Kapitel Fünf

Glaub mir, Remy, er ist in Ordnung.«

»Lola, bitte!«

»Ich weiß, was du denkst. Aber du irrst dich. Wenn ich mir nicht sicher wäre, würde ich es dir niemals vorschlagen. Vertraust du mir nicht?«

Ich legte die Rechnungen, die ich gerade durchzählte, beiseite und sah zu ihr hoch. Sie lehnte an der Empfangstheke, das Kinn auf beide Hände gestützt. Einer ihrer Ohrringe – große goldene Kreolen – baumelte leicht hin und her und funkelte im Sonnenlicht.

»Keine Blinddates, Lola. Grundsätzlich nicht«, versuchte ich ihr zum wiederholten Mal klar zu machen.

»Es ist kein richtiges Blinddate, Süße. Ich kenne ihn.« Als wäre das ein Argument. »Ein wirklich netter Junge. Außerdem hat er schöne Hände.«

»Bitte?«

Sie hielt ihre – selbstverständlich perfekt manikürten – Hände hoch, als bräuchte ich konkretes Anschauungsmaterial dafür, wie dieser Teil der menschlichen Anatomie aussah. »Seine Hände. Sie fielen mir neulich auf, als er seine Mutter nach ihrem Meersalz-Ganzkörperpeeling abholte. Sehr schöne Hände. Er ist zweisprachig aufgewachsen.«

Ich überlegte angestrengt, worin der Zusammenhang zwischen schönen Händen und zweisprachigem Aufwachsen bestand. Aber ich kam auf nichts. Gar nichts.

»Lola?«, meldete sich vorsichtig eine Stimme aus dem Friseurbereich des Salons. »Meine Kopfhaut brennt?«

»Das ist normal. Nur die Farbe, die einwirkt.« Lola wandte beim Reden nicht einmal den Kopf, sondern sah mich durchdringend an: »Jedenfalls habe ich bereits in höchsten Tönen von dir geschwärmt, Remy. Und weil seine Mutter heute Nachmittag zur Pediküre kommt, dachte ich mir ...«

»Nein«, sagte ich brüsk. »Vergiss es.«

»Aber er wäre einfach perfekt!«

»Niemand ist perfekt.« Ich wandte mich erneut den Rechnungen zu.

»Lola?« Jetzt klang die Stimme aus dem Nebenraum schon nervöser. »Es tut wirklich weh ...«

»Möchtest du die wahre Liebe erleben, Remy?«

»Nein.«

»Mädchen, ich verstehe dich nicht! Du machst einen großen Fehler.« Lola wurde immer laut, wenn sie sich leidenschaftlich für etwas einsetzte. Ihre Stimme hallte durch meinen kleinen Empfangsbereich, dass die Nagellackfläschchen auf dem Regal über mir klapperten. Noch ein paar dieser gewaltigen Vokale und ich würde etwas auf den Kopf bekommen, mir eine Gehirnerschütterung einfangen und Lola genauso auf Schmerzensgeld verklagen können wie die Frau nebenan, deren Haar und Kopfhaut gerade weggeätzt wurden.

»Lola!«, schrie sie. Ihrem Ton zufolge würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich habe das Gefühl, mein Haar riecht verbrannt ...«

»Verflucht noch mal!«, polterte Lola, die sich über uns beide gleichermaßen ärgerte, wirbelte herum und stapfte aus dem Raum. Ein Fläschchen mit dunkelrotem Nagellack knallte neben mir auf die Theke, wobei es mich nur um wenige Zentimeter verfehlte. Stöhnend öffnete ich den Terminkalender, der vor mir lag. Heute war Montag. In drei Tagen würden meine Mutter und Don von St. Barth zurückkehren. Ich blätterte die Seiten des Kalenders um und ließ meine Finger an den Tagen entlanggleiten, um zum wiederholten Mal zu zählen, wie viele Wochen es noch dauerte, bis das Semester anfing und ich auf und davon sein würde.

Stanford. Dreitausend Meilen weit weg, fast in einer geraden Linie auf der entgegengesetzten Seite des Kontinents. Ein Spitzen-College, meine erste Wahl. Ich hatte mich bei insgesamt sieben Colleges beworben und war von sechs angenommen worden. Die elende Lernerei, die freiwilligen AGs, die Teilnahme an Sonderklassen für besonders qualifizierte Schüler – wenigstens hatte die Schinderei sich am Ende ausgezahlt.

Zu Beginn der Highschool, wenn so etwas in der Regel vorentschieden wird, gelangten meine Lehrer zu der festen Überzeugung, dass ich es mit viel Glück wohl gerade so auf ein staatliches College schaffen würde, wo man ja bekanntlich mehr feiert als studiert. Jedenfalls würde ich irgendwo landen, wo ich ein Larifari-Hauptfach wie Psychologie belegen konnte, mit Studentenpartys und Make-up als Nebenfächern. Als würde aus mir sowieso nichts werden, nur weil ich blond und einigermaßen attraktiv war, ein ziemlich reges Freizeit- und Partyleben führte (und, okay, nicht den besten Ruf hatte), mich nicht in den Debattierclubs oder der Schülervertretung engagierte. Deshalb schien ich in den Augen meiner Lehrer zu einem Dasein als Loser verdammt; man warf mich automatisch in einen Topf mit den Kaputten und den Versagern, bei denen es schon ein Wunder war, wenn sie nach der Pause den Weg zurück ins Schulgebäude fanden.

Aber ich bewies allen, dass sie sich in mir getäuscht hatten. Aus eigener Tasche bezahlte ich einen Physiknachhilfelehrer, denn in Physik haperte es tatsächlich ein bisschen, und den Vorbereitungskurs für die College-Aufnahmetests, den ich vorsichtshalber gleich dreimal hintereinander belegte. Aus unserer Vierer-Clique war ich außer Lissa die Einzige, die zu den Kursen für besonders qualifizierte Schüler überhaupt zugelassen wurde; und bei Lissa, deren Eltern beide promoviert hatten, ging ohnehin jeder davon aus, dass sie die Beste war. Mich sticht jedes Mal der Ehrgeiz, wenn etwas schwierig ist oder jemand denkt, ich schaffe es sowieso nicht. Die Tatsache, dass alle glaubten, ich würde es nicht packen, trieb mich erst recht zu Höchstleistungen an und ließ mich die endlosen Nächte durchhalten, in denen ich paukte wie eine Blöde.

Ich war die Einzige aus unserer Abschlussklasse, die nach Stanford ging. Was bedeutete, dass ich mein Leben dort ganz von vorn anfangen konnte, alles neu, alles frisch, weit weg von zu Hause. Sämtliches Geld, das vom Jobben im Salon übrig blieb – nach Abzug der Monatsrate für mein Auto –, sparte ich für Lebenshaltungskosten, Miete, Bücher. Das Schulgeld würde ich von meinem Anteil des Geldes bezahlen, das mein Vater Chris und mir hinterlassen hatte. Ein Anwalt, dem ich gern persönlich gedankt hätte, legte unser Erbe so an, dass niemand es antasten konnte, bis wir entweder fünfundzwanzig oder mit dem Studium fertig waren. Was bedeutete, dass meine Mutter es nicht einmal während ihrer mageren Jahre hatte abgreifen können. Und dass meine vier College-Jahre auf jeden Fall gesichert waren, egal wie viel von ihrer eigenen Kohle sie zum Fenster rauswarf. Wieso? Weil jedes Mal, wenn Wiegenlied (sämtliche Rechte beim Komponisten, Thomas Custer) als Hintergrundmusik für einen Werbespot verwendet, von einem Barsänger in Las Vegas gesungen oder im Radio gedudelt wurde, Geld auf mein Konto einging und somit ein weiterer Tag meiner Zukunft finanziert war.

Die Glöckchen über der Tür bimmelten; der UPS-Bote kam mit einem Karton herein, den er vor mich auf die Theke stellte. »Paket für euch, Remy.« Er zog den Minicomputer hervor, in dem alle Lieferungen registriert wurden.

Ich quittierte den Empfang auf dem kleinen Bildschirm, nahm den Karton. »Danke, Jacob.«

»Und das hier.« Er reichte mir einen Umschlag. »Bis morgen.«

»Bis morgen.« Der Umschlag hatte seltsamerweise weder einen Stempel noch war er verschlossen. Ich konnte einfach hineingreifen und die drei Fotos herausziehen, die darin steckten. Alle drei zeigten dasselbe Paar, beide etwa Mitte siebzig, das an irgendeinem Strand fotografiert worden war. Der Mann trug eine Baseballmütze und ein T-Shirt mit dem Aufdruck WILL GOLF FOR FOOD, die Frau Gesundsheitslatschen; an ihrem Gürtel hing ein Fotoapparat. Die beiden hielten einander eng umschlungen und blickten selig in die Kamera. Auf dem ersten Bild lächelten sie, auf dem zweiten lachten sie, auf dem dritten küssten sie sich zärtlich, wobei ihre Lippen sich jedoch kaum berührten. Es waren Bilder wie von jedem x-beliebigen Pärchen, das am Meer Ferien macht, jemanden anspricht und fragt, ob man bitte ein Foto von ihnen schießen könne.

Schön und gut – aber wer zum Teufel waren die beiden? Was sollte das Ganze überhaupt? Ich stand auf und reckte den Hals, um nachzusehen, ob der UPS-Wagen noch draußen stand, doch er war bereits weg. Sollte ich diese Leute aus irgendeinem Grund kennen oder was? Ich warf einen weiteren Blick auf die Fotos, doch das Pärchen konnte mir auch nichts erklären. Die beiden strahlten mich bloß stumm an, für immer in ihrem Tropenparadies gefangen.

»Remy, bringst du mir bitte kaltes Wasser?«, rief Lola aus dem Friseurbereich. Am Ton ihrer Stimme – munter, aber laut – hörte ich, dass sie meinte: sofort, pronto, Alarmstufe Rot. »Und das Nebacetin, bitte, aus dem Schränkchen unter der Geldschublade?!«

»Natürlich«, rief ich in ähnlich beschwingtem Ton zurück und stopfte die Fotos in meine Handtasche.

Rasch holte ich das Nebacetin, dazu ein paar Pflaster und etwas Verbandsmull; aus Erfahrung ahnte ich schon, dass der Kram gebraucht werden würde. Haarunfälle ereigneten sich am laufenden Band – man musste eben entsprechend gut vorbereitet sein.

Drei Stunden später. Nachdem das Drama seinen Lauf genommen hatte, verließ Lolas Kundin uns – endlich! – mit einbandagiertem Kopf, einem großzügigen Geschenkgutschein sowie einem Blatt Papier in der Tasche, auf dem stand, dass sie sich für den Rest ihres Lebens im Joie Salon umsonst die Augenbrauen zupfen lassen durfte. Ich schloss die Geldschublade ab, nahm meine Handtasche und ging nach draußen.

Der Sommer war mittlerweile in all seiner Pracht da, drückende Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit inklusive. Alles roch irgendwie intensiver als sonst, dampfig – als würde die Welt jeden Moment überkochen. Die Klimaanlage im Salon lief ständig auf Hochtouren; wenn man ins Freie trat, hatte man daher das Gefühl, man käme direkt aus der kältesten Arktis.

Ich stieg in meinen Wagen, startete den Motor und drehte die Klimaanlage bis zum Anschlag auf, damit es so schnell wie möglich kühl im Auto wurde. Dann hörte ich die Nachrichten auf meiner Mailbox ab. Eine von Chloe, die nach dem Plan für heute Abend fragte. Eine von Lissa, die schniefend behauptete, es gehe ihr gut, doch, wirklich. Sie ahnte wohl, dass mir ihr Gejammer langsam auf die Nerven ging. Schließlich mein Bruder Chris, der mich daran erinnerte, dass Jennifer Anne heute Abend für uns kochte, sechs Uhr, sei pünktlich.

Ärgerlich löschte ich die letzte Nachricht. Ich war immer pünktlich. Und das wusste er auch. Diese dämliche Ermahnung hatte ich nur Jennifer Annes konstanter Gehirnwäsche zu verdanken. Schließlich war ich diejenige gewesen, die ihn jeden Morgen weckte, als er mit dem Job bei der Werkstatt anfing. Sonst hätte er todsicher verpennt, obwohl er sich mindestens drei Wecker stellte und sie im ganzen Zimmer so verteilte, dass er aufstehen musste, um sie abzuwürgen. Aber es nützte nichts, er verschlief trotzdem. Ich sorgte dafür, dass er nicht zu spät kam, nicht gleich wieder gefeuert wurde, spätestens um halb neun aus der Tür war, für den Fall, dass er in einen Stau geriet, was fast immer 

Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, denn irgendetwas knallte gegen meine Windschutzscheibe. Nicht doll – eher ein Klatschen als ein Knallen. Ich zuckte trotzdem heftig zusammen. Als ich aufblickte, sah ich ein weiteres Ferienfoto von dem alten Pärchen am Strand. Das T-Shirt mit dem unsäglichen Golf-Spruch, das runzlige Lächeln. Das Foto wurde von einer Hand gegen die Scheibe gedrückt, so dass die beiden auf mich herunterstarrten.

Da kapierte ich schlagartig. Ich Idiot. Dass ich nicht eher darauf gekommen war!

Ich drückte auf den elektrischen Fensterheber, um die Scheibe auf der Fahrerseite runterzulassen. Neben meinem Außenspiegel stand Dexter. Er nahm die Hand von der Windschutzscheibe, das Foto rutschte runter und blieb hinterm Scheibenwischer stecken.

»Hallo.« Er trug ein weißes T-Shirt und darüber unverkennbar die typische grüne Uniform von dem Fotoexpress gegenüber, Flash Camera; der Name war in schwarzen Großbuchstaben auf die vordere Hemdtasche gestickt.

»Du verfolgst mich«, sagte ich.

»Wie? Gefallen dir die Fotos etwa nicht?«

»WILL GOLF FOR FOOD?! So was Bescheuertes.« Ich legte den Rückwärtsgang ein.

»Keine Musiker, keine Golfspieler«, zählte er auf. »Was noch? Löwenbändiger? Buchhalter?«

Ich sah ihn nur an und trat aufs Gaspedal. Er musste zur Seite springen, um seinen Fuß vor meinem Reifen in Sicherheit zu bringen.

»Warte mal.« Er legte eine Hand in mein geöffnetes Fenster. »Eine ernsthafte Frage: Kannst du mich eben wo hinfahren?« Ich wirkte wohl ziemlich ablehnend, denn er fügte schnell hinzu: »Die Band trifft sich in fünfzehn Minuten. Wir haben ein paar neue Regeln aufgestellt und Zuspätkommen wird jetzt streng bestraft. Ehrlich.«

»Ich bin auch schon spät dran«, erwiderte ich, was nicht stimmte. Aber war ich etwa ein Taxiunternehmen?

»Bitte.« Er ging in die Hocke, so dass er sich mit mir auf Augenhöhe befand. Dann hob er die andere Hand, in der er eine fettverschmierte Tüte von Double Burger hielt. »Ich gebe dir auch die Hälfte von meinen Pommes ab.«

»Nein, danke.« Ich drückte wieder auf den Schalter, um das Fenster zu schließen. »Außerdem ist Essen in meinem Auto verboten. Zuwiderhandlungen werden streng bestraft.«

Er lächelte über die Anspielung und kämpfte gegen die hochfahrende Fensterscheibe. »Ich bin auch ganz brav, versprochen.« Schon rannte er um die Motorhaube meines Autos herum, wobei er sich im Vorbeigehen das Foto von der Windschutzscheibe schnappte und in seine hintere Jeanstasche stopfte. Bevor ich mich versah, plumpste er auf den Beifahrersitz und machte es sich bequem, während die Wagentür hinter ihm zufiel.

Was hatte der Kerl bloß an sich? Widerstand schien vollkommen zwecklos zu sein. Aber vielleicht war ich auch nur zu erschöpft, um mich mit ihm rumzustreiten. Und es war definitiv zu heiß.

»Aber nur dieses eine Mal«, sagte ich mit meiner strengsten Stimme. »Noch einmal nehme ich dich nicht mit. Und wenn du auch nur das kleinste Stück Pommes anfasst, fliegst du raus. Und zwar hochkantig. Bei voller Fahrt.«

»Sei ganz offen.« Er angelte nach dem Sicherheitsgurt. »Nur keine Rücksichtnahme, bitte.«

Ich ignorierte die Spitze und bog vom Parkplatz des Einkaufszentrums in die Hauptstraße ein. Noch bevor wir an der nächsten Kreuzung waren, ertappte ich ihn dabei, dass er sich heimlich Pommes in den Mund stopfte. Er dachte wohl, er würde sich ganz schlau anstellen, indem er sie mit der hohlen Hand verdeckte und so tat, als müsse er gähnen. Doch ich kannte alle Tricks auf dem Gebiet, denn auch Lissa testete dauernd aus, wie weit sie bei mir in puncto »Essen im Auto« gehen konnte.

»Was habe ich gesagt?« Vor einer roten Ampel trat ich auf die Bremse.

»Ich habe Hmmpfer«, murmelte er mit vollem Mund, schluckte und wiederholte: »Ich habe Hunger.«

»Ist mir egal. In meinem Auto wird nicht gegessen, Ende. Ich will, dass es so gepflegt wie möglich ist – und bleibt.«

Er drehte sich um, betrachtete den Rücksitz, das Armaturenbrett, die Bodenmatten. »So gepflegt wie möglich? Dieses Teil riecht sogar noch neu.«

»Du hast es erfasst«, antwortete ich. Die Ampel schaltete auf Grün.

»Da vorne links.« Er zeigte auf die Abzweigung. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel, bevor ich die Spur wechselte.

»Ich wette, du bist ein echter Kontrollfreak«, meinte er.

»Die Wette verlierst du.«

»Doch, das spüre ich genau.« Er fuhr mit einem Finger über das Armaturenbrett und betrachtete ihn anschließend prüfend. »Kein einziges Staubkörnchen. Und die Windschutzscheibe hast du von innen geputzt, stimmt’s?«

»Schon seit längerem nicht mehr.«

»Hah!«, rief er triumphierend. »Ich wette, du drehst schon bei der kleinsten Kleinigkeit durch. Wenn irgendwas nicht ganz so ist, wie es sein soll, springst du im Rechteck.«

»Falsch«, entgegnete ich.

»Mal sehen.« Behutsam fischte er etwas aus seiner Tüte und hielt es mit zwei Fingern hoch: ein langes, gummiartiges Stück Pommes. Er wedelte damit in meine Richtung. »Kleines Experiment im Namen von Wissenschaft und Fortschritt.«

»Kein Essen im Auto«, wiederholte ich gebetsmühlenartig. Verflucht, wie weit war es noch bis zu seinem Haus? Wir fuhren gerade in der Nähe des Hotels vorbei, wo die Hochzeitsfeier stattgefunden hatte, es konnte also nicht mehr allzu weit sein.

»Hier links«, sagte er. Beim Einbiegen in die Straße scheuchte ich ein paar Eichhörnchen auf die Bäume. Als ich das nächste Mal zu ihm rüberguckte, war seine Hand leer. Das Stück Pommes lag mitten auf dem Kupplungsgehäuse. Er legte eine Hand auf meinen Arm: »Keine Panik, ganz ruhig bleiben. Tief durchatmen. Und jetzt: genießen – das Chaos. Die Freiheit, die Chaos bedeutet.«

Ich zog den Arm weg. »In welchem Haus wohnst du?«

»Siehst du, es ist nämlich gar nicht unordentlich, sondern schön. Es ist die Natur in all ihrer Einfachheit ...«

Da entdeckte ich den weißen Minibus. Er stand, unmöglich eingeparkt, in etwa fünfzig Meter Entfernung vor einem kleinen gelben Haus. Obwohl heller Tag war, brannte die Lampe über der vorderen Veranda. Auf den Stufen saß Ringo, der Rothaarige – Schlagzeuger und Coffeeshop-Angestellter –, neben ihm ein Hund. Der Mensch las Zeitung, der Hund hechelte mit heraushängender Zunge.

»... der natürliche Zustand aller Dinge ist Chaos, ist das Gegenteil von perfekt.« Dexter beendete seine kleine Ansprache, während ich ruckartig in die Auffahrt einbog. Kies spritzte zu beiden Seiten. Das Stück Pommes rutschte vom Kupplungsgehäuse – wobei es eine Fettspur hinterließ, die unheilvoll an Schneckenschleim erinnerte – und landete auf meinem Schoß.

»Ups.« Er schnappte sich das fettige kleine Miststück. »Siehst du? Das war doch gar nicht mal schlecht, ein erster Schritt in die richtige Richtung ...«

Ich blickte ihn mit unbewegter Miene an und drückte dabei auf die automatische Türverriegelung. Es machte Klick, der Knopf an seiner Tür schoss hoch.

»... zur Überwindung deines Problems.« Nachdem er den Satz beendet hatte, öffnete er die Tür und verschwand mit seiner schmierigen Tüte aus meinem Wagen. Doch dann lehnte er sich plötzlich noch einmal herein, so dass unsere Gesichter ganz dicht beieinander waren. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«

»Kein Problem«, sagte ich. Einen Moment lang rührte er sich nicht vom Fleck, was mich leicht aus der Fassung brachte: nur wir zwei, Auge in Auge, ganz nah beieinander. Dann blinzelte er kurz, richtete sich auf und schloss die Wagentür. Als er Dexter kommen sah, lief der Hund ihm sofort entgegen, wobei er wie wild mit dem Schwanz wedelte. Ich merkte, dass mein Auto nach Fett stank – ein weiterer Pluspunkt –, und ließ die Fenster herunter. Das Duftbäumchen, das an meinem Rückspiegel hing, würde hoffentlich schnell das Seinige tun.

»Endlich.« Der Schlagzeuger faltete seine Zeitung zusammen. Ich legte den Rückwärtsgang ein und vergewisserte mich, dass Dexter mir den Rücken zugewandt hatte, bevor ich mit dem Finger über das Kupplungsgehäuse fuhr, um zu prüfen, wie fettig es geworden war. Mein finsteres kleines Geheimnis.

»Es ist noch nicht sechs Uhr.« Dexter beugte sich vor, um den Hund zu streicheln, der ihn mittlerweile unbändig wedelnd umkreiste. Die Haare an seiner Schnauze waren weiß und er schien ein wenig wackelig auf den Beinen – wie das bei alten Hunden nun mal so ist.

»Ja, aber ich habe meinen Schlüssel nicht dabei.« Der Schlagzeuger stand auf.

»Ich auch nicht«, meinte Dexter. Ich fuhr rückwärts Richtung Straße, musste dort allerdings noch ein paar Autos vorbeilassen.

»Und die Hintertür?«, fragte Dexter.

»Abgeschlossen. Außerdem hat Ted gestern Abend das Bücherregal davorgeschoben, weißt du das nicht mehr?«

Dexter steckte die Hände in die Taschen und zog sie wieder heraus. Nichts. »Dann müssen wir wohl ein Fenster einschlagen, schätze ich.«

»Was?«

»Keine Panik«, antwortete Dexter in dem lässigen Ton, den ich bereits von ihm kannte. »Wir nehmen ein kleines. Du kannst dich durchzwängen.«

»Auf gar keinen Fall.« Der Schlagzeuger verschränkte die Arme vor der Brust. Dexter lief die Stufen zur Veranda hoch, um die vorderen Fenster des Hauses zu inspizieren.

»Warum muss eigentlich immer ich die Drecksarbeit machen?«

»Weil du rote Haare hast«, antwortete Dexter. Der Schlagzeuger schnitt eine Grimasse. »Und schmale Hüften.«

»Was faselst du denn da?«

Inzwischen wartete ich nicht mehr auf eine Lücke im Strom der vorbeifahrenden Autos, sondern sah zu, wie Dexter neben dem Haus einen Stein aufhob und sich vor ein kleines Fenster am anderen Ende der Veranda hockte. Der Hund setzte sich neben ihn und leckte Dexters Ohr, während Dexter erst prüfend das Fenster und dann den Stein betrachtete. Der Schlagzeuger stand, die Hände in den Taschen, hinter ihm. Er wirkte nach wie vor ziemlich angenervt.

Dann war ich eben ein durchgeknallter Kontrollfreak! Und? Jedenfalls konnte ich bei so etwas nicht tatenlos zusehen. Deshalb fuhr ich zurück, stieg aus und betrat die Veranda genau in dem Moment, als Dexter den Arm hob, um das Fenster einzuschlagen.

»Eins«, sagte er, »zwei ...«

»Stopp!«, rief ich. Er erstarrte. Der Stein fiel ihm aus der Hand und mit einem dumpfen Knall zu Boden. Der Hund sprang jaulend auf.

»Ich dachte, du wärst weg«, meinte Dexter. »Konntest dich wohl nicht losreißen ...«

»Hast du eine Kreditkarte?«

Dexter wechselte einen Blick mit dem Schlagzeuger. Dann sagte er: »Sehe ich etwa so aus, als ob ich eine Kreditkarte hätte? Und was, wenn ich fragen darf, soll ich bitte kaufen?«

»Um die Tür aufzubrechen, Idiot«, antwortete ich und suchte in meinen Hosentaschen. Aber meine Geldbörse war in meiner Handtasche auf dem Rücksitz.

»Ich habe eine«, sagte der Schlagzeuger langsam. »Aber ich soll sie nur für Notfälle einsetzen.«

Wir sahen ihn an. Dexter streckte den Arm aus und versetzte ihm mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf. »John Miller, du bist ein Trottel. Gib sie ihr einfach.«

John Miller – so hieß er also, doch für mich war und blieb er Ringo – reichte mir seine Visa-Karte. Ich öffnete die Fliegengittertür, schob die Karte zwischen Rahmen und Schloss der Haustür, ruckelte ein wenig. Ich spürte, dass die beiden mich beobachteten.

Jede Tür ist anders; auch die Dicke der Karte und das Gewicht des Schlosses spielen eine Rolle. Es war wie beim perfekten Wurf mit einem extragroßen Becher Cola light: Man lernte die Technik nur durch konsequentes Üben. Immer und immer wieder. Wirklich bei Fremden eingebrochen war ich noch nie; nur bei uns oder bei Jess, wenn wir unsere Schlüssel vergessen hatten. Mein Bruder brachte mir den Trick bei, als ich vierzehn war. Er allerdings wandte die Methode damals bei echten Einbrüchen an.

Ein paarmal links, ein paarmal rechts – ich spürte, wie das Schloss nachgab. Bingo! Wir waren drin. Ich gab John Miller seine Kreditkarte zurück.

»Sehr beeindruckend.« Er lächelte mich an, wie Jungs einen anlächeln, wenn man sie durch etwas verblüfft. »Wie heißt du noch mal?«

»Remy.«

»Sie gehört zu mir«, erklärte Dexter ihm. Ich stöhnte genervt auf und verließ die Veranda. Der Hund folgte mir auf dem Fuß. Ich bückte mich, streichelte ihn, kratzte ihn hinter den Ohren. Das Weiß seiner Augen war trübe, er stank entsetzlich aus dem Maul, doch für Hunde hatte ich schon immer eine Schwäche gehabt. Meine Mutter war natürlich ein Katzenmensch. Die einzigen Haustiere, die ich je haben durfte, waren riesige, flauschige Perserkatzen mit diversen gesundheitlichen wie auch charakterlichen Problemen, die meine Mutter abgöttisch liebten und stark haarten.

»Das ist Monkey«, rief Dexter. »Man kriegt uns nur im Doppelpack, ihn und mich.«

»Armer Monkey.« Ich richtete mich wieder auf und lief zu meinem Wagen.

»Du bist zwar ein Miststück, meine Liebe«, antwortete er, »aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Du kommst wieder.«

»An deiner Stelle würde ich mich nicht darauf verlassen.«

Er antwortete nicht, lehnte sich an einen Verandapfosten und beobachtete, wie ich mit dem Auto zurücksetzte. Monkey hockte neben ihm. Gemeinsam schauten sie mir nach, während ich davonfuhr.