XIV

Von ihrem Standort auf einer kleinen Anhöhe abseits von Hardradas Hauptlager bei Stamfordbrycg aus sah Godgifu das englische Heer aus der Ferne herankommen. Und obwohl sie zu weit entfernt war, um den Ausdruck auf den Gesichtern zu erkennen, sah sie Wellen des Schreckens und der Furcht durch die Reihen der Norweger und ihrer englischen Verbündeten gehen.

Dieser Ort, der bald zum Schlachtfeld werden würde, besaß eine klare landschaftliche Aufteilung. Im hellen Mittagslicht dieses Septembertages sah es hier sogar schön aus. Ein Fluss verlief ungefähr von Norden nach Süden; an der Brücke kreuzte ihn die schnurgerade Ost-West-Linie der Römerstraße nach Jorvik. Die Norweger hatten sich auf beiden Seiten des Flusses um die Brücke herum ausgebreitet, und Rauchsäulen stiegen von ihrem Lager empor. Am Ostufer sah Godgifu die hässliche Raben-Standarte, den »Landverwüster« des norwegischen Königs, Harald Sigurdsson – bekannt als Hardrada, der Harte –, neben dem sich die kleinere Standarte seines englischen Verbündeten Tostig erhob.

Die Norweger waren gelassen. Einige angelten sogar.

Und da kamen die Engländer, rückten in stetem Tempo auf der Römerstraße zur Brücke vor; ihre bemalten Schilde bildeten einen farbenfrohen Wall vor ihnen, und ihre kegelförmigen Helme glänzten wie Weizenkörner. Godgifu sah Standarten aus ihren Reihen ragen: den Drachen von Wessex und den »Goldenen Krieger«, die Standarte von Harold, König von England, der an diesem Septembertag noch keine zehn Monate auf seinem Thron saß.

Harold konnte unmöglich hier sein. Und dennoch war er es.

»Verdammt«, sagte Estrith. »Verdammt, verdammt, verdammt. Sie haben uns mit runtergelassener Hose erwischt. Wer hätte das gedacht. Jetzt blüht uns was. Komm, Godgifu, hilf mir.« Sie packte Kleidung, Rüstungsteile, Waffen und Nahrung zusammen. Hinter ihr bauten die anderen Frauen Segeltuchzelte ab und liefen zu den Pferden.

Estrith, eine kräftige Frau von ungefähr vierzig Jahren, war die Gattin eines Fyrd-Mannes, eines gewöhnlichen englischen Soldaten – eines Mannes, der dort unten an der Brücke war, erkannte Godgifu, zusammen mit dem Rest von Tostigs Kontingent. Diese Frauen hatten Godgifu bei sich aufgenommen, seit die Norweger sich mit den Engländern zusammengetan hatten. Godgifu sollte ihnen helfen, das Lager abzubrechen und zu fliehen.

Aber sie konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden, das sich unten am Fluss entfaltete.

Die norwegischen Befehlshaber gaben hastige Anweisungen und versuchten, ihre Männer aufzuscheuchen. Kundschafter rannten zu ihren Pferden und ritten nach Osten, zur Flotte, um Rüstungen und Verstärkung anzufordern.

Aber die Engländer waren schon da, waren unter der Mittagssonne bereits in Schlachtordnung aufgestellt. Sie kamen von Westen, von Jorvik, und der norwegische Trupp auf jener Seite des Flusses war klein und größtenteils unbewaffnet. Diese Männer rannten nun los, um über die Brücke zurück zum Ostufer zu kommen. Es waren tapfere, brutale Männer, abgehärtet von Jahren des Krieges – aber nur wenige Augenblicke zuvor hatten sie sich noch in Sicherheit gewähnt. Als nun englische Pfeile geflogen kamen, gerieten sie in Panik und strömten auf die Brücke, und Godgifu hörte die ersten Schreie dieses Tages.

Die englischen Fußsoldaten erreichten die Brücke, und ein Wall von Schilden schob sich in die Masse der Norweger. Schwerter und Äxte wurden geschwungen. Blut spritzte, leuchtend rot im Mittagslicht, verwandelte sich in eine Art karmesinroten Nebel, in dem Klingen hackten und schlitzten. Die Schreie gellten jetzt wie das Kreischen verwundeter Vögel.

Dies war die erste offene Schlacht, die Godgifu mit ansah. Sie war schon an Kämpfen beteiligt gewesen, bei den Überfällen auf die Südküste zusammen mit Tostigs Männern und bei kleinen Scharmützeln, als sie ihren Bruder beschützt hatte. Aber die erste große Schlacht des Sommers, Hardradas Sieg über die Engländer an der Foul Ford, der »stinkenden Furt«, hatte sie nicht miterlebt. So etwas hatte sie überhaupt noch nie gesehen, eine Szene, in der Hunderte von Männern fast wie von Sinnen aufeinander eindrangen, einhackten und einstachen.

Es dauerte nicht lange. Die letzten Norweger flohen oder wurden niedergemacht, und die Brücke gehörte den Engländern. Das Wasser des Flusses hatte sich bereits rot gefärbt. Die Engländer rückten erneut vor, stiegen über Leichen hinweg und stießen sie mit den Füßen ins Wasser.

Godgifu spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Estrith. »So ist es immer, weißt du.«

»Was?«

»Die Schlacht«, sagte Estrith. »Nur ein blutiges Gewühl. Und letztendlich geht es bloß um Zahlen. Jetzt haben wir eine Atempause. Sie werden reden, bevor sie kämpfen.«

»Worüber?«

»Wie sie das Gemetzel vermeiden können. Vielleicht verlangt Harold, dass ihm Tostig ausgeliefert wird.«

»Wenn ja, wird er ihm Schonung gewähren«, sagte Godgifu. »Harold wird seinen Bruder nicht töten.«

»Nachdem der einen Invasoren ins Land geholt hat? Nach dem hier?« Estrith zuckte die Achseln. »Dann ist er ein Narr. Aber das ist seine Sache. Jedenfalls … während sie reden, was nicht lange dauern wird, müssen wir weg.«

»Warum?«

Estrith seufzte. »Du bist wirklich grün hinter den Ohren. Jeder weiß, dass der normannische Bastard an der fränkischen Küste herumschleicht und darauf wartet, dass der Wind ihn nach England trägt. Glaubst du, Harold wird den Überresten von Hardradas Mob Gnade erweisen, damit sie weiterhin Northumbrien unsicher machen können? Nein. Harold wird sie erschlagen. Und mit uns wird er ebenso unnachsichtig verfahren, das lass dir gesagt sein.«

»Also laufen wir weg.«

»Wir laufen weg.«

Aber noch während sie zusammen mit den anderen Frauen in hektischer Eile das Lager abbrach, behielt Godgifu das Schlachtfeld im Auge. Es gelang ihr einfach nicht, das Blut zu vergessen, und es kam ihr vor, als wäre schon sehr viel Zeit vergangen, seit sie sich im Mai Tostig angeschlossen hatte, als wäre es eine lange Reise gewesen, die sie zu diesem schlammigen Flussufer in Northumbrien geführt hatte.

Eroberer
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