II
Sie gingen durch die Stadt zu den Ruinen der Festung in der südöstlichen Ecke der umlaufenden Stadtmauer. Der Gesang drang aus einem massiven Steinbau mit rotem Schindeldach unweit der Mauer. Seine riesigen Holztüren standen weit offen, und das Licht der untergehenden Sonne fiel tief in die langen Gänge.
Vor den offenen Türen hatte sich eine Gruppe von Menschen versammelt, Männer, Frauen und Kinder; es mussten vier-, fünfhundert Leute sein, dachte Wuffa. Sie hatten sich zu einer lockeren Kolonne aufgereiht und gingen langsam die Straße zum Hafen hinunter. Ein Mann in farbenprächtigen Gewändern führte sie an; er trug einen spitzen Hut und hielt eine Art Hirtenstab in der Hand. Die Kolonne wurde von Gruppen von Sachsen flankiert – Krieger, offenbar zum Schutz der Pilger angeheuert. Die Sachsen unterhielten sich miteinander, kauten auf Wurzelstücken herum und musterten die hübscheren Frauen.
Die Pilger waren Briten; Wuffa erkannte es an ihrer Kleidung und ihrer Haartracht. Die Männer trugen das Haar alle kurz und waren sauber rasiert. Die Frauen hatten ihr Haar zu ordentlichen Zöpfen und Knoten geflochten. Sowohl die Männer als auch die Frauen trugen Umhänge mit ärmellosen Kitteln darunter und waren mit Armbändern, Armreifen und Halsketten geschmückt. Ein oder zwei Männer hatten sogar eine Toga angelegt, lange Stoffbahnen, die über den staubigen Boden schleiften. Aber die meisten waren reisefertig gekleidet und mit Gepäck beladen. Selbst kleine Kinder, die schon laufen konnten, trugen Bündel auf Rücken und Kopf. Sie sahen abgespannt, unglücklich, furchtsam und unsicher aus.
Höchstwahrscheinlich waren sie alle Christen. Unter ihnen befanden sich Geistliche mit Tonsuren im britischen Stil, wobei die vordere Hälfte des Kopfes von einem Ohr zum anderen kahl geschoren war, während das Haar hinten lang herabhing. Der Mann, der sie anführte, trug jedoch eine römische Tonsur mit kreisrund geschorenem Scheitel. Und auf ihrem Weg sangen die Pilger und erzeugten eine durchdringende, unirdische Musik, die zum Himmel emporstieg, wo der haarige Stern noch heller leuchtete.
Ulf beäugte das alles mit offenem Mund. »Was ist dieses große Gebäude? Ein Lagerhaus?«
»Nein, eine Kirche. Eine Kathedrale, wie sie es nennen.« Die Kathedrale war jünger als die Stadt. Man hatte sie aus wiederverwendeten Steinen erbaut; wo der Blendstein fehlte, sah man Stücke von Säulen und Statuen, die zerbrochen und als Füllung benutzt worden waren. Aber die wiederverwendeten Dachziegel waren geborsten, das Glas in den Fenstern war zerschlagen. Nichts hier war neu, dachte Wuffa; es gab nur verschiedene Altersstufen.
»Hat euer Großkönig diese Kirche erbaut?«, fragte Ulf.
»Nein, Aethelberhts Kirche ist dort.« Wuffa zeigte nach Norden.
»Wozu braucht ihr zwei Kirchen?«
»Der König ist ein Anhänger des römischen Christentums. Augustins Bischöfe haben ihn bekehrt. Diese Kirche ist von britischen Christen errichtet worden.«
Ulf dachte darüber nach. »Das verwirrt mich noch mehr.«
»Die Fußgänger sind alle britische Christen. Glaube ich. Ihr Anführer ist ein Römer, ein Bischof.«
»Und warum folgen sie ihm, wenn er keiner der Ihren ist?«
»Ich …« Wuffa breitete die Hände aus. Er wusste so gut wie nichts über die Christen. Er beobachtete ihr Verhalten nur von außen, als wären sie exotische Vögel. »Sie gehen endgültig weg. So was passiert ständig. Schau.« Wuffa zeigte hin. »Siehst du den Schmuck? Sie tragen ihre Reichtümer am Körper. Das sind die Leute, die deine Münzschätze vergraben. Ihre Kirche organisiert die Flucht.«
»Wohin wollen sie?«
»Vielleicht nach Westen, oder übers Meer nach Gallien.«
»Weg von euch Sachsen.«
Wuffa grinste. »Weg von uns, ja.«
»Wenn sie all diese Reichtümer so offen zur Schau tragen, sind sie leichte Beute.«
Sie wechselten einen weiteren Blick. Aber dann wandten sie sich ab, ohne den Gedanken zu Ende zu führen. Offenbar war keiner von ihnen ein geborener Dieb, dachte Wuffa.
Mitten auf der Straße brannte ein Feuer, und die Hymnensänger mussten ausweichen, um daran vorbeizukommen. Zwei Sachsen plünderten gerade ein verlassenes Haus; sie waren von gröberem Schlag als die angeheuerten Krieger, welche die Flüchtlinge begleiteten. Die Plünderer hatten offenkundig nicht viel Glück. Sie warfen alte Kleider und zerbrochene Möbelstücke aus dem Haus und ins Feuer – und Bücher, aufgerollte Pergamentrollen, abgeschabtes Leder und Haufen hölzerner Täfelchen, die sich kräuselten und knackten, während sie schwarz wurden. Die meisten Pilger gingen mit abgewandtem Blick an dieser Szenerie vorbei.
Doch ein alter Mann, dem die Toga um den knochigen Körper flatterte, löste sich aus der Kolonne und versuchte, den Sachsen die Bücher abzunehmen. Sein Geschrei war eine holprige Mischung aus Britisch und Latein: »Oh, ihr heidnischen Rohlinge, ihr analphabetischen Barbaren, müsst ihr auch noch unsere Bücher vernichten?« Eine junge Frau rief ihn zurück, aber Freunde hielten sie fest.
Die beiden Plünderer sahen den zeternden Alten verdutzt an. Dann beschlossen sie, sich einen kleinen Spaß zu gönnen. Sie schubsten den Alten, sodass er auf den staubigen Boden fiel, hoben ihn dann an seinen dürren Armen und Beinen hoch und streckten ihn wie ein Schwein am Spieß. Die schmutzige Toga fiel in Stoffschlingen vom Körper des alten Mannes und gab den Blick auf einen schmuddeligen Kittel und eine Art Lendenschurz frei.
Die junge Frau brüllte die angeheuerten Krieger an, etwas zu unternehmen, aber die zuckten nur die Achseln. Der Alte hatte die Plünderer provoziert; es war seine eigene Sache. Selbst der Bischof marschierte weiter, aus voller Kehle seine Hymnen singend, als wäre nichts geschehen.
Jetzt hoben die Plünderer den Alten hoch und hielten ihn übers Feuer. Die Flammen der brennenden Bücher züngelten zu dem losen Togastoff hinauf, und die Schreie des alten Mannes verwandelten sich in schmerzerfülltes Gewimmer.
Wuffa warf Ulf einen Blick zu. »Sie werden ihn töten.«
»Das geht uns nichts an«, sagte Ulf.
»Du hast recht.«
»Ich nehme den linken. Wenn du dir den Alten greifen kannst …«
»Auf geht’s.«
Die beiden stürmten auf die Plünderer los. Ulf senkte seine massigen Schultern und rannte in den Mann zur Linken hinein. Der Alte wäre in die Flammen gefallen, aber Wuffa sprang übers Feuer, fing ihn mit beiden Armen auf und ließ ihn zu Boden gleiten. Wuffa wusste, dass der zweite Plünderer im Nu über ihm sein würde, darum ballte er die Faust und schwang sie noch in der Drehung herum. Knöchel krachten mit einem dumpfen Schlag, bei dem Wuffas ganzer Arm schmerzte, gegen Schädelknochen, und der Mann stürzte der Länge nach hin.
Wuffa setzte sich auf ihn, zog ein Messer aus seinem Gürtel und drückte es dem Sachsen an den Hals. Der benommene, wütende Plünderer war schwerer und stärker als er. Doch als Wuffa ihm den Hals mit der Klinge ritzte, ergab er sich und sank keuchend wieder zu Boden.
Wuffa schaute zu Ulf hinüber. Der große Nordmann hatte seinen Gegner mit dem Gesicht zu Boden gedrückt und schlug ihm mit der Faust immer wieder auf den Hinterkopf.
»Ich glaube, du hast deinen Standpunkt klar gemacht«, rief Wuffa.
Ulf hielt schwer atmend inne; seine Faust blieb in der Luft stehen. »Na schön.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung rollte sich Wuffa vom Oberkörper des Plünderers herab und kam auf die Beine. Der offenkundig benommene Mann rappelte sich auf, ging zu seinem Gefährten hinüber und schleifte ihn weg. Wuffa wischte das Blut des Sachsen von seinem Messer und steckte es wieder in den Gürtel. Sein Herz pumpte; in solchen Augenblicken fühlte er sich so lebendig wie nie.
Inmitten dieser Aufwallung von Blut und Triumph begegnete er Sulpicia zum ersten Mal.