22. Kapitel
Samantha war erleichtert, als Pablo darauf
bestand, dass sie zu ihnen kommen und in ihrem Haus wohnen sollte.
»Ihr« hieß sein und Pedros Haus. Pablo erklärte, dass sie beide
zusammen in einem kleinen Haus ein paar Kilometer außerhalb von
Haro wohnten. Er hatte Pedro angewiesen, sich zu ihr ins Auto zu
setzen, damit sie sich nicht verfuhr.
Samantha musste zuerst noch zum Hotel zurück, um
ihren Koffer zu holen. Der Mann an der Rezeption versuchte, ihr den
vollen Zimmerpreis zu berechnen, obwohl sie den Raum nur ein paar
Stunden belegt hatte. Pedro griff ein, und letztendlich wechselte
überhaupt kein Geld den Besitzer.
»Danke«, sagte Samantha leise, als sie die Autotür
öffnete. Pedro zuckte nur die Achseln, warf ihren Koffer in den
Kofferraum und schlug die Klappe zu. Der Knall ließ sie
zusammenzucken. Sie fühlte sich in Pedros Gegenwart mehr als nur
ein wenig befangen. Er stieg ein und bedeutete ihr, den Wagen zu
wenden, so interpretierte sie es jedenfalls. Offenbar mussten sie
in die entgegengesetzte Richtung. Sie nickte zum Zeichen, dass sie
verstanden hatte, und machte sich daran, den Wagen in der schmalen
Straße zurückzusetzen. Als sie sich mitten auf der Fahrbahn befand,
ertönte plötzlich ein lautes, zorniges Hupen, und sie schrak erneut
zusammen.
»Ayeee!« Pedro winkte dem anderen Fahrer zu.
»Diese Straße, sie ist... wie sagt ihr... es geht nur hier lang.«
Er zeigte in die Fahrtrichtung, in der sie anfangs geparkt
hatte.
»Du meinst, das ist eine Einbahnstraße?«,
vergewisserte sich Samantha nervös. »Fantastisch! Ich versuche
gerade, in einer Einbahnstraße zu wenden? Wirklich einmalig!«
Nachdem sie erneut geschaltet und einmal den Motor abgewürgt hatte,
fuhr sie am ganzen Leib zitternd los. Er hat das mit Absicht
gemacht, dachte sie verzagt. Er mag mich nicht, und wer kann ihm
das verübeln? Da tauche ich plötzlich aus dem Nichts auf und erhebe
Ansprüche auf seinen Vater – mein Gott, seinen Vater. Doch
dann mahnte sie sich nachdrücklich, dass zwischen ihr und Pablo ja
gar keine Blutsverwandtschaft bestand. Sie war so daran gewöhnt,
ihn als ihren Vater zu betrachten – auch wenn er in ihrem Leben
keine große Rolle gespielt hatte -, dass es ihr schwerfiel, sich
von dieser Vorstellung zu lösen. Doch die traurige Wahrheit
lautete, dass das Einzige, was sie mit Pablo Garcia verband, der
Umstand war, dass er sich während ihrer ersten Lebensjahre wie ein
Vater um sie gekümmert hatte. Im Grunde genommen ist er ein Fremder
für mich, dachte sie bedrückt, während sie weiterfuhr und darauf
wartete, dass Pedro ihr den Weg wies.
»Okay, jetzt musst du hier entlang.« Er deutete
nach rechts. In seiner tiefen Stimme klang keine Spur von Wärme
oder Freundlichkeit. Samantha bog rechts ab und stellte fest, dass
sie sich offensichtlich auf einer Umgehungsstraße befanden, die um
die kleine Stadt Haro herumführte.
Die Innenstadt schien sehr alt zu sein; die Straßen
waren
unglaublich schmal und die Gebäude, die aussahen, als stammten sie
noch aus dem Mittelalter, rangen um jeden Zentimeter Platz
miteinander. Sie befanden sich jetzt auf einer schönen, von Bäumen
gesäumten Allee und...
»Pass doch auf!«, riss Pedros erschrockene Stimme
sie aus ihren Gedanken. Er griff ihr ins Lenkrad und riss es herum,
um den Wagen wieder auf die rechte Straßenseite zu steuern. »Hier
gibt es Gegenverkehr«, erklärte er.
Samantha hatte die entgegenkommenden Fahrzeuge gar
nicht bewusst wahrgenommen, so versunken war sie in ihre Umgebung
gewesen.
»Entschuldige, ich hatte völlig vergessen, dass
hier Rechtsverkehr herrscht. Als ich rechts abgebogen bin, bin ich
rein gewohnheitsmäßig auf die linke Spur hinübergezogen. Auf der
Fahrt von Madrid hierher hatte ich keine Probleme, ich bin ja nur
Autobahn gefahren.« Sie schielte zu Pedro hinüber; machte sich auf
einen tadelnden Blick gefasst, aber er grinste sie nur an.
»Frauen am Steuer«, feixte er. »Möchtest du, dass
ich fahre? Du bist müde, nicht wahr?«
»Todmüde sogar.«
Erleichtert, dass ihr die Zügel aus der Hand
genommen wurden, sprang Samantha aus dem Auto und lief um die
Motorhaube herum, um auf den Beifahrersitz zu rutschen. Pedro tat
es ihr nach, nur ging er um das Heck des Wagens herum. Er mied sie
ganz bewusst, so viel stand fest – und sie konnte ihm keinen
Vorwurf daraus machen. Sie war ein unerwünschter Eindringling in
seinem Leben und noch dazu einer, der ihn soeben dank seiner
riskanten Fahrweise beinahe umgebracht hätte.
Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere
Zwischenfälle.
Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt bog Pedro
links in eine unbefestigte Straße ein und gelangte wenig später an
ein Tor. Es stand offen, auf dem daneben angebrachten Briefkasten
prangten die Worte Casa Garcia. Samantha sah Pedro fragend
an.
»Heißt das ›Haus der Garcias‹?«
Er nickte so knapp, dass es schon fast feindselig
wirkte, was sie als ein Ja wertete.
Der Weg, den sie jetzt entlangfuhren, wand sich
weit in das Land hinein. Zu beiden Seiten waren hohe, mit Reben
bepflanzte Erdwälle aufgeschüttet, die den Blick auf die Landschaft
versperrten. Der Weg beschrieb eine Rechtskurve. Noch immer konnte
Samantha nicht sehen, was vor ihnen lag.
»So viele Trauben«, staunte sie in dem
verzweifelten Versuch, Konversation zu betreiben, und zeigte auf
die Reben, die auf den Wällen wuchsen. Als Pedro weder eine Antwort
gab noch sonst eine Reaktion zeigte, schoss ihr das Blut in die
Wangen. Wie hatte sie nur so etwas Dummes sagen können? Natürlich
gab es hier überall Trauben. Sie wusste ja, dass Pablo Wein
anbaute.
»Wann müssen sie denn geerntet werden?«, fragte
sie.
»Bald«, entgegnete er wenig hilfreich.
Der Mann war ein ungehobelter Klotz und ihre
Bemühungen nicht wert, entschied sie grimmig, während der kleine
Wagen durch zahlreiche Schlaglöcher rumpelte. Kurz darauf bogen sie
um eine weitere Kurve, die Erdwälle fielen ab, und vor ihr
erstreckte sich flaches Gelände, auf dem ein wunderschönes Landhaus
stand.
Der Weg endete vor dem Haus in einer Art Parkplatz,
der nur aus fest gestampfter ausgedörrter Erde bestand. Der Boden
wies dieselbe hellrötliche Farbe auf wie die
Dachziegel des Gebäudes, stellte Samantha interessiert fest. Das
Haus war größer, als sie erwartet hatte, die Wände waren aus
braunem Granit gemauert, die hölzernen Fensterrahmen und Läden
dunkelgrün gestrichen. Einen Garten gab es nicht, nur ein paar
trockene Grasbüschel rund um den Parkplatz und ein paar Schatten
spendende alte Pinien. Erst als sie aus dem Auto stieg, bemerkte
sie, dass ringsum Reben wuchsen, so weit das Auge reichte – üppige
grüne, mit saftigen reifen Trauben behangene Weinstöcke.
Pablo kam aus der Tür, um sie in Empfang zu
nehmen.
»Wo wart ihr denn so lange? Hast du dich doch
verfahren, mi cosa guapa?«
Samantha schenkte dem Mann, der sich für ihren
Vater hielt, ein scheues Lächeln. »Was heißt ›cosa
guapa‹?«
Er zwinkerte ihr zu. »Hübsches Ding.«
Samantha errötete leicht. »Pedro hat mich am Steuer
abgelöst. Ich kann mir noch nicht merken, auf welcher Straßenseite
ich fahren muss.«
Pablo trat lachend zu ihr. »Du wirst dich daran
gewöhnen, Sami. Du wirst dich daran gewöhnen.« Er umarmte sie und
küsste sie auf die Wange. »Willkommen in unserem Heim. Komm herein,
ich zeige dir, wo du schläfst. Bist du sehr müde? Möchtest du dich
ein bisschen hinlegen?«
Samantha sah ängstlich zu Pedro hinüber, der gerade
ihren Koffer aus dem Auto holte.
»Ich hoffe, ich vertreibe niemanden aus seinem
Zimmer. Ich möchte wirklich nicht stören...«
Pablo folgte ihrem Blick, verstand sofort und rief
Pedro zu: »Wir freuen uns, Sami bei uns zu haben, nicht
wahr, Pedro?« Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Es war mehr ein
Befehl als eine Frage.
Pedro hob den Kopf und rang sich ein unglaublich
gequältes Lächeln ab. »Seguro que si«, erwiderte er, dann
trug er den Koffer ins Haus.
»Das hieß ja«, raunte Pablo ihr zu, als sie Pedro
folgten. Sowie der jüngere Mann im Haus verschwunden war, legte
Pablo Samantha väterlich einen Arm um die Schultern und fuhr fort:
»Du darfst es ihm nicht übel nehmen – er ist nicht an Gesellschaft
gewöhnt. Wir leben hier sehr zurückgezogen und bekommen selten
Besuch.« Dann lachte er. »Ich glaube, du bist sogar der erste Gast,
den wir je hatten. Pedro ist ein Einzelkind, seine Mutter starb,
als er ein Baby war, daher fühlt er sich in Gegenwart von Frauen
unbehaglich. Du musst ihm Zeit lassen.«
Samantha dachte daran, wie unbekümmert derselbe
junge Mann mit dem Barmädchen in Haro geschäkert hatte, behielt
dies jedoch für sich. Wenn Pablo Pedro durch eine leicht rosarot
getönte Brille sah, wollte sie ihm seine Illusionen nicht
rauben.
»Schön hast du es hier, Pablo. Deine Weinreben
sehen wirklich gut aus.«
»Gut?« Pablos Brauen verschwanden fast unter seiner
Baseballkappe. »Gut?«, wiederholte er ungläubig. »Diese Reben sehen
nicht gut aus, sie sind perfecto, lucido – wie würdest du
sagen? – sie sind einmalig, lassen sich mit keinen anderen
vergleichen. Jeder hier in La Rioja weiß, dass Pablo Garcia«, er
schlug sich stolz auf die Brust, »yo – ich – dass der beste,
süßeste und süffigste Wein in ganz Spanien aus Pablos Trauben
gemacht wird!«
Samantha biss sich nervös auf die Lippe.
»Natürlich. Das glaube ich dir gern.«
Pablos Blick ruhte einen Moment lang auf ihrem
Gesicht, dann begann er zu lachen. »Schon gut, meine Kleine. In den
nächsten Wochen werde ich dir beibringen, guten Wein von schlechtem
zu unterscheiden. Du wirst lernen, wieso der Wein deines Vaters der
beste der Welt ist.«
Wochen?, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Sie
konnte unmöglich so lange Urlaub nehmen. Wie lange sie bleiben
würde, wusste sie noch nicht, aber sie war sicher, dass es
keinesfalls mehrere Wochen sein würden.
Im Inneren des Hauses musste sie blinzeln, um sich
an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Der Boden der ineinander
übergehenden Räume war mit dunkelroten Fliesen ausgelegt. Links
führten ein paar Stufen zum Wohnbereich hinunter. Ein riesiger
Kamin nahm fast eine gesamte Wand ein, davor standen ein Sofa, zwei
einzelne Lehnsessel und in der Mitte ein Tisch aus sehr dunklem
Holz. Hinter dieser Sitzecke führten weitere Stufen vermutlich zu
den Schlafzimmern. Doch Pablo wandte sich nach rechts, ging einen
Flur entlang und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
»Hier ist dein Zimmer«, erklärte er und öffnete
eine Tür.
Samantha trat in einen kleinen, hellen, sehr
sauberen Raum mit cremefarben gestrichenen Wänden. Rechts stand ein
schmaler Schrank, dann gab es noch ein einzelnes Bett, auf das
Pedro ihren Koffer gelegt hatte, und ein Nachttischchen mit einer
Lampe. Das Fenster ging zu einer Seite des Hauses hinaus; sie sah
ein paar große Pinien und dahinter noch mehr Reben. Sie waren
einfach überall.
Sie drehte sich zu dem alten Mann um. »Ich hätte
nie gedacht, dass es hier so schön ist, Pablo«, bekannte
sie.
Ein verletzter Ausdruck trat in seine Augen. »Warum
nennst du mich nicht Papa?«, fragte er leise.
Samantha zuckte überrascht zusammen. Sie hatte
selbst nicht gemerkt, dass sie von Papa zu Pablo übergewechselt
war. Es erschien ihr nicht richtig, ihn nun, wo sie wusste, dass er
nicht ihr richtiger Vater war, auch weiterhin mit Papa
anzusprechen. Aber das konnte sie ihm nicht erklären.
»Entschuldige, es ist nur so... es ist alles schon so lange
her.«
»Ich verstehe.« Er nickte traurig. »Vielleicht kann
ich mir den Namen ja im Laufe der Zeit neu verdienen«, fügte er
dann hoffnungsvoll hinzu.
In diesem Moment begriff Samantha, dass sie ihm
niemals die Wahrheit gestehen durfte. Er war ein guter Mann und
jetzt ein alter Mann, der mit schönen und weniger schönen
Erinnerungen leben musste. Und sie würde ihm seine schönste
Erinnerung nicht um so etwas Unwichtigem wie der Wahrheit willen
rauben.
Pedro kam ins Zimmer.«Hier, das wirst du brauchen.«
Er legte eine Garnitur Bettwäsche auf den Koffer.
»Danke, Pedro.« Samantha wagte ein schüchternes
Lächeln.
Er antwortete mit seinem üblichen knappen Nicken
und verließ den Raum wieder.
»Gut, wir lassen dich jetzt allein, damit du
auspacken und dich häuslich einrichten kannst.« Pablo klatschte in
die Hände. »Es ist Zeit für meinen Rundgang. Jeden Abend und jeden
Morgen muss ich nach den Reben sehen. Vielleicht hast du Lust, mich
morgen zu begleiten.«
»Gerne«, stimmte sie sofort zu.
»Dann gehe ich jetzt, und du ruhst dich aus. Wir
essen so gegen zehn, wenn dir das recht ist.«
Samantha sah auf die Uhr. Es war schon nach sechs.
»Einverstanden«, nickte sie. So blieb ihr noch genug Zeit, ihre
Sachen auszupacken und sich vielleicht noch eine Stunde hinzulegen.
Letzte Nacht in dem Hotel in Madrid hatte sie nicht viel
geschlafen, und der schwere Wein, den sie zum Lunch getrunken
hatte, trug das Seine zu ihrer Müdigkeit bei.
Pablo küsste sie leicht auf die Wange und ging aus
dem Zimmer.
Sobald sie allein war, trat Samantha an das
Fenster, öffnete es und sog die frische, nach Pinien duftende Luft
in tiefen Zügen ein. Sie wirkte prickelnder als Champagner. Ein
paar Meter von ihr entfernt standen mehrere hohe Bäume, dahinter
erstreckte sich ein endloses Meer von Weinreben. Das Land fiel zu
einem Tal ab, dessen Sohle sie nicht sehen konnte, weil ihr
Schlafzimmer zu ebener Erde lag. »Später«, seufzte sie. »Später
habe ich genug Zeit, mich hier überall umzuschauen.« Sie kam sich
vor wie ein kleines Mädchen, das einen neuen Spielplatz entdeckt.
Die Gegend war so anders als alles, was sie kannte. Fiddler’s Point
und all die Probleme, die sie dort zurückgelassen hatte, schienen
mit einem Mal zu einem anderen Leben zu gehören. Möglicherweise war
es doch keine so schlechte Idee gewesen, hierherzukommen, überlegte
sie, und zur Hölle mit Pedro Garcia.
Sie ging zum Bett, nahm den Koffer herunter,
stellte ihn auf den Boden, streckte sich auf der weichen Matratze
aus, blickte zur Decke und fragte sich, was die
nächsten Tage ihr wohl bringen würden. Einen Moment später war sie
tief und fest eingeschlafen.
Rose Judge konnte sich vor Erschöpfung kaum noch
auf den Beinen halten, als sie endlich ihr geliebtes Dunross
erreicht hatten. Der Transatlantikflug war nicht sonderlich
anstrengend gewesen, sie hatte in der ersten Klasse gesessen und
den Komfort in vollen Zügen genossen. Es war die oscarreife
Vorstellung am Flughafen, die an ihren Kräften gezehrt hatte.
Sie nahm an ihrem Toilettentisch Platz. Seit die
vermaledeite Katie Garcia wieder in ihr Leben getreten war, hatte
sie sich auf ein paar hässliche Szenen gefasst gemacht. Man musste
kein Geistesriese sein, um Schwierigkeiten vorherzuahnen. Dieses
geldgierige kleine Biest setzte alles in ihrer Macht Stehende
daran, ihre Krallen wieder in James Judge zu schlagen. Überrascht
hatte es Rose nur, den bewussten Brief noch einmal zu Gesicht zu
bekommen. Himmel, es war fünfunddreißig Jahre her, seit sie ihn
gefälscht hatte. Würde die Vergangenheit sie denn nie loslassen?
Wer bewahrte denn einen Brief so lange auf? Es war einfach
grotesk.
Rose betrachtete ihr Gesicht in dem goldgerahmten
Spiegel ihrer Frisierkommode, frischte ihr Make-up auf und puderte
ihre Wangen. Zu ihrem Schrecken entdeckte sie noch mehr Fältchen
als sonst. Sogar nach einer erholsamen Woche auf Barbados ließen
sich die Spuren, die der Auftritt am Flughafen hinterlassen hatte,
nur schwer vertuschen. Sie griff nach ihrer Bürste. Während sie
damit durch ihre kleinen Löckchen fuhr, dachte sie an Cameron. Der
arme Junge musste den zweiten Teil seiner Flitterwochen jetzt
mutterseelenallein
verbringen. Nun, daran ließ sich nichts mehr ändern.
Dass ihr Mann ihr Doppelspiel beinahe entdeckt
hätte, jagte Rose Angst ein. Wenn er herausfand, dass sie diesen
verhängnisvollen Brief tatsächlich geschrieben hatte... Sie durfte
gar nicht daran denken, was das für Folgen für sie haben würde. Sie
musste unbedingt einen Weg finden, um ihn von dieser Fährte
abzulenken. Nachdenklich zog sie die Bürste durch ihr Haar, während
ihre Gedanken sich überschlugen. Die antike silberne Haarbürste und
der dazu passende Handspiegel waren ein Geburtstagsgeschenk von
Granny Vic, sie besaß das Set schon seit vielen Jahren. Ein
Geburtstagsgeschenk …
Und plötzlich kam ihr die Erleuchtung; eine so
brillante Idee, dass sie laut zu lachen begann.
»Jetzt weiß ich, wie ich alle meine Probleme auf
einen Schlag lösen kann«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit. »Und
vielleicht gelingt es mir dabei auch gleich, den guten Ruf der
Familie wiederherzustellen.«
James leistete seiner Mutter im Wohnzimmer bei
einem Drink Gesellschaft, während Rose sich zum Essen umkleidete.
Keine seiner Töchter hatte sich bislang blicken lassen, was ihm
eine sehr willkommene Ruhepause verschaffte. Victoria saß am Feuer
und nippte genüsslich an ihrem Sherry.
»Da bist du ja wieder, James. Ist Rose gut
angekommen?«
»Ja. Der Flug hatte nur eine halbe Stunde
Verspätung«, erwiderte James geistesabwesend, dabei starrte er in
die orangeroten Flammen, die im Kamin aufzüngelten.
»Was liegt dir denn dann auf der Seele?«
James sah seine Mutter an. »Ach, Mum, du konntest
schon immer geradezu riechen, wenn andere Menschen etwas
bedrückt.«
Victoria hob die Brauen. »In dir kann man lesen wie
in einem Buch, James. Was ist los?«
»Ich habe letzte Woche einen ziemlich scheußlichen
Brief bekommen.«
»Wieder Ärger mit dem Finanzamt?«
»Nein, das nicht. Es ist ein alter Brief, sehr alt
sogar – mehr als fünfunddreißig Jahre, um genau zu sein. Er trägt
meine Unterschrift, aber ich habe ihn nicht geschrieben, Mutter. Da
bin ich mir ganz sicher.«
»Worum geht es denn in diesem Brief?«
James zögerte. »Das möchte ich vorerst lieber für
mich behalten, Mum. Es ist etwas sehr Persönliches.«
Victoria hob gleichmütig die Schultern. »Noch ein
uneheliches Kind?«, erkundigte sie sich.
James warf ihr einen scharfen Blick zu. »Nein, so
schlimm ist es nicht. Es ist nur so... ich habe diesen verdammten
Brief nicht geschrieben, aber die Unterschrift sieht eindeutig aus
wie meine.«
»Nun, wenn du es nicht warst, wer dann?«
»Das ist ja gerade die Frage. Ich dachte zuerst an
Rose, aber ich habe sie vorhin am Flughafen zur Rede gestellt, und
sie steckt bestimmt nicht dahinter. Sie hat sich fürchterlich
aufgeregt. Im Nachhinein wünschte ich fast, ich hätte den Mund
gehalten.«
»Aber wenn Rose nicht die Schuldige ist, wer käme
dann infrage?«
»Wenn ich das wüsste, Mutter. Es ist alles schon so
lange her, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wen
wir damals alles gekannt haben. Daher war Rose für mich auch die
wahrscheinlichste Kandidatin.«
»Kann es sein, dass sie gelogen hat?«
»Was? Nein, ich denke nicht. Sie war völlig außer
sich.«
»Wo ist dieser Brief jetzt?«
»Sie hat ihn.«
»Oh.«
»Mutter, du glaubst doch nicht ernsthaft, sie
könnte es doch getan haben?«
»Warum nimmst du nicht den Brief wieder an dich und
lässt ihn auf Fingerabdrücke hin untersuchen?«
»Großer Gott, das ist hier doch keine Folge von
›Hawaii Fünf-null‹!«
»Willst du die Wahrheit herausfinden oder
nicht?«
»Natürlich will ich das. Jemand hat mich auf
übelste Weise hintergangen, und ich will wissen, wer das
war.«
»Dann solltest du als Erstes dafür sorgen, dass du
diesen Brief zurückbekommst.«
In diesem Moment rauschte Rose in den Raum.
»Victoria, mir ist da eine wundervolle Idee gekommen«, strahlte
sie. »Wir sollten zu deinem fünfundneunzigsten Geburtstag eine
große Party veranstalten. Und da das nächsten Monat schon so weit
ist, müssten wir bald anfangen, alles zu organisieren. Ist das
nicht ein guter Weg, um auf andere Gedanken zu kommen?«
Victoria betrachtete ihre Schwiegertochter mit
einem leisen Lächeln. »Warum nicht? Wir haben schon lange keine
Party mehr gegeben!« Sie warf ihrem Sohn einen auffordernden Blick
zu.
»Rose«, begann dieser zögernd. »Der Brief, den ich
dir vorhin gezeigt habe... wo ist der? Ich brauche ihn.«
»Oh, Liebling, den habe ich ins Feuer geworfen. Ich
dachte nicht, dass du ihn wiederhaben wolltest. Ich würde ihn
jedenfalls nicht mal mehr mit einer Kneifzange anfassen.«
Schaudernd wandte sie sich an Victoria. »Ein widerliches
Geschmiere!« Dann hellte sich ihre Miene auf. »Was hältst du davon,
wenn wir jetzt über die Gästeliste sprechen?«