Kapitel Neun

Ich dachte, das wird eine Grillparty. Du weißt schon: Hotdogs, Hamburger, Kroketten, Wackelpudding.« Dexter nahm eine Bounty-Tüte, warf sie in unseren Einkaufswagen. »Und Bountys.«

»Klar wird das eine Grillparty.« Ich blickte auf meinen Einkaufszettel, bevor ich ein Glas sonnengetrockneter Tomaten vom Regal nahm. Importware, vier Dollar pro Glas! »Aber eine, die von meiner Mutter veranstaltet wird.«

»Und?«

»Meine Mutter grillt nicht. Sie kocht nicht mal.«

Er wartete, dass ich weitersprach.

»Wirklich, meine Mutter kocht grundsätzlich nicht. Nie.«

»Irgendwann muss sie doch mal kochen.«

»Fehlanzeige.«

»Jeder Mensch weiß, wie man Rührei macht, Remy, jeder. Es wird bei der Geburt auf die Festplatte programmiert. Selbst wenn man die Festplatte irgendwann neu formatiert, ist das Rühreiprogramm immer noch da. Wie Schwimmen können. Oder wissen, dass man saure Gurken nicht zu Pfannkuchen isst. So was weiß man einfach.«

»Meine Mutter mag kein Rührei.« Ich schob den Einkaufswagen weiter durch den Gang. Er trottete neben mir her. »Sie isst nur Eier à la Benedikt.«

»Was ist das denn?« Er blieb stehen, abgelenkt von einer Riesenwasserpistole, die in Kinder-Augenhöhe mitten vor einem Cornflakes-Regal ausgestellt war.

»Du weißt nicht, was Eier à la Benedikt sind?«

»Sollte ich?« Er nahm die Wasserpistole in die Hand und drückte auf den Abzug, klick klick klick. Duckte sich hinter eine Maisdosenpyramide, stützte die Pistole ab wie ein Scharfschütze und zielte in den nächsten Gang hinein.

»Es ist eine Art kompliziertes Schickimicki-Eiergericht fürs Frühstück. Mit Sauce hollandaise und Bagels.«

»Igitt.« Er verzog das Gesicht und schüttelte sich. »Ich hasse Bagels.«

»Wie?«

»Bagels.« Er legte die Wasserpistole an ihren Platz zurück; wir gingen weiter. »Ich kann sie nicht essen. Ich kann nicht einmal dran denken, ohne dass mir schlecht wird. Wirklich, wir sollten sofort aufhören drüber zu reden!«

Wir blieben vor den Gewürzen stehen, denn meine Mutter wollte etwas, das sich asiatische Fischsauce nannte. Ich studierte jedes einzelne Flaschenetikett und war ziemlich gefrustet, weil ich das Zeug nicht fand. Dexter jonglierte in der Zwischenzeit mit ein paar Süßstoffpackungen. Mit ihm Einkaufen zu gehen war, als schleppte man ein Kleinkind mit sich herum. Ständig wurde er durch irgendwas abgelenkt, tatschte alles an; und in unserem Einkaufswagen lagen schon jetzt viel zu viele überflüssige Teile. Ich hatte fest vor alles wieder auszuladen, wenn wir an der Kasse standen und er gerade nicht guckte.

»Du willst mir also tatsächlich erzählen, du kannst ein ganzes Glas Mayonnaise auf einmal auslöffeln ...« Ich streckte die Hand nach der Fischsauce aus, die ich in dem Moment endlich entdeckte. »Aber Bagels, die im Prinzip nichts anderes sind als Toastbrot, findest du so ekelhaft, dass dir schlecht wird?«

»Widerlich.« Wieder schüttelte er sich. »Ganz ehrlich.«

Wir brauchten ewig. Auf der Liste meiner Mutter standen zwar bloß fünfzehn Sachen, aber nichts Normales, nur Spezialitäten: importierter Ziegenkäse, Ciabatta, eine spezielle Olivensorte, aber bitte nur die im roten Glas, nicht die im grünen. Außerdem hatte sie für die Gartenparty extra einen neuen Grill erworben, und zwar den aufwändigsten, den es in dem Spezialhaushaltswarengeschäft gegeben hatte, wo sie mit Chris gewesen war, um das Teil zu kaufen. Und Chris hielt sie im Gegensatz zu mir leider nie davon ab, zu viel Geld auszugeben. Darüber hinaus gab es brandneue Gartenmöbel (wo sollten wir denn sonst sitzen?), so dass meine Mutter für ein simples Gartenfest am Nationalfeiertag ein kleines Vermögen ausgegeben hatte.

Doch das war alles ihre Idee gewesen. Seit sie und Don aus den Flitterwochen zurück waren, hatte sie wie eine Wilde an ihrem Roman gearbeitet. Vor einigen Tagen tauchte sie mittags urplötzlich aus der Versenkung auf und teilte uns ihre neueste Eingebung mit: eine typisch amerikanische Gartenparty für Freunde und Familie am vierten Juli. Chris und Jennifer Anne waren eingeladen, Dons Sekretärin Patty auch. Denn die Ärmste war Single, und wäre es nicht großartig, wenn sie und der Innenarchitekt meiner Mutter, Jorge ... also wenn Patty und Jorge sich zusammentun würden. Jorge musste man natürlich sowieso einladen, um ihm für die viele Arbeit zu danken, die er mit der Einrichtung des Neuen Flügels gehabt hatte. Außerdem war so ein Gartenfest im kleinen Kreis doch genau der richtige Anlass, Remys neuen Beau (hier bitte einfügen: Remy krümmt sich) kennen zu lernen, den neu gestalteten Garten einzuweihen und unser wunderbares, grandioses, harmonisches Zusammenleben als eine einzige große, endlich vereinte Familie zu feiern!

Natürlich. Gar keine Frage. Es würde super werden.

»Was ist denn mit dir los?« Dexter versperrte mir plötzlich den Weg und hielt den Einkaufswagen an. Anscheinend hatte ich, während mir dieser Megastress durch den Kopf jagte, den Wagen immer schneller durch die Gänge geschoben, bis er voll in Dexters Magengrube gelandet war. Er legte seine Hände auf den Rand, drückte den Wagen in meine Richtung zurück. »Was hast du?«

»Nichts.« Ich wollte den Wagen weiterschieben, aber es ging nicht. Dexter rührte sich nicht vom Fleck. »Warum fragst du?«

»Weil du aussiehst, als würde dein Gehirn gerade implodieren.«

»Vielen Dank, das hast du nett gesagt.«

»Außerdem kaust du auf deiner Unterlippe herum«, fuhr er fort. »Und das machst du nur, wenn du kurz davor bist, deinen superzwanghaften Was-wäre-wenn-Modus zu aktivieren.«

Ich starrte ihn an. Was bildete er sich eigentlich ein – mich so leicht durchschauen zu können? Als wäre ich ein Rätsel, das man in – wie lange waren wir jetzt zusammen? – knapp zwei Wochen lösen konnte?

»Mir geht’s bestens, danke«, meinte ich kühl.

»Ah! Die Eiskönigin spricht. Was natürlich heißt, dass ich Recht habe.« Er umrundete den Einkaufswagen und legte seine beiden Hände auf meine. Dann ging er mit seinen üblichen, großen Schritten weiter, wobei er mich und den Wagen vor sich herschob; mir blieb gar nichts anderes übrig als mich seinem Rhythmus anzupassen, was sich ungefähr so eigenartig anfühlte, wie es aussah. Ich kam mir vor, als hätte ich Murmeln in den Schuhen. »Und wenn es meinetwegen total peinlich für dich wird?« Er fragte, als würde er eine wissenschaftliche Hypothese – zum Beispiel der Quantenphysik – entwickeln. »Wenn ich irgendein wertvolles Familienerbstück aus Porzellan zerbreche? Oder mich über deine Unterwäsche auslasse?«

Ich funkelte ihn an und drückte ruckartig gegen den Einkaufswagen. Er stolperte, ließ aber nicht los. Im Gegenteil, er zog mich an sich, legte seine Hände auf meinen Bauch und flüsterte mir ins Ohr: »Und wenn ich beim Essen anfange mit Don zu wetten? Ich werde ihn fragen, ob er sich zutraut, das Glas da mit den sonnengetrockneten Tomaten aufzuessen und noch eine Packung Margarine hinterher. Und was wäre, wenn er ... oh ... mein ... Gott« – Dexter machte eine dramatische Pause – »... sich tatsächlich drauf einlassen würde?«

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er mich zum Lachen brachte, vor allem wenn ich gar nicht lachen wollte. Es sah mir einfach nicht ähnlich, so die Kontrolle über mich selbst zu verlieren. Sich nicht im Griff zu haben war in meinen Augen eine der größten Charakterschwächen überhaupt.

»Aber weißt du was?« Seine Stimme war noch immer ganz dicht bei meinem Ohr. »Ich glaube, das wird nicht passieren.«

»Ich hasse dich«, sagte ich. Er küsste mich auf den Nacken und ließ endlich den Einkaufswagen los.

»Falsch«, erwiderte er und marschierte den Gang entlang, denn er hatte bereits etwas Neues entdeckt, das ihn ablenkte: eine gigantische Auslage diverser Schmelzkäsesorten. »Und du wirst mich auch nie hassen. Niemals.«

 

»Du gehst also nach Stanford, Remy?«, fragte mich Dons Sekretärin, Patty.

Ich nickte höflich lächelnd, ließ mein Glas von der einen in die andere Hand wandern und überprüfte gleichzeitig diskret mit der Zunge, ob ich zufällig Spinat zwischen den Zähnen hatte. Zum Glück nicht. Patty dagegen schon, und zwar einen schönen großen Spinatfetzen, akkurat um einen Schneidezahn geschlungen. Ich hatte sie seit ihrem tränenreichen Auftritt bei der Hochzeit nicht mehr gesehen. Doch nun stand sie mit eifrigem Gesichtsausdruck vor mir.

»Ein exzellentes College.« Sie tupfte sich mit einer Serviette die Stirn ab. »Du freust dich bestimmt schon.«

»Ja.« Ich rieb unauffällig über meine Vorderzähne, da ich hoffte, ihr Unterbewusstsein würde es mitbekommen und entsprechende Signale aussenden, damit sie das Gleiche tat. Aber nein. Sie lächelte mich unverdrossen an, trank ihren Wein aus und sah sich flüchtig um, während sie überlegte, was sie als Nächstes sagen könnte. Schon bedeckten neue Schweißperlen ihre Stirn.

Plötzlich wurden wir von einer kleinen Unruhe abgelenkt, die drüben bei dem brandneuen Grill entstand. Chris war die Aufgabe zugeteilt worden, die sündhaft teuren Steaks zu grillen, die meine Mutter beim Metzger für diesen Anlass extra vorbestellt hatte. Ich kriegte mit, wie sie mit bedeutsamer Stimme zu jemandem sagte, es sei »brasilianisches Rind«. Als wären Kühe, die unterhalb des Äquators gegrast hatten, etwas Besseres als Rinder, die ihr Heu brav und still in Michigan wiederkäuten.

Chris war allerdings nicht gerade in Form. Bei dem Versuch, den Grill anzuzünden, sengte er sich prompt die Armhärchen und eine halbe Augenbraue ab. Als Nächstes hatte er ziemliche Probleme bei der Handhabung des komplizierten Grillbestecks gehabt; denn der Verkäufer hatte meiner Mutter nicht nur den Grill angedreht, sondern darauf bestanden, dass sie unbedingt auch sämtliches exklusive Zubehör kaufte, das müssen Sie einfach haben. Jedenfalls flog eines der Steaks, kaum hatte Chris es mit dem Wender zu greifen versucht, erst einmal mit Schwung durch den halben Garten und landete auf den importierten Designerschuhen unseres Innenarchitekten Jorge.

Und jetzt ging plötzlich der Grill in Flammen auf, während Chris verzweifelt mit der Gaszufuhr kämpfte. Wir anderen standen mit unseren Gläsern um ihn rum und sahen zu, wie das Feuer erst aufloderte, so dass die Steaks aufzischten und laut brutzelten, und dann unvermittelt erlosch, wobei der Grill ein gurgelndes Geräusch von sich gab. Meine Mutter, die sich angeregt mit einem unserer Nachbarn unterhielt, sah nur einmal kurz und nachlässig herüber. Als wäre es auch nicht ansatzweise ihr Problem, dass der Hauptgang gerade systematisch verbrannt wurde.

»Keine Bange!«, rief Chris, als die Flammen erneut emporschossen. Er schlug mit dem Wender auf sie ein. »Alles unter Kontrolle.« Seine Stimme klang, als wäre er sich dessen ungefähr so sicher, wie er aussah. Wenn man seine halbe Augenbraue und den Geruch nach versengtem Haar bedachte, eindeutig nicht sehr.

Doch nun sprang meine Mutter endlich mutig für ihn in die Bresche, indem sie rief: »Alle mal herhören!« Dabei zeigte sie auf den Tisch, auf dem wir die Vorspeisen und den Käse angerichtet hatten. »Greift zu, Leute! Es gibt Unmengen zu essen.«

Chris wedelte den Rauch vor seinem Gesicht weg; Jennifer Anne stand neben ihm und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte ein paar Beilagen mitgebracht, in Plastikbehältern mit dazu passenden, pastellfarbenen Deckeln. Auf jedem Deckel stand in wasserfestem Filzstift: EIGENTUM VON JENNIFER A. BAKER. BITTE ZURÜCKGEBEN. Als gäbe es eine internationale Verschwörung mit dem einzigen Ziel, ihre Tupperware zu stehlen.

»Barbara, vielen Dank für die Einladung, es ist wirklich so nett«, rief Patty.

»Gern geschehen, kein Problem«, antwortete meine Mutter und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Sie trug schwarze Hosen und ein limettengrünes Tanktop, das sich perfekt dazu eignete, ihre Flitterwochenbräune zur Schau zu stellen. Ihre Haare wurden von einem breiten Haarband zurückgehalten. Sie sah aus wie der Inbegriff einer Gastgeberin in einem gediegenen Vorstadtviertel; fehlte nur noch, dass sie dekorative Gartenfackeln im polynesischen Stil anzündete und Cracker mit Käsecreme aus der Sprühdose garnierte.

Es war jedes Mal faszinierend mitzuerleben, wie sich die Persönlichkeit meiner Mutter veränderte, je nachdem, mit wem sie gerade zusammen war. Während der Beziehung mit meinem Vater war sie der ultimative Hippie. Auf den Fotos aus dieser Zeit sah sie unglaublich jung aus; ihre langen schwarzen Haare waren in der Mitte gescheitelt und sie trug zerschlissene Jeans oder duftig flatternde Röcke. Während ihrer Ehe mit Harold, dem Professor, verwandelte sie sich in eine Intellektuelle, kleidete sich vorzugsweise in Tweed und hatte ständig ihre Lesebrille auf der Nase, obwohl sie auch ohne sehr gut sah. Als sie mit Win, einem Arzt, verheiratet war, stylte sie sich à la Country Club, mit Twinsets oder Tennisröckchen (obwohl sie noch nie einen Tennisplatz betreten hatte – und es auch nicht tun würde, selbst wenn ihr Leben davon abhinge). Und als sie Martin, einen professionellen Golfspieler, kennen lernte – im Country Club, wo sonst? –, hatte sie ihre jugendliche Phase (er war immerhin sechs Jahre jünger als sie): kurze Röcke, Jeans, dünne Kleidchen mit Spaghettiträgern. Jetzt, als Dons Frau, genannt Barb, sah sie plötzlich aus wie der Prototyp der gut situierten Hausfrau aus einer adretten Reihenhaussiedlung am Stadtrand. Ich konnte die beiden schon vor mir sehen, wie sie in einigen Jahren im Freizeitdress (selbstverständlich im Partnerlook) im Golfwagen rumtuckern würden und an ihrer Abschlagtechnik feilten. Hoffentlich war es wirklich die letzte Ehe meiner Mutter. Ich wusste nämlich nicht, ob sie – oder ich – eine weitere Metamorphose ertragen würde.

Ich beobachtete Don; er trug ein Polohemd, trank Bier aus der Flasche und stopfte sich gerade noch eins von den Bruschette in den Mund. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er den Grillmeister mimen würde, aber Essen schien ihm gar nicht so wichtig zu sein. Im Gegenteil – er ernährte sich fast ausschließlich von einem Zeug mit dem klangvollen Namen Gesundheit garantiert, einem Aufbaudrink in kleinen Alu-Dosen, in dem angeblich alles drin war, was man brauchte. Außerdem musste man nichts weiter tun als am Dosenring zu ziehen. Er kaufte die Minidosen kistenweise in Sam’s Club. Aus irgendeinem Grund störte mich das noch mehr als mein Frühstück unter Brüsten: Dons Anblick in Lederpantoffeln, wenn er morgens Zeitung lesend durchs Haus lief und dabei eine Dose Gesundheit garantiert in der Hand hielt, als wäre sie festgewachsen. Der Fffft-Laut, der ertönte, wenn er den Dosenring abzog, kündete uns sein Näherkommen mittlerweile besser an als jede Fanfare.

»Remy, mein Schatz, kommst du einen Moment her?«, rief meine Mutter.

Ich entschuldigte mich bei Patty und ging über den Rasen zu ihr. Sie fasste mich am Handgelenk, zog mich etwas dichter zu sich und flüsterte: »Meinst du, ich muss mir wegen der Steaks Sorgen machen?«

Ich warf einen Blick Richtung Grill. Chris stand so davor, dass er das Fleisch halb verdeckte. Dennoch konnte man erkennen, dass sich die Eins-A-Filetsteaks aus Brasilien in kleine, schwarze Objekte verwandelt hatten, die eine nicht nur entfernte Ähnlichkeit mit Lavagestein besaßen.

»Ja und nein«, antwortete ich. Sie streichelte geistesabwesend meinen Arm. Meine Mutter hatte immer kühle Hände, sogar wenn es affenheiß war. Plötzlich überfiel mich eine Erinnerung: wie sie die Hand auf meine Stirn legte, als ich klein war, um zu fühlen, ob ich Fieber hatte. Und dass ich schon damals gedacht hatte, wie kühl ihre Hände wären. »Ich kümmere mich drum«, sagte ich.

»Ach, Remy, was mache ich bloß ohne dich?« Sie drückte meine Hand.

So was passierte ständig, seit sie wieder zu Hause war. Plötzliche Momente, in denen sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und ich wusste, was sie dachte. Nämlich dass ich tatsächlich nach Stanford ging, dass meine Abreise wahrhaftig kurz bevorstand. Sie hatte einen neuen Ehemann, einen Neuen Flügel, einen neuen Roman. Es würde ihr blendend gehen ohne mich, und das wussten wir beide. Töchter taten so was. Sie gingen aus dem Haus und kehrten irgendwann mit ihrem eigenen Leben zurück. Die Geschichte kam in vielen ihrer Bücher vor: Ein Mädchen rebelliert, beweist allen, was sie kann, findet Liebe, übt Rache. In der Reihenfolge. Ich mochte die ersten beiden Teile, den rebellischen und den, in dem sie es allen zeigt. Alles andere wäre bloß Zugabe.

»Du wirst nicht mal merken, dass ich weg bin, Mom.«

Doch sie schüttelte seufzend den Kopf, zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich roch ihr Parfum, vermischt mit Haarspray, schloss für einen Augenblick die Augen und atmete ihren Duft ein. Trotz aller Veränderungen – einiges blieb immer gleich.

Genau das dachte ich auch, als ich anschließend in der Küche stand und die Hamburger, die ich für den Fall der Fälle besorgt hatte, aus dem Kühlschrank zog, wo ich sie hinter einer Familiengroßpackung Gesundheit garantiert versteckt hatte. Im Supermarkt – als Dexter mich fragte, warum ich Hamburger kaufte, obwohl sie gar nicht auf dem Einkaufszettel standen – hatte ich geantwortet, es wäre mir lieber, auf alles vorbereitet zu sein, weil man eben nie wissen konnte. War ich zu zynisch? Oder hatte ich einfach aus der Vergangenheit gelernt? Im Gegensatz übrigens zu vielen anderen Menschen, die sich im Dunstkreis meiner Mutter bewegten.

»Dann stimmt es also wirklich ...« Ich drehte mich um: Jennifer Anne stand hinter mir. In der einen Hand hielt sie zwei Packungen Hotdogs, in der anderen einen Beutel mit Hotdog-Brötchen. Sie lächelte ein wenig schief, als wären wir beide auf frischer Tat ertappt worden, und meinte: »Kluge Köpfe kommen auf die gleichen Ideen.«

»Beeindruckend«, sagte ich. Sie trat an die Küchentheke, riss eine der Hotdog-Packungen auf und legte die Würstchen auf einen Teller. »Du kennst sie anscheinend schon ziemlich gut«, fuhr ich fort.

»Nein, aber ich kenne Christopher«, antwortete sie. »Ich war von Anfang an skeptisch, was diesen Grill betrifft, und zwar seit dem Moment, als wir ihn gekauft haben. Er ging mit ihr in dieses Haushaltswarengeschäft und war völlig überwältigt. Geradezu geblendet. Als der Typ dann auch noch anfing etwas von Elektrizitätsübertragung zu erzählen, war es um Christopher geschehen.«

»Elektrizitätsübertragung?«

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und seufzte ein bisschen. »Es hat irgendwas mit dem Erhitzungsvorgang zu tun«, erklärte sie. »Die Wärme steigt nicht einfach nur von unten nach oben, sondern umgibt, was immer man grillt, von allen Seiten. Das hat Christopher geködert. Der Typ hat es dauernd wiederholt wie ein Mantra. Die Hitze umgibt das Fleisch. Die Hitze umgibt das Fleisch.«

Ich gab ein amüsiertes Grunzen von mir. Sie warf mir einen Blick zu und lächelte vorsichtig; als müsste sie sich erst vergewissern, dass ich mich nicht über sie lustig machte. Und dann standen wir einträchtig nebeneinander, legten Hamburger und Hotdogs auf Teller, bis mir plötzlich auffiel, dass wir wahrscheinlich so aussahen, als würden wir uns gleich gegenseitig Freundschaftsbänder schenken. Das musste aufhören, und zwar schnell.

»Und wie erklären wir, warum das Menü in letzter Sekunde geändert wurde und es keine Steaks, sondern Hamburger und Hotdogs gibt?«, fragte ich.

»Weil die Steaks schlecht geworden sind«, meinte sie. »Ganz einfach, sie rochen komisch. Außerdem ist das hier der Klassiker. Hamburger und Hotdogs, amerikanischer geht es gar nicht. Deine Mutter wird begeistert sein.«

»Okay.« Ich griff mir den Teller mit den rohen Hamburgern, sie den anderen mit den Hotdogs sowie den Brötchen-Beutel. Ich folgte ihr zur Hintertür, ziemlich froh darüber, dass sie die Sache in die Hand nahm.

Wir waren schon fast durch die Tür, da drehte sie sich zu mir um und wies mit dem Kopf in Richtung Vorgarten. »Sieht aus, als käme da gerade dein Gast.«

Ich blickte durchs Fenster. Ja, es war Dexter. Kam den Bürgersteig entlanggeschlendert. Mit einer halben Stunde Verspätung. Er hielt eine Flasche Wein in der Hand (erstaunlich), trug Jeans und ein sauberes weißes T-Shirt (noch erstaunlicher). Außerdem hatte er Monkey an einer Leine bei sich. Vielmehr hatte Monkey Dexter bei sich. Der Hund zerrte mit hängender Zunge an der Leine und bewegte sich in einem Tempo, das angesichts seines vorgerückten Alters sehr beachtlich war.

»Nimmst du das schon mal mit?« Ich gab Jennifer Anne den Teller mit den rohen Hamburgern.

»Gern. Bis gleich.«

Ich ließ das Fliegengitter vor der Haustür hinter mir zufallen und ging die Auffahrt hinunter. Dexter band Monkey gerade an unserem Briefkasten fest. Er sprach mit dem Hund, als wäre er ein Mensch. Monkey hielt den Kopf schräg und hechelte immer noch mit hängender Zunge, hörte aber ansonsten aufmerksam zu und wartete anscheinend nur darauf, Dexter zu antworten. Auch wie ein Mensch.

»... vielleicht stehen die Leute hier nicht so auf Hunde, deshalb bleibst du erst mal hier, einverstanden?«, sagte Dexter gerade und machte erst einen, dann einen zweiten Knoten in die Leine, als besäße Monkey übernatürliche Kräfte. Dabei zitterte der arme Kerl schon vor Anstrengung, wenn er sich nur hinsetzte. »Und später suchen wir uns einen Teich, damit du schwimmen gehen kannst, oder – wenn uns nach was wirklich Verrücktem ist – wir fahren ein Stück mit dem Minibus durch die Gegend und du kannst dabei den Kopf aus dem Fenster halten, okay?«

Monkey hechelte und schloss die Augen. Dexter kraulte seine Schnauze. Als Monkey mich kommen hörte, machte er die Augen wieder auf und begann mit dem Schwanz zu wedeln ohne aufzustehen – ein dumpfes Klatschen auf dem Rasen.

»Hallo, tut mir Leid, dass ich so spät dran bin.« Dexter wandte sich zu mir um. »Der Monkster hier und ich hatten ein kleines Problem.«

»Ein Problem?« Ich hockte mich neben Monkey und ließ ihn an meiner Hand schnüffeln.

»Ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Der Job, die Gigs, du weißt schon«, antwortete Dexter. »Deshalb habe ich ihn ein bisschen vernachlässigt. Er ist einsam. Er kennt hier in der Gegend keine anderen Hunde, dabei ist er ein echt kommunikativer Typ. Früher hatte er einen riesigen Bekanntenkreis.«

Ich sah erst Dexter und dann Monkey an, der inzwischen dazu übergegangen war, an seinem Hinterbein rumzuknabbern. »Ich verstehe«, sagte ich.

»Als ich mich heute Nachmittag fertig machte, lief er ständig hinter mir her. Ein Bild des Jammers. Hat rumgewinselt und an meinen Schuhen gekratzt.« Er streichelte Monkey über den Kopf und zog ihn an den Ohren. So fest, dass es aussah, als müsste es tierisch wehtun. Aber der Hund schien es zu genießen, denn er schnurrte regelrecht. Ein leiser Glückslaut, der von tief innen aus seiner Kehle drang. »Er kann doch hier bleiben, oder?«, fragte Dexter und stand auf. Monkey wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz und stellte die Ohren hoch, so wie er es beim Klang von Dexters Stimme immer machte. »Er macht bestimmt keinen Ärger.«

»Kein Problem«, meinte ich. »Ich hole ihm eben Wasser.«

Dexter lächelte mich an, ein erfreutes, strahlendes Lächeln. Als hätte ich gerade etwas getan, das ihn überraschte. »Danke«, sagte er. Und dann, an Monkey gewandt: »Siehst du, ich hab’s dir gesagt. Sie mag dich.«

Aber diese Mitteilung schien Monkey nicht weiter zu beeindrucken. Er knabberte schon wieder an seinem Hinterbein rum. Ich holte etwas Wasser aus der Garage. Dexter überprüfte noch mal den Doppelknoten in der Leine. Dann gingen wir ums Haus herum in den Garten. Ich konnte die Hotdogs auf dem Grill bereits riechen.

Als wir zu den anderen stießen, unterhielt sich meine Mutter gerade angeregt mit Patty. Doch bei Dexters Anblick hörte sie sofort auf zu reden, legte theatralisch eine Hand auf die Brust – eine ihrer typischen Gesten – und rief: »Hallo, du bist bestimmt Dexter.«

»Ja.« Dexter nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und schüttelte sie.

»Aber ja – ich erkenne dich wieder, von der Hochzeit!«, sagte sie, als würde ihr das erst in diesem Moment bewusst, obwohl ich ihr die Zusammenhänge schon mindestens zweimal erklärt hatte. »Du singst wirklich großartig!«

Dexter wirkte erfreut und peinlich berührt zugleich. Meine Mutter hielt seine Hand noch immer in ihrer. »Das war eine tolle Hochzeit«, meinte er schließlich. »Noch mal herzlichen Glückwunsch.«

»Was möchtest du trinken?«, fragte meine Mutter und sah sich suchend nach mir um. Dabei stand ich zwischen ihr und Dexter. »Remy, Süße, besorgst du Dexter etwas zu trinken? Bier? Wein? Softdrink?«

»Bier wäre Klasse«, meinte Dexter.

»Im Kühlschrank ist noch jede Menge kaltes Bier, Schatz.« Meine Mutter legte eine Hand auf meinen Rücken und schob mich Richtung Küche. Gleichzeitig hängte sie sich bei Dexter ein und meinte: »Du musst unbedingt meinen Innenarchitekten Jorge kennen lernen, er ist brillant. Jorge! Komm her, ich möchte dir Remys neuen Freund vorstellen.«

Während meine Mutter weiterschnatterte und allen erzählte, wie großartig jeder im Umkreis von anderthalb Metern war, ging Jorge quer über den Rasen auf sie zu und ich begab mich in die Küche, um ein Bier für Dexter zu holen, als wäre ich eine Hausangestellte. Als ich mit dem Bier wieder in den Garten kam, stand Don bei den anderen. Man diskutierte, aus welchem unerfindlichen Grund auch immer, voller Eifer über Milwaukee.

»Ich hab’s noch nirgendwo so kalt erlebt wie da.« Don schmiss sich eine Hand voll importierter Nüsse in den Mund. »In weniger als fünf Minuten reißt einen der Wind buchstäblich in Stücke. Ist ganz schwierig da mit Autos, die überleben das Klima nicht. Salzschäden ohne Ende.«

»Der Schnee ist allerdings eins a«, meinte Dexter. Ich gab ihm sein Bier, wobei es ihm gelang, unauffällig meine Hand zu streicheln. »Und die Musikszene ist echt im Kommen. Noch in den Anfängen, aber das wird schon.«

Don machte ein abfälliges Gesicht und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Musikmachen ist kein richtiger Beruf. Bis letztes Jahr hat dieser Junge hier BWL studiert! An der Universität von Virginia!«

»Das ist ja interessant«, sagte meine Mutter. »Erklärt ihr mir noch mal, wie ihr verwandt seid?«

»Don ist der Schwager meines Vaters«, antwortete Dexter. »Also: Dons Schwester ist meine Tante.«

»Wie schön«, befand meine Mutter ein wenig zu überschwänglich. »Die Welt ist wirklich klein.«

»Er hatte sogar ein Vollstipendium.« Don ließ sich nicht abbringen. »Alles wäre bezahlt worden, das ganze Studium. Und was tut dieser junge Mann? Hört mittendrin auf, bricht seiner Mutter das Herz! Und weshalb? Wegen der Musik.«

Jetzt fiel nicht mal mehr meiner Mutter ein, was sie noch sagen könnte. Ich sah Don stumm an und fragte mich, woher dieser plötzliche Ausbruch kam. Vielleicht hatte er zu viele von den Gesundheit-garantiert-Dingern gekippt?

»Er ist ein großartiger Sänger«, sagte meine Mutter zu Jorge. Der nickte brav (das hatte er schon ein paarmal gehört). Don schien inzwischen an was anderes zu denken; er hielt seine leere Bierflasche in der Hand und starrte ins Leere. Ich schaute Dexter an und stutzte: So hatte ich ihn noch nie erlebt, beinahe schüchtern. Ihm schien ziemlich unbehaglich zu sein und offenbar war ihm seine Schlagfertigkeit urplötzlich abhanden gekommen. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, zupfte ein wenig dran und sah sich dann ziellos im Garten um, wobei er noch einen Schluck Bier trank.

»Komm, wir besorgen uns was zu essen.« Ich nahm seine Hand und zog ihn sanft mit mir zum Grill. Chris schien es Spaß zu machen, in den Hotdogs herumzustochern; endlich war er wieder in seinem Element.

»Weißt du was?«, sagte ich. Dexter sah mich fragend an. »Don ist ein Idiot.«

»Nein, ist er nicht.« Dexter lächelte, als wäre nichts gewesen, und legte mir einen Arm um die Schulter. »Jede Familie hat ein schwarzes Schaf. So ist das nun mal.«

»Wohl wahr«, meinte Chris und wendete einen Hamburger. »Wenigstens warst du nicht im Knast.«

Dexter trank einen großen Schluck Bier. »Nur ein Mal«, sagte er unbekümmert und zwinkerte mir zu. Es war vorbei. Er war wieder wie immer. Als wäre alles, was gerade passiert war, nur ein Witz gewesen. Ein Witz auf seine Kosten, der ihm nicht das Geringste auszumachen schien. Ich dagegen konnte nicht aufhören zu Don hinüberzustarren. In meinem Magen brannte es und mir wurde klar, dass da noch eine Rechnung offen war. Irgendwie kam mir Dexter echter, realer vor, seit ich ihn – und sei es nur für einen Moment – so still und zurückhaltend erlebt hatte. Als wäre er in diesen wenigen Augenblicken nicht nur eine flüchtige Sommerliebe gewesen. Als steckte mehr dahinter. Und ich tiefer drin, als ich dachte.

Der Rest des Nachmittags verlief ohne weitere Zwischenfälle. Die Hamburger und Hotdogs schmeckten allen (der teure Dip aus Oliven und getrockneten Tomaten hingegen erwies sich als wahrer Ladenhüter). Meine Mutter leckte sich sogar die Finger ab, nachdem sie ein zweites Stück von Jennifer Annes Schokocremetorte vertilgt hatte, inklusive eines ordentlichen Sahnespritzers aus der Dose. So viel zum Thema Gourmetküche.

Als es dämmerte, verabschiedeten sich die Gäste. Meine Mutter verzog sich mit der Begründung in ihr Zimmer, sie sei völlig erledigt; es ist ja auch sooo anstrengend, die Gastgeberin zu spielen, wenn man anderen den Hauptteil der Arbeit überlässt. Jennifer Anne, Chris, Dexter und ich sammelten also Geschirr ein und wickelten Essensreste in Folie, wobei wir allerdings das meiste von dem Gourmetzeug und die verbrannten Steaks wegschmissen. Bis auf eins, von dem die angekokelten Ränder abgeschnitten wurden – für Monkey.

»Er wird begeistert sein«, meinte Dexter, als Jennifer Anne ihm das Fleisch gab; sie hatte es ordentlich in Alufolie gepackt, die Ränder profimäßig zusammengefaltet. »Sonst kriegt der Gute nur Trockenfutter, deswegen ist so ein Leckerbissen für ihn wie Weihnachten.«

»Monkey – interessanter Name«, meinte sie.

»Ich hab ihn zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt bekommen.« Beim Sprechen warf Dexter einen Blick in unseren Vorgarten. »Ich hätte lieber einen Affen gehabt, deshalb war ich erst etwas enttäuscht. Es stellte sich allerdings heraus, dass er viel besser war als ein Affe. Die können nämlich richtig fies sein.«

Jennifer Anne warf ihm zunächst einen unergründlichen Blick zu, doch dann lächelte sie. »Das habe ich auch schon gehört«, meinte sie, nicht unfreundlich, und machte sich daran, das übrig gebliebene Pitabrot mit Plastikfolie zu bedecken.

Chris wischte die Küchentheke mit einem Schwamm ab und sagte zu Dexter: »Du musst unbedingt noch mit mir hochkommen und dir die ausgeschlüpften Warane anschauen. Die sind echt irre.«

»Klar.« Dexter klang aufrichtig begeistert. Dann sah er mich an: »Okay?«

»Sicher«, erwiderte ich. War ich seine Mami oder was? Die zwei polterten die Treppe hoch zur Waranenkammer.

Jennifer Anne, die gerade die Kühlschranktür zumachte, seufzte tief. »Dieses Hobby ... ich werde es nie begreifen. Ich meine, Hunde und Katzen kann man streicheln. Aber wer will schon mit einem Waran kuscheln?«

Auf die Frage fiel mir keine Antwort ein, deshalb sagte ich nichts, sondern zog den Stöpsel aus dem Spülbecken; gurgelnd lief das Wasser in den Abfluss. Von oben hörte man Kichern, Aaahs und Ooohs, gelegentlich ein schleifendes Geräusch, gefolgt von unbändigem Gelächter.

Jennifer Anne verdrehte die Augen gen Küchendecke; sie wirkte ziemlich genervt. »Sagst du Christopher bitte, ich bin im Wohnzimmer?« Sie schnappte sich ihre Handtasche, die sie auf der Anrichte neben ihrer gesäuberten und abgezählten Tupperware geparkt hatte, holte ein Buch raus und ging ins Nebenzimmer. Kurz darauf hörte ich, wie der Fernseher eingeschaltet wurde und leise vor sich hin murmelte.

Ich nahm das in Alufolie verpackte Steak, ging hinaus und schaltete das Verandalicht ein. Als ich durch unseren Vorgarten lief, stand Monkey auf und fing sofort an mit dem Schwanz zu wedeln.

»Hey du«, sagte ich. Er stupste mit der Schnauze gegen meine Hand und roch natürlich sofort das Steak. Also stupste er gleich noch einmal, kräftiger, und schnüffelte an meinen Fingern. »Ich hab was Feines für dich.«

Monkey verschlang das Steak in zwei Bissen und meinen kleinen Finger gleich mit, jedenfalls beinahe. Naja, es war auch schon ziemlich finster draußen. Als er fertig war, rülpste er und rollte sich zufrieden auf den Rücken, alle vier Pfoten in der Luft. Ich setzte mich neben ihn ins Gras.

Der Abend war sehr schön, nicht mehr so heiß. Klare Luft, perfektes Nationalfeiertagswetter. Ein paar Straßen weiter knallten ein paar Leute mit Feuerwerkskörpern rum. Monkey rollte und robbte dichter an mich ran, stieß auffordernd gegen meinen Ellbogen. Schließlich gab ich nach und kraulte das verfilzte Fell an seinem Bauch. Er musste dringend gebadet werden; außerdem hatte er Mundgeruch. Trotzdem war er irgendwie süß und fing vor Glück regelrecht an zu summen, während ich ihn streichelte.

So saßen wir eine Zeit lang da, bis die Haustür zufiel und Dexter meinen Namen rief. Kaum hörte Monkey seine Stimme, setzte er sich kerzengerade hin, stellte die Ohren auf, rappelte sich hoch und lief auf Dexter zu, bis die Leine straff gespannt war und er nicht weiter konnte.

»Hallo«, sagte Dexter. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, sah nur seine Silhouette im Gegenlicht der Verandalampe. Monkey bellte, als würde er ihn rufen, und wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass er aussah wie eine Windmühle. Wahrscheinlich schlug er sich gleich selbst k.o., so viel Power steckte in der Bewegung.

»Hallo«, antwortete ich. Dexter kam über den Rasen auf uns zu. Ich beobachtete Monkey, völlig fasziniert von der Begeisterung, mit der er Dexter erwartete. Sein ganzer Körper bebte vor Freude – und das, obwohl er den Menschen, der da auf ihn zulief, gerade mal ein, zwei Stunden nicht gesehen hatte. Wie es sich wohl anfühlte, wenn man jemanden so sehr liebte? So sehr, dass man schon ausflippte, wenn der andere sich nur näherte. Dass man sich am liebsten von allem, was einen zurückhielt, losgerissen und sich mit voller Wucht auf den anderen geschmissen hätte, so dass beide, völlig überwältigt von so viel Liebe, umfielen. Ich wusste nicht, wie sich das anfühlte. Monkey offensichtlich schon: Man konnte es nicht nur sehen, sondern auch spüren, es strahlte von ihm aus wie eine Wärmewelle. Beinahe beneidete ich ihn um das Gefühl. Beinahe.

 

Es war schon ziemlich spät, am selben Abend. Ich lag auf Dexters Bett, da schnappte er sich die Gitarre. Er würde nicht besonders gut spielen, meinte er, während er – ohne T-Shirt und barfuß – im Dunkeln nach den Saiten tastete, ein bisschen rumklimperte. Er spielte einen kleinen Riff, ein Beatles-Lied, dann ein Stück aus dem jüngsten Kartoffel-Song. Natürlich spielte er nicht so sicher wie Ted; seine Akkorde klangen, als wäre es purer Zufall, dass er die Töne überhaupt traf. Ich ließ mich in die Kissen sinken und hörte zu, wie er für mich sang. Ein bisschen dies, ein bisschen das. Nichts davon zu Ende. Und gerade, als ich dachte, ich würde gleich wegdämmern, spielte er etwas Neues.

»Ein Wiegenlied aus wenig Worten, aus ein paar einfachen Akkorden ...«

»Nein!« Ich setzte mich aufrecht hin. »Bitte nicht.«

Trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, wie überrascht er war. Er ließ die Hände von der Gitarre gleiten und sah mich an; hoffentlich konnte er mein Gesicht nicht erkennen. Bisher war zwischen uns alles spaßig und leicht gewesen. Abgesehen vielleicht von ein paar Momenten, in denen ich fürchtete die Sache könnte zu intensiv, die Gefühle zu tief werden. So dass ich Gefahr lief, darin zu ertrinken. So wie jetzt gerade. Aber noch konnte ich mich aus eigener Kraft aus dem Wasser ziehen. Und würde das auch konsequent tun!

In einem Anfall von Schwäche hatte ich ihm mal erzählt, was der Song für mich bedeutete. Es war ein Moment der Ehrlichkeit gewesen, der Herzensbeichten; normalerweise versuchte ich in meinen Beziehungen solche Momente zu vermeiden. Die Vergangenheit war tückisch, voller Landminen. In der Regel achtete ich sorgfältig darauf, einem Typen nicht zu viele Einzelheiten über mich mitzuteilen; auf der Landkarte, die ich von mir rausrückte, ließ ich absichtlich eine Menge weiße Flecken. Und dieser Song der Song – war einer der wichtigsten Schlüssel, die es zu mir gab. Wie ein wunder Punkt, ein Schnitt, der niemals richtig verheilte. Exakt an diesem Punkt würden sie angreifen und zuschlagen, wenn die Zeit gekommen war. Garantiert. Das wusste ich genau.

»Du willst das Lied nicht hören?«, fragte er.

»Nein, will ich nicht.«

Als ich es ihm erzählte, war er total verblüfft gewesen. Wir hatten gerade eine kleine Wette laufen, oder vielmehr ein Spielchen nach dem Motto: Rate mal, was du alles nicht über mich weißt und worauf du auch nie kommen würdest. Dabei fand ich heraus, dass er gegen Himbeeren allergisch war, sich im sechsten Schuljahr einen Vorderzahn ausgeschlagen hatte, als er gegen eine Parkbank raste, und dass seine erste Freundin eine entfernte Cousine von Elvis gewesen war. Ich hatte ihm verraten, dass ich mir beinahe – beinahe! – den Bauchnabel gepierct hätte, dann aber doch in Ohnmacht gefallen war; dass ich als Pfadfinderin einmal mehr Plätzchen für wohltätige Zwecke verkaufte als alle anderen aus meiner Gruppe. Und dass Thomas Custer mein Vater war, der Wiegenlied für mich komponiert hatte.

Natürlich kannte er den Song, summte sofort die Melodie. Er wusste sogar den Text auswendig. Sie hätten es ein paarmal auf Hochzeiten gespielt, erzählte er. Viele Bräute suchten sich das Lied aus, um mit ihrem Vater dazu zu tanzen. Mir kam das reichlich idiotisch vor, schließlich heißt es in dem Lied: Ich werde dich verlassen. Gleich in der ersten Strophe, unüberhörbar. Was für eine Art Vater ist das, der so was sagt? Natürlich hatte ich schon vor langer Zeit aufgehört diese Frage zu stellen.

Er zupfte immer noch probeweise die Akkorde vor sich hin, dort im Dunkeln.

»Dexter, lass das.«

»Warum hasst du dieses Lied?«

»Ich hasse es nicht. Ich finde bloß ... es steht mir einfach bis hier und Punkt.« Aber das stimmte nicht. Manchmal hasste ich das Lied tatsächlich. Weil es so verlogen war. Als hätte mein Vater es geschafft, sich mit ein paar Versen, die er in einem billigen Motelzimmer auf einen Zettel kritzelte, für sein mieses Verhalten zu entschuldigen. Es war ihm zu lästig gewesen, mich kennen zu lernen, geschweige denn sich um mich zu kümmern. Also schrieb er einen netten Song, den alle super fanden, und das war’s. Er lebte sieben Jahre lang mit meiner Mutter zusammen. Es waren größtenteils gute Jahre, bis zu ihrem allerletzten Krach, der dazu führte, dass er nach Kalifornien abhaute, als sie mit mir schwanger war – wobei sie das zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste. Zwei Jahre nach meiner Geburt starb er an einem Herzinfarkt. Er schaffte es nie, auch nur ein einziges Mal zurückzukommen, zu uns in den Osten, um mich zu sehen. Dieser Song war seine ultimative Beichte und ein sehr praktisches Selbstbekenntnis dazu. Denn da gestand er vor aller Welt, dass er mich im Stich gelassen hatte – wie überaus ehrenwert, nicht wahr? Wenigstens gesteht der Mann es ein, nicht wahr? Aber für mich war es so, als hätte er mich mit diesen Worten, die über seinen Tod hinaus existierten, k.o. geschlagen, bevor ich überhaupt mitkriegte, was abging. Ich dagegen – was konnte ich schon machen? Ich hatte ja nicht mal die Chance zu antworten. Er hatte sich alle Worte gegrabscht und mir keine gelassen, mit denen ich hätte widersprechen können.

Dexter spielte ziellos auf der Gitarre rum, keine zusammenhängenden Melodien, einfach nur vor sich hin. Er sagte: »Schon komisch – ich kenne den Song seit Ewigkeiten, wusste aber nie, dass er für dich geschrieben wurde.«

»Ist bloß ein Lied.« Ich fuhr mit meinem Finger die Konturen der Schneekugeln auf dem Fensterbrett nach. »Ich habe ihn nie kennen gelernt.«

»Schade. Ich wette, er war ein cooler Typ.«

»Vielleicht.« Es war ein seltsames Gefühl, über meinen Vater zu sprechen. Das war seit meinem sechsten Schuljahr nicht mehr vorgekommen. Damals hatte meine Mutter an die Psychotherapie geglaubt wie andere Menschen an Gott und uns alle mitgeschleppt, in Gruppen-, Einzel-, Maltherapie. Bis sie kein Geld mehr hatte.

»Es tut mir Leid«, meinte er sanft. Der Ton, in dem er das sagte, beunruhigte mich ziemlich – so ernst, fast feierlich. Als hätte er meine persönliche Landkarte entdeckt und wäre bereits gefährlich nah, würde den wunden Punkt immer mehr einkreisen.

»Alles halb so schlimm«, antwortete ich.

Er schwieg. Und plötzlich sah ich sein Gesicht wieder vor mir, heute Nachmittag beim Gartenfest, als ihn Dons Enthüllungen unvorbereitet getroffen und vorübergehend außer Gefecht gesetzt hatten. In dem Moment wirkte er plötzlich so verletzlich. Diese Verletzlichkeit verunsicherte mich, denn ich war einen anderen Dexter gewöhnt. Einen Dexter, den ich kannte und mochte, den reichlich dünnen, witzigen Typen, dessen Finger meinen Nacken berührten, leicht und trotzdem intensiv. In jenem Moment hatte ich eine andere Seite von ihm gesehen. Und in diesem Moment hätte er eine andere Seite von mir sehen können – wenn es im Zimmer heller gewesen wäre. Deshalb war ich dankbar für die Dunkelheit, wie schon so oft in meinem Leben.

Ich drehte mich auf die andere Seite, vergrub den Kopf im Kissen und hörte mir selbst beim Atmen zu. Ein leises Geräusch, als er die Gitarre abstellte und aufstand. Zu mir rüberkam. Seine Arme um mich legte, meinen Rücken mit seinem Körper umschlang. Sein Kopf an meinem Nacken. Er war mir nah, viel zu nah; aber vielleicht war das gar nicht schlecht. Denn ich war mir vollkommen sicher, dass genau dies ihn abschrecken würde. Je besser er mich kannte, umso leichter konnte ich ihn am Ende vertreiben.