einer solchen Zeit Wodens Auge auf sich zu lenken, indem sie allein in den von Geistern heimgesuchten Ruinen einer uralten Stadt herumliefen. Aber Wuffa dachte pragmatisch. Die Welt war groß, und Woden würde Wichtigeres zu tun haben, als sich um einen einsamen Jungen zu kümmern, der ein bisschen Spaß haben wollte.

Wie sich herausstellte, war das ein Irrtum. Wuffas Leben sollte sich an diesem Tag von Grund auf verändern. Später fragte er sich immer wieder, ob er die Götter der Stadt oder des Himmels nicht doch verärgert hatte; vielleicht war aber auch der kalte Blick des Webers auf ihn gefallen, der Menschenleben wie Fäden auf seinem eisernen Webstuhl verwob.

Dort. Eine hohe Mauer, die nach Süden zum Fluss zeigte – der einzige Überrest eines eingestürzten Gebäudes, ein merkwürdiges Relikt, das irgendwie dem Wetter trotzte. Und im Licht der tief stehenden Sonne zeichnete sich ein goldenes Quadrat ab, ein Fenster mit einer noch unversehrten Glasscheibe, hoch oben, aber nicht außerhalb seiner Reichweite. Genau das Richtige.

Er wählte einen losen Pflasterstein und nahm seine Lederschlinge. Dann trat er vor die gezackte Mauer, schaute mit zusammengekniffenen Augen nach oben und schleuderte den Stein. Der schlug vielleicht eine halbe Armeslänge unter dem Fenster gegen die Mauer. Vögel flatterten von freiliegendem Gebälk auf. Wuffa hob einen weiteren Stein auf und versuchte es erneut. Diesmal zersplitterte das Glas mit einem leisen Klirren, das von den Mauerresten widerhallte.

Zufrieden hielt er Ausschau nach einem neuen Ziel.

Natürlich hätte er bei der Arbeit sein sollen. An diesem Tag war viel zu tun gewesen, denn eine ganze Flotte von Nordmännerschiffen war den großen Fluss heraufgefahren gekommen und hatte angelegt, um entladen zu werden. Wuffas Vater Coenred arbeitete für Aethelberht, den Oberkönig von Kent, dem die Stadt gehörte; er überwachte den spärlichen Handelsverkehr, der über die riesigen alten Gussgesteinkais am Fluss abgewickelt wurde. Von dem zwanzigjährigen Wuffa, dem zweiten Sohn von Coenreds dritter Frau, wurde erwartet, dass er das Seine dazu beitrug. Aber das Handelsgewerbe langweilte ihn. Am meisten verabscheute er den trostlosen Gestank der Sklavenpferche. Kürzlich hatten Hunderte von Sklaven verschifft werden müssen, römische Briten, die den germanischen Königen bei ihren Feldzügen im Westen und Norden in die Hände gefallen waren.

Und er brannte darauf, sich in den Kampf zu stürzen. Die Ringkämpfe mit seinen Brüdern genügten ihm nicht mehr. Es gab keinen Frieden in Britannien; da würde es nicht schwer sein, ein geeignetes Heer und einen aussichtsreichen Krieg zu finden und ein Vermögen zu machen, obwohl er dafür von zu Hause weggehen musste.

Einstweilen wollte er jedoch nur ein weiteres Fenster zerschlagen. Er bückte sich, um einen neuen Stein aufzuheben.

Dabei sah er eine Bewegung. Auf der anderen Straßenseite, hinter einer niedrigen Mauer: groß, schwer, ein Aufblitzen goldener Haare. Ohne nachzudenken, wirbelte Wuffa herum, schleuderte den Stein und hörte, wie er mit einem befriedigenden dumpfen Laut auf Fleisch klatschte.

»Au!« Der Getroffene richtete sich auf. Er trug einen Lederkittel und eine Hose und hatte einen zottigen Schopf blonder Haare. In der einen Hand hielt er einen Spaten, mit der anderen umklammerte er seine Hoden. Er sah Wuffa wütend an und kam mit großen Schritten zu ihm herüber, ein Riese mit Muskeln, die seine Ärmel spannten. Er spie Beschimpfungen in einer nordischen Sprache aus, von denen Wuffa nur zwei Worte verstand: »Blödes Arschloch!«

Wuffa war ein sächsischer Krieger, der Sohn von Coenred, und er wich keinen Fußbreit zurück. Seine Hand schwebte über dem Heft seines Sax, seines Messers mit dem Knochengriff.

Der große Nordmann blieb keine Armeslänge von Wuffa entfernt stehen. Er war ungefähr in Wuffas Alter, um die Zwanzig, und sie waren beide blond und hellhäutig und trugen ähnliche Kleidung, Lederkittel und Hose. Aber Wuffa trug sein Haar auf sächsische Art, an der Stirn kurz geschoren und lang im Nacken, während die gelbe Mähne des Nordmanns lose und zottig herabhing.

Wuffa erkannte den Mann. »Ich kenne dich«, sagte er in seiner eigenen Sprache. »Du bist von der Flotte am Kai.«

Der Nordmann spie ihm weitere Beleidigungen entgegen.

Wuffa versuchte es erneut, auf Lateinisch. »Ich kenne dich.«

Zumindest unterbrach er damit den Strom der Schimpfwörter. »Na und, Arschloch?«

Britannien war eine Insel, die von römischen Briten, Germanen und Iren bevölkert war, und vom Kontinent kamen ständig Händler herüber. Die meisten Erwachsenen konnten ein wenig Lateinisch, ein Relikt des Imperiums, die einzige gemeinsame Sprache. Dieser junge Nordmann war keine Ausnahme. Obwohl er offensichtlich das lateinische Wort für »Arschloch« nicht kannte.

»Ich bin Coenreds Sohn. Wir entladen eure Boote …«

Der Nordmann kickte einen losen Stein weg. »Und so begrüßt ihr eure Handelspartner, mit einem Steinwurf in die Eier?«

Wuffa hielt seinem Blick stand. Sie wussten beide, dass sie die Wahl hatten; sie konnten die Sache entweder im Kampf austragen oder ihre Differenzen beilegen. »Ich müsste eigentlich bei der Arbeit sein«, sagte Wuffa. »Selbst wenn du mich nicht umbringst, wird es mein Vater für dich erledigen.«

Der Nordmann lachte. Aber er warnte: »Du musst es aussprechen.«

»Na schön. Ich entschuldige mich.«

Der Nordmann grunzte. »In Ordnung. Dein mädchenhafter Wurf hat mir sowieso nicht wehgetan.«

Damit war die Sache erledigt.

»Ich bin Wuffa, Sohn von Coenred.«

Der Nordmann nickte. »Ulf, Sohn von Ulf.« Er spähte mit zusammengekniffenen Augen zu der Mauer hinauf. »Was machst du, wenn du nicht gerade auf der Jagd nach den Eiern von Nordmännern bist?«

»Fenster einwerfen«, sagte Wuffa ein wenig beschämt. Er hob seine Schleuder. »Um meine Zielgenauigkeit zu verbessern.«

»Natürlich.«

»Und du?«

Ulf zeigte ihm seinen Spaten. »Nach Münzen suchen. Manchmal vergraben die Briten ihre Schätze, weil sie hoffen, dass sie eines Tages zurückkehren werden.«

»Das tun sie aber nie.«

»Und wenn, wären sie enttäuscht, denn Ulf der Schatzsucher war schon vor ihnen da. Also, Arschloch. Willst du weiter Steine werfen wie ein Kleinkind, oder wirst du mir beim Graben helfen?«

Er hatte es mit einem Geistesverwandten zu tun, dachte Wuffa und steckte seine Schleuder ein. »Graben wir. Aber hör auf, mich ›Arschloch‹ zu nennen. Woher weißt du, wo du suchen musst? …«

Ulf hob die Hand. »Pst. Hörst du das?«

Es war Gesang, Stimmen, die sich zu einer Melodie vereinigten; hoch und klar wie der Himmel, wehte sie auf der Nachmittagsbrise herbei.

Die jungen Männer wechselten einen Blick. Sie verschoben die Schatzsuche auf später und machten sich auf den Weg durch die zerstörte Stadt, neugierig, ehrgeizig, unbeeindruckt von den monumentalen Ruinen um sie herum, in ihrer eigenen Gegenwart lebend.

Eroberer
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