5. Kapitel
Cameron Judges Miene verhieß nichts Gutes, als er quf den Empfang der Notaufnahme des Wicklow General Hospital zusteuerte.
»Was soll das heißen, Sie hatten ein Zimmer für sie, aber es ist mittlerweile anderweitig vergeben?«, schnauzte er die diensthabende junge Schwester an und schlug mit der Faust so fest auf die weiße Theke, dass die Ablagekörbe erzitterten. »Wer ist Ihr Vorgesetzter? Ich möchte mit jemandem sprechen, der hier das Sagen hat.« Sein Blick schweifte suchend durch den Raum.
»Es tut mir leid, Mr. Judge, Sir, aber wir dachten, die Dame, die vor einer halben Stunde eingeliefert wurde, wäre Mrs. Judge – Ihre Mutter, Sir.«
Wie konnte diese Bande von Schwachköpfen seine Mutter mit einer anderen Frau verwechselt haben, dachte Cameron aufgebracht. Er beugte sich über die Theke und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, doch seine agressive Körpersprache war unmissverständlich. »Muss ich Ihnen sagen, wer ich bin? Haben Sie eine Ahnung, welche Unsummen wir diesem... dieser Bruchbude von einem Krankenhaus im Laufe ichweißnichtwievieler Jahre schon gespendet haben? Es gibt sogar eine nach der Familie Judge benannte Station irgendwo in diesem...« Er bezwang sich gerade noch rechtzeitig. Beinahe hätte er ›in diesem Puff‹ gezischt.
Das Wicklow General Hospital galt als hochmodern. Innerhalb der letzten fünf Jahre war es umgebaut und erweitert worden, weil die Einwohnerzahl von Wicklow stark angestiegen war. Dank der Kreativität ihrer Buchhalter hatten die Judges sämtliche finanziellen Zuwendungen an das Krankenhaus als Spenden deklarieren und von der Steuer absetzen können, so hielten sich die Ausgaben in Grenzen. Cameron änderte seinen Kurs leicht.
»Ihnen ist schon klar, dass der Chauffeur des Ministers – Minister Bill Boggan, um genau zu sein – vom Auto aus bei Ihnen angerufen hat, um dafür zu sorgen, dass ein Zimmer für meine Mutter bereitgehalten wird?«
Das Mädchen an der Anmeldung war den Tränen nah. »Es tut mir sehr leid, Mr. Judge. Sowie ein Bett frei wird, geben wir es Ihrer Mutter.«
Cameron schnaubte gereizt und wandte sich ab. Diskussionen mit dieser dummen Gans führten zu nichts. Er würde sich an einen Arzt oder die Oberschwester wenden müssen.
James Judge und Gillian saßen im Wartebereich. Rose war jetzt bei vollem Bewusstsein, aber blass und schwach, und sie zitterte wie Espenlaub. Gillian hatte eine Decke aufgetrieben, die ältere Frau darin eingehüllt und einen Arm beschützend um sie gelegt. Sie vermutete, dass Camerons Mutter unter einem schweren Schock stand. Rose starrte stumm zu Boden. Ihre Augen blickten glasig, und trotz der Decke und Gillians Umarmung ebbte das Zittern nicht ab.
Und sie reagierte nicht, wenn man sie ansprach.
»Gibt es Probleme? Warum dauert das denn so lange?«, erkundigte sich James ungeduldig.
»Diese Idioten haben Mums Bett anderweitig vergeben. Der Himmel weiß, wie das passieren konnte, aber wir sitzen jetzt hier fest, bis ein anderes Bett frei wird. Jesus, was für ein Scheißtag!« Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar, wie er es immer tat, wenn er unter Druck stand.
Gillian versuchte zu vermitteln. »Hat Rose denn keinen Hausarzt, der uns weiterhelfen könnte?«
James zuckte die Achseln. »Sie ist normalerweise bei Paddy Ryan in Behandlung. Er war auch zur Hochzeit eingeladen, hat aber abgesagt, weil er verreisen musste.«
»Wo hält er sich zurzeit auf? Können wir ihn erreichen?« Cameron schöpfte neue Hoffnung.
»Ich habe keine Ahnung, wo er steckt, Sohn. Er ist auf einer dieser Vergnügungsreisen, die sich als Ärztekongresse tarnen. Wahrscheinlich in der Karibik oder im Fernen Osten.«
Plötzlich sah Cameron aus den Augenwinkeln heraus eine Frau aus einem Büro treten. Sie erregte seine Aufmerksamkeit, weil sie statt der üblichen weißen eine blaue Tracht trug. Das musste die Oberschwester sein. Er sprang auf. Wenn sie hier die Verantwortung trug, dann tat sie gut daran, schleunigst eine Lösung für dieses Problem zu finden. Judges hatten es nicht nötig, vor anderen zu kriechen – die Leute krochen für gewöhnlich vor den Judges. Vor Selbstbewusstsein strotzend durchquerte er mit langen Schritten die Notaufnahme, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er die Frau hinter der Oberschwester sah.
»Samantha!«, entfuhr es ihm.
Samantha blickte auf, die Oberschwester desgleichen.
»Cam, Gott sei Dank, dass du da bist!« Sie rannte auf ihn zu, um sich in seine Arme zu werfen, und zog dabei die Aufmerksamkeit aller anderen Patienten und deren Angehöriger auf sich. Cameron trug noch immer seinen formellen Cut, dazu schwarze Hosen mit hauchdünnen grauen Nadelstreifen und schwarzem Kummerbund; konservativ und klassisch elegant, wie es seinem Stil entsprach. Das einzige farbliche Zugeständnis an seinen Hochzeitstag bestand in einer Rose, die in seinem Knopfloch steckte. Der zarte Cremeton der Blüte passte genau zu Samanthas elfenbeinfarbenem Kleid.
Cameron wich ihrer Umarmung aus, indem er einen Schritt zur Seite trat, umschloss ihr Handgelenk mit seiner linken Hand und zog sie zur Seite, als wäre sie ein ungezogenes Kind, auf das eine saftige Strafpredigt wartet. Samantha zuckte angesichts dieser groben Behandlung merklich zusammen. Cameron wandte sich an die ältere Frau.
»Sind Sie die Oberschwester?«, fragte er, bemüht, all seinen Charme aufzubieten.
»Ganz recht. Und Sie sind...«
»Judge ist mein Name.« Er streckte ihr die rechte Hand hin. »Cameron Judge. Wir haben auf dem Weg zum Krankenhaus hier angerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass wir einen Notfall einliefern. Meine Mutter...« Er nickte über die Schulter hinweg zu James, Rose und Gilly hinüber. »Meine Mutter hat einen Schwächeanfall erlitten. Sie braucht sofort ärztliche Versorgung.«
»Ich fürchte, da ist es zu einer Verwechslung gekommen«, erwiderte die Oberschwester. »Wir hielten die Mutter dieser jungen Dame für Ihre Mutter, deswegen gaben wir ihr das für Mrs. Judge vorbereitete Zimmer.« Sie wandte sich ab, um zu Rose hinüberzugehen. »Keine Sorge, Mr. Judge, ich werde mich sofort um sie kümmern.«
Cameron rührte sich nicht vom Fleck. Er funkelte Samantha Unheil verkündend an. »Deine Mutter hat das für meine Mutter bestimmte Bett mit Beschlag belegt? Was für ein Spielchen spielst du hier eigentlich? Ich verlange augenblicklich eine Erklärung!«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, ich wusste ja noch nicht einmal, dass Rose krank geworden ist, Cameron.« Samantha versuchte, sich von ihm loszumachen, doch er verstärkte seinen Griff noch. »Wir mussten für Mum einen Krankenwagen rufen. Sie ist in eine Art Koma gefallen, und als wir hier ankamen, sagte man uns, wir würden schon erwartet. Ich dachte, einer der Sanitäter hätte die Notaufnahme verständigt.«
Cameron sprach nach wie vor sehr leise, trotzdem gelang es ihm, ihr die Worte wie Giftpfeile entgegenzuschleudern. »Das haben sie wohl auch getan. Aber hast du dich denn gar nicht gewundert, wieso einer abgewrackten alten Säuferin eine so bevorzugte Behandlung zuteil wird?« Der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Samantha sammelte ihre Kräfte, dann riss sie sich mit einem Ruck von ihm los. Er wollte ihr das Ganze offensichtlich so schwer wie möglich machen.
»Sprich nicht so abfällig von meiner Mutter. Sie ist krank, sie kann nichts dafür. Und was die Behandlung hier angeht – warum sollte ich mich darüber wundern? Als wir ankamen, fragte mich eine der Schwestern, ob ich von der Judge-Hochzeit käme, und ich sagte Ja. Was ja auch der Wahrheit entsprach, man braucht mich ja nur anzusehen.« Sie starrte ihn herausfordernd an.
Es war Cameron, der als Erster den Blick senkte, kehrtmachte und zu seiner Mutter, seinem Vater und Gillian zurückstapfte, ohne Samantha weiter zu beachten.
Samantha stand wie erstarrt mitten in der Notaufnahme. Rote Flecken loderten auf ihren Wangen. Sie spürte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren; wusste,was für einen jämmerlichen Anblick sie bieten musste. Ihre Frisur hatte sich fast vollständig gelöst, ihr Kleid war fleckig und zerknittert. Hatte sie sich ein paar Stunden zuvor noch wie Cinderella gefühlt, so war jetzt für sie ihre ganz persönliche Mitternachtsstunde verstrichen, dachte sie kläglich. Alle hier hatten mit angesehen, wie ihr Bräutigam sie einfach stehen gelassen hatte. Es kostete sie all ihre Willenskraft, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und flüchtete sich in den stillen kleinen Raum, in dem ihre Mutter untergebracht war.
Die Oberschwester untersuchte Rose Judge rasch, versicherte Cameron, dass sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, war aber wie er der Ansicht, sie müsse von einem Arzt gründlich durchgecheckt werden. Das Problem war, dass man kein Bett für sie hatte und Rose vielleicht mehrere Stunden warten musste, bis eines frei wurde.
Cameron schäumte vor Wut. »Sie haben dieser abgehalfterten alten Schabracke Ihr letztes verfügbares Bett gegeben und wollen mir jetzt weismachen, für meine Mutter wäre hier kein Platz mehr? Schwester, überlegen Sie sich gut, was Sie als Nächstes sagen!«
Der Panzer unerschütterlicher Gelassenheit der Oberschwester bekam Risse. Sie wusste, dass man sie für diesen Fehler zur Verantwortung ziehen würde. Wenn der Vorstand Wind davon bekam, würde sie schneller wieder Nachtschichten schieben müssen, als man das Wort ›Geldspende‹ aussprechen konnte.
»Ich könnte mich für Sie ans Telefon hängen«, erbot sie sich diensteifrig. »Vielleicht ist im Vincent’s Private in Dublin noch ein Privatzimmer zu haben. Um ehrlich zu sein, Mr. Judge...«, dies galt Cameron, »... das Zimmer Ihrer Schwieger... äh... dieser anderen Frau ist nicht viel größer als eine Besenkammer. Wir haben hier in der Notaufnahme keine Privatzimmer, und das Krankenhaus ist voll belegt – überbelegt, fürchte ich. Ich könnte veranlassen, dass Mrs. Judge jetzt gleich mit dem Notarztwagen ins Vincent’s gebracht wird. Ein paar Tage in einer Privatklinik würden ihr guttun. Sie braucht Ruhe... nach allem, was sie durchgemacht hat...« Sie wagte es nicht, direkt auf die offenbar überstürzt abgesagte Hochzeit anzuspielen, obwohl ihr die feierliche Kleidung aller Beteiligten und die feindselige Art, wie sie miteinander umgingen, deutlich verrieten, was geschehen sein musste.
Cameron funkelte sie finster an, sagte aber nichts, sondern hörte ruhig zu, was die Schwester als Zustimmung auffasste. »Ich werde sofort alles Nötige in die Wege leiten. Dauert nur ein paar Minuten«, fügte sie hinzu.
Zum Glück hatte das Vincent’s Private ein Zimmer für Mrs. Judge, das sofort zu ihrer Verfügung stand.
»Wollen Sie mit dem Krankenwagen fahren?«, fragte die Oberschwester James Judge. Dieser wollte das Angebot gerade annehmen, als Cameron einfiel, dass es sich um denselben Wagen handeln musste, mit dem Kathleen White oder Garcia oder wie immer sie sich auch zu nennen beliebte, hergebracht worden war. Rasch schnitt er seinem Vater das Wort ab.
»Danke, aber wir verfügen über unser eigenes Transportmittel«, erwiderte er frostig.»Teilen Sie dem Vincent’s Private nur mit, dass wir auf dem Weg zu ihnen sind, und versuchen Sie, diesmal keinen Mist zu bauen.« Sein Ton war so schneidend, dass Gillian sich innerlich krümmte.
Die Oberschwester wagte keinen Widerspruch mehr. »Ich muss mich noch einmal für diese peinliche Verwechslung entschuldigen«, stammelte sie. »Hätte ich Bescheid gewusst, hätte ich der Mutter Ihrer Braut niemals...« Sie brach ab, als Cameron sich abwandte, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
»Komm, Mum. Komm, Dad.« Zusammen mit Gillian half er seiner Mutter auf, dann kam ein Pfleger mit einem Rollstuhl herbeigeeilt, in dem Rose Platz nahm. Langsam schob Cameron seine Mutter ins Freie. Draußen vor dem Krankenhaus wartete Bill Boggans Dienstmercedes geduldig im absoluten Halteverbot.
Sowie seine Eltern im Wagen saßen, erklärte Cameron, kurz unter vier Augen mit Samantha sprechen zu müssen, lief ins Krankenhaus zurück und spähte in Kathleens Zimmer. Es gelang ihm, Samanthas Blick auf sich zu lenken. Sie sprach gerade mit einer Schwester, die Kathleen an verschiedene Schläuche und Geräte anschloss. Samantha nickte ihm zu, entschuldigte sich bei der Schwester und trat zu ihm auf den Gang hinaus.
Cameron setzte eine ernste, besorgte Miene auf und nahm ihre Hände sanft zwischen die seinen.
»Samantha, wir müssen reden.« Er lächelte ihr liebevoll zu. Cameron kannte seine Freundin. Er wusste, dass Aufrichtigkeit und Wärme die besten Mittel waren, um sie zu manipulieren. »Hast du eine Idee, was uns da heute eigentlich passiert ist?«
Samantha gab das Lächeln zurück; erleichtert, dass er sich ein wenig beruhigt zu haben schien. Sie wünschte sich nichts mehr, als diese unerfreuliche Angelegenheit aufzuklären und die Trauung nachzuholen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Man hat mir gesagt, dass die Unmenge von Alkohol in Mums Blut sie vorübergehend außer Gefecht gesetzt hat. Da sie gestürzt ist, wollen die Ärzte sie über Nacht hier behalten, um sicherzugehen, dass sie sich keine Gehirnerschütterung zugezogen hat. Mit anderen Worten«, sie seufzte tief. »Sie ist bald wieder auf dem Damm – wie immer.«
»Deine Mutter ist eine Pest auf zwei Beinen«, knurrte Cameron.
»Hey, ich hab sie mir nicht ausgesucht. Was soll ich denn machen?«
Cameron zwang sich zur Ruhe. »Ich weiß, ich weiß. Hör zu, wir müssen jetzt nach Dublin, obwohl ich glaube, dass Mum weiter nichts fehlt. Sie steht bloß unter Schock, aber wir lassen sie vorsichtshalber einmal von Kopf bis Fuß durchchecken.«
»Cam, das mit den vertauschten Betten tut mir wirklich leid. Ich habe nichts damit zu tun, das schwöre ich dir. Ich wusste noch nicht einmal, dass deine Mutter zusammengeklappt ist. Was ist denn mit ihr?«
»Sie ist ohnmächtig geworden. Ich sagte doch, sie hat einen Schock erlitten.«
»Großer Gott!«
Cameron rang sich ein Lächeln ab. »Wir fahren in Bill Boggans Dienstmercedes, also werden wir vermutlich einiges Aufsehen erregen.«
»Sprichst du von Minister Bill Boggan?«
»Von demselben.«
»Der kommt doch aus Süddublin, da seid ihr ja in seinem Wahlkreis.«
»Deshalb bin ich auch sicher, dass Mum sofort behandelt wird«, nickte Cameron zuversichtlich.
»Mag sein, aber ihr werdet auch bald die Presse am Hals haben.«
Camerons Gesicht umwölkte sich ärgerlich. »Hör mal, Sam, was meinst du, wann du mit deiner Mutter vernünftig reden und sie dazu bringen kannst, den Unsinn zurückzunehmen, den sie geredet hat?«
»Wie meinst du das?«
Offenbar brauchte Sam ein bisschen Zuspruch. »Ganz ehrlich, so einen Quatsch habe ich wirklich noch nie gehört. Sorg dafür, dass sie sich in aller Öffentlichkeit entschuldigt, dann können wir die Sache ad acta legen.«
»Kannst du mir vielleicht mal erklären, wovon du eigentlich redest, Cameron?« Samantha witterte weitere Probleme.
»Nun, was sie in der Kirche von sich gegeben hat, das grenzt schon an üble Nachrede. Unser guter Name könnte Schaden nehmen. Versteh mich richtig, ich spreche jetzt nicht nur von dir und mir, sondern auch vom Rest meiner Familie. Ich habe noch zwei Schwestern, vergiss das nicht. Wenn wir es zu einem Skandal kommen lassen, werden auch Stephanie und Caroline da mit hineingezogen – von Mum und Dad ganz zu schweigen.«
Samantha spürte, wie das Blut in ihren Ohren zu rauschen begann. Sie wollte ihn unterbrechen, aber Cam war nicht zu bremsen.
»Unser Name ist unser Kapital. Ich meine, Judge ist der irische Begriff für Whiskey. Wenn unser Familienname in den Schmutz gezogen wird, ist das Gift für das Geschäft!«
»Ich brauche keine Lektion in Wirtschaftswissenschaften, Cameron«, hielt sie ihm so ruhig wie möglich entgegen.
»Okay, okay, aber du begreifst doch sicher, worauf es ankommt, Samantha. Wir sind auf das Vertrauen der Öffentlichkeit angewiesen.« Samantha sah ihm an, dass er zu einem längeren Vortrag ansetzen wollte, und trat rasch einen Schritt zurück.
»Ich rufe dich an, wenn ich etwas Neues erfahre«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Cameron wusste, dass er sich auf der Verliererstrecke befand – sein Charme prallte wirkungslos an ihr ab. Vielleicht konnte er später im Bett einen Sinneswandel herbeiführen. »Wir sehen uns dann später im Rathnew Manor, nehme ich an.«
»Wohl kaum. Ich kann meine Mutter jetzt nicht allein lassen.«
»Wo ist denn Ricky?«
»Irgendwo in der Nähe. Vermutlich in der Kantine, um einen Kaffee zu trinken, aber ich bleibe trotzdem bei Mum.«
»Himmel, Sam, irgendwann musst doch auch du einmal schlafen.«
»Schlafen schon, aber mit Sicherheit nicht mit dir, falls du darauf aus bist. Nicht nach dem, was Mum über uns gesagt hat. Was, wenn das wahr ist, Cam?«
»Nichts davon ist wahr. Trinkerinnen reden im Suff viel dummes Zeug, Sam.«
»Aber sie müssen nicht zwingenderweise immer lügen.« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen, verschwand im Zimmer ihrer Mutter und zog die Tür hinter sich zu, womit ihm der Zutritt verwehrt war.
Cameron starrte auf die ins Schloss gefallene Tür. Miststück, dachte er erbittert, als er sich abwandte und zum Auto zurückging.
 
Die Fahrt nach Dublin war eine einzige Katastrophe. Camerons üble Laune verschlechterte sich zusehends. Er blaffte seinen Vater an, weil dieser sich trotz des schlechten Befindens seiner Frau eine Zigarette angesteckt hatte, und riss der armen Gillian fast den Kopf ab, als sie eine Bemerkung über das miserable Wetter machte. Dann brüllte er den Chauffeur John an, weil der beinahe die Einfahrt zum Vincent’s Private verpasst hätte. Als sie endlich vor dem Krankenhaus hielten, befahl Cameron John, James zu helfen, Rose zur Aufnahme zu bringen.
»Ich muss über Schadensbegrenzung nachdenken«, erklärte er. »Oh, und kann ich mir Ihr Handy ausborgen, John?«
Der Chauffeur war heilfroh, den Launen des jungen Judge zumindest eine Weile lang nicht ausgesetzt zu sein, selbst wenn das hieß, dass er dem Schnösel sein Handy leihen musste. Der Kerl ging ihm gewaltig auf die Nerven.
 
Paul traf gerade mit Wendy beim Wicklow General ein, als sein Telefon klingelte. Er schickte Wendy los, um Samantha zu suchen, dann nahm er den Anruf entgegen.
»Ja?«, meldete er sich.
»Paul, wo zum Teufel stecken Sie?«, donnerte Cameron Judge am anderen Ende der Leitung.
»Hi, Cameron. Ich habe gerade Wendy zu Samantha und ihrer Mutter gefahren. Ich stehe vor dem Wicklow General.«
»Was soll das Theater? Die dämliche Kuh ist bloß stinkbesoffen, sonst nichts!«
Paul hielt es für ratsam, Camerons Wutausbruch schweigend über sich ergehen zu lassen.
»Ich will doch sehr hoffen, dass Sie auf unserer Seite und nicht auf der dieser wandelnden Schnapsflasche und ihrer Tochter stehen«, giftete Cameron weiter.
»Tut mir leid, Cameron, aber ich dachte, Samantha würde jetzt zur Familie Judge gehören«, gab Paul kühl zurück. Er war zu alt, um sich solchen Scheiß bieten zu lassen. »Und ich hätte eigentlich erwartet, Sie ebenfalls hier zu sehen. Wo sind Sie denn? Soll ich Sie abholen?«
»Nicht nötig. Ich bin mit Bill Boggans Dienstwagen unterwegs und habe Mum gerade ins Vincent’s Private gebracht. Lassen Sie Ihr Handy eingeschaltet. Ich rufe Sie an, wenn und wann ich Sie brauche. Kapiert?«
Warum arbeite ich bloß für diesen Typen?, fragte Paul sich nicht zum ersten Mal. Er kann seinem Vater auch nicht annähernd das Wasser reichen. In diesem Moment keimten erstmals Zweifel an Camerons Abstammung in ihm auf. Konnte es sein, dass die alte Lady die Wahrheit gesagt hatte? Eigentlich hielt er das für unwahrscheinlich.
Als er sein Handy zuklappte, öffnete der Himmel plötzlich seine Schleusen, und es begann wie aus Eimern zu schütten. Wendy kam gerade aus dem Krankenhaus, einen Arm um die schluchzende Samantha White gelegt. Die Braut schien den Regen, der auf sie niederpladderte, gar nicht wahrzunehmen. Sie zitterte am ganzen Leib und hatte beide Arme um den schmalen Oberkörper geschlungen, um sich zu wärmen. Pauls Herz flog ihr zu. Nein, entschied er, dieses Mädchen kann unmöglich mit dem Dreckskerl eben am Telefon verwandt sein.
 
Cameron kochte vor Zorn.
»Nutzloses, unfähiges Arschloch!«, schnarrte er.
»Von wem sprichst du?«, wollte Gillian wissen. James hatte vorgeschlagen, dass sie Cameron im Wagen Gesellschaft leistete, während er Rose in ihrem Zimmer unterbrachte.
»Unserem Chauffeur Paul. Er ist im Wicklow General. Hat Wendy zu Samantha gefahren, kannst du dir das vorstellen? Ich meine, wer zahlt ihm eigentlich sein Gehalt?«
»Wie weit bist du mit Samantha gekommen?«, erkundigte sich Gillian vorsichtig.
»Sie ist stur wie ein Maulesel«, grollte Cameron.
»Macht sie Schwierigkeiten?«Gillian Johnston rutschte auf der Rückbank des Wagens näher an ihn heran.
»Du wirst es nicht glauben, aber sie nimmt den Quatsch, den ihre Mutter erzählt hat, doch tatsächlich für bare Münze. Sie bleibt heute Nacht bei ihr im Krankenhaus.«
»Das halte ich für vollkommen überflüssig, ihre Mum kriegt ja doch nichts mit«, flüsterte Gillian ihm ins Ohr. Es war niemand da, der sie hätte hören können, aber sie nutzte die Gelegenheit, sich enger an ihn zu kuscheln. Spielerisch fuhr sie mit der Zungenspitze über den äußeren Rand seines Ohres, ehe sie fortfuhr: »Wenn sie wirklich dort bleibt, kann ich ja bei dir in der Hochzeitssuite schlafen. Die Nacht wird sogar noch besser werden als die letzte, das verspreche ich dir«, schnurrte sie.
In dem Blick, mit dem Cameron sie maß, schwang ein leiser Anflug von Verachtung mit.
»Ahnt Samantha eigentlich, dass du keine annähernd so gute Freundin bist, wie sie glaubt?«
»Was redest du denn da? Immerhin habe ich mich ja ihr zuliebe in diesen Fummel geworfen, oder nicht?« Angewidert zupfte sie an ihrem Rock herum. »Scheußlich, findest du nicht?«
»Du hast fantastisch ausgesehen, als du den Gang entlanggekommen bist.«
Gillians Augen leuchteten auf. »Wirklich?«
»Wenn ich es sage. Die arme Samantha dachte, ich hätte mich ihretwegen umgedreht, aber ich hatte nur Augen für dich. Deine Kurven reizen mich viel mehr als Samanthas Klappergestell. Sie besteht ja nur aus Haut und Knochen.«
Gillian sog die Worte auf wie ein Schwamm, dabei legte sie eine Hand auf seinen Schoß und begann, die Innenseite seiner Schenkel zu streicheln.
»Fang jetzt nichts an, was du nicht auch zu Ende bringen willst«, mahnte er mit einem lüsternen Grinsen.
»Warum heiratest du denn Samantha, wenn du mich liebst und nicht sie?«, fragte Gillian wohl zum hundertsten Mal.
»Schätzchen, das Thema haben wir nun wirklich oft genug durchgekaut. Du weißt, dass ich keine andere Wahl habe. Es geht ums Geschäft. Dank Daddys haarsträubendem Mangel an Voraussicht und Sams Verhandlungsgeschick besitzt sie einen ziemlich großen Anteil der Aktien unseres neuen Spitzenproduktes – Gracias. Es war ihre Idee, die ausgemusterten Destilliergeräte von Judges Whiskey anderweitig zu nutzen. Dad wollte sie einfach verkaufen, aber sie überredete ihn, ihr die Dinger zu überlassen, weil sie versuchen wollte, ein neues Getränk herzustellen. Gracias ist nichts anderes als gefärbter und mit Geschmacksstoffen versetzter Alkohol. Der Geniestreich besteht in der Vermarktung des Zeugs. Samantha hat das Konzept entwickelt, das Logo entworfen – wenn auch mit meiner Hilfe -, und die gesamte Fiesta-Kampagne ist fast ausschließlich von ihr ausgearbeitet worden. Keiner hätte damals ahnen können, was für ein Verkaufsschlager Gracias wird. Die Frau vertreibt Glück in Flaschen, sie hat da eine echte Marktlücke entdeckt.«
»Aber eure Whiskeys bringen doch bestimmt viel mehr Profit.« Gillian war noch nicht überzeugt.
Cameron schüttelte den Kopf. »Diese Alcopops finden reißenden Absatz. Wir kommen mit der Produktion kaum nach, und wir sparen die Reifezeit, die ein guter Whiskey benötigt. Himmel, wir halten quasi eine Lizenz zum Gelddrucken in den Händen.« Er zog seinen Reißverschluss herunter und legte ihre Hand auf sein steifes Glied. »Du weißt so gut wie ich... o ja, das ist gut… dass das ganze Gracias-Geschäft auf Judges Whiskey aufgebaut ist – es ist Judges Baby, verdammt noch mal. Das Problem besteht darin, dass Samantha ein zu großes Aktienpaket besitzt. Sie zu heiraten ist der einfachste Weg, beide Geschäftszweige wieder zu vereinen.«
»Was, wenn sie gegen diese Vereinigung ist?« Gillian betonte das Wort ›Vereinigung‹ genüsslich, dabei fuhr sie mit dem Zeigefinger über seinen Penis.
Cameron sah sie überrascht an. »Warum sollte sie? Die Grundidee einer Ehe besteht darin, alles miteinander zu teilen.« Was er verschwieg, war, dass Gracias’ Beliebtheit wuchs, während die Umsätze von Judges Whiskey zum ersten Mal überhaupt zurückgingen. Noch befand sich das Unternehmen nicht in Bedrängnis, doch die dreißig Prozent der Gracias-Aktien, die er und seine Familie hielten, warfen jetzt schon fast so viel Gewinn ab wie ein paar ihrer unbedeutenderen Whiskeymarken. Und der Trend zeigte weiter nach oben.
Die Hauptsorge von Cameron, den Wirtschaftsprüfern von Judges Whiskey und vor allem von seiner Mutter Rose galt dem Umstand, dass die Familie dreißig, Samantha aber einunddreißig Prozent der Gracias-Aktien besaß. Sie war clever genug gewesen, mit James Judge über ihren Anteil zu verhandeln, als die Aktien praktisch wertlos gewesen waren. Der alte Herr hatte die Ansicht vertreten, null Prozent von Nichts ergäben Nichts, und hatte sich daher entschieden zu großzügig gezeigt. Jetzt war es an Cameron zu retten, was noch zu retten war. Samantha hatte das Geschäft mit einem Risikokapitalgeber finanziert, der die restlichen neununddreißig Prozent des Aktienpaketes übernommen hatte. Die traurige Realität sah nun so aus, dass Sam die Kontrolle über Gracias übernehmen konnte, wenn sie sich mit dem Investor zusammentat. Dieses Risiko musste unbedingt ausgeschaltet werden.
Gillian hegte immer noch Zweifel. »Weißt du, Cam, in mancher Hinsicht ist Sam komisch. Sie hat hart gearbeitet, um Gracias zu dem zu machen, was es jetzt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dir ihre Anteile so mir nichts dir nichts überlässt. Sie hat ein gutes Köpfchen für Geschäfte.«
»Wie wär’s, wenn du jetzt mal dein Köpfchen einsetzt und mich das ganze Elend eine Weile vergessen lässt?« Cameron vergrub die Hand in ihrer kastanienbraunen Mähne, und als Gillian sich ans Werk machte, lehnte er sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Er würde auf keinen Fall zulassen, dass Samantha White Gracias behielt. Die langhalsigen Flaschen wurden in der Werbung als lateinamerikanischer Fundrink angepriesen. Abend für Abend floss das Gebräu durch Tausende und Abertausende durstiger Kehlen, und niemand schien groß darüber nachzudenken, dass es in der alten Judge-Brennerei in Fiddler’s Point hergestellt wurde.
Gracias ist rechtmäßig mein Eigentum, dachte Cameron grimmig, doch Gillian besänftigte seinen Zorn bald. Sie wusste ihre Zunge wirklich gut zu gebrauchen, das hatte sie ihm schon öfter bewiesen. Zum Glück hatte der Mercedes getönte Scheiben, so blieb Cameron noch genug Zeit, seinen Reißverschluss hochzuziehen, bevor der Chauffeur John die Tür aufriss.
»Mr. Judge, Sir, Ihre Mutter hat ein Privatzimmer bezogen, sie wird gut versorgt. Ihr Vater hat mich gebeten, Sie zu holen. Mrs. Judge möchte Sie sehen.«
»Ich komme sofort. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.« Cameron stieg aus dem Wagen, während Gillian versuchte, ihre Frisur zu richten, so gut es ohne Kamm und Spiegel ging.
»Wo soll John dich absetzen, Gill?«, fragte Cameron sie so höflich, als wäre sie nichts anderes als eine gute Freundin für ihn. Das war etwas, was Gillian auf die Palme brachte: Er forderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, wann immer es ihm in den Kram passte, aber ansonsten behandelte er sie einfach wie eine von Samanthas Freundinnen. Nun, das würde sich bald ändern. Wenn Samantha ihn nicht heiraten wollte oder konnte, würde sie, Gillian Johnston, nur allzu gern ihren Platz einnehmen. Und sie wusste auch schon, wie sich dies bewerkstelligen ließ.
»Vor dem Rathnew Manor bitte.« Sie schenkte Cameron ein warmes Lächeln. »Sehen wir uns später noch?«, fragte sie obenhin.
»Mal sehen.« Er zwinkerte ihr zu, als er die Tür schloss. Gillian betätigte den elektrischen Fensterheber und ließ die Scheibe herunter. Sie hatte ihm noch etwas zu sagen.
»Ich muss dir unbedingt noch dein Geburtstagsgeschenk geben.«
Seine Augen leuchteten auf. »Ich dachte, das hättest du gerade getan?«
Gillian fuhr sich lockend mit der Zungenspitze über die Lippen. »Das war nur der Vorgeschmack auf das, was noch kommt.«
John hüstelte und unterbrach so den kleinen Flirt, der sich zwischen den beiden abzuspielen schien. »Soll ich Sie und Ihren Vater später hier abholen?«, fragte er.
»Nicht nötig, ich werde den Hubschrauber rufen.« Cameron lächelte dem Chauffeur freundlich zu. »Er kann auf dem Heliport des Krankenhauses landen.« Dann schüttelte er John die Hand und steckte ihm zwei Hunderteuroscheine zu. »Nochmals vielen Dank, John, Sie haben mir sehr geholfen. Ein wirklich schönes Auto haben Sie da. Sehr bequeme Rückbank.«
Der Chauffeur grinste breit. Für zweihundert Euro verzieh er so manche rüde Bemerkung. Er warf sich in die Brust, als wäre der Mercedes sein persönliches Eigentum.
»Danke, Sir. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«
»Nicht doch.« Cameron bedachte ihn mit seinem ansteckendsten Lächeln. »Die Freude war ganz meinerseits.«
Zurueck ins Glueck
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