3

Der Prinz und seine Begleiter kamen um zehn Uhr abends in Wladikawkas an. In der Station döste ein müder Droschkenfahrer, der beauftragt wurde, Bobby und die Kindermädchen in ein Hotel zu bringen. Dort sollten sie bleiben, während Alex nach seiner Geliebten suchte. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen, nachdem der kleine Junge versorgt war. Aber Ivan erklärte, jetzt würden alle Leute schlafen, die man nach Zena befragen könne, und es sei sinnlos, die Reise aufs Geratewohl fortzusetzen.

In seiner Arroganz war Alex versucht, seine Männer loszuschicken, alle Fahrer in der Stadt wecken zu lassen und zu fragen, ob eine schöne Frau mit kastanienrotem Haar eine Telega gemietet habe. Aber er sah ein, daß es ihm wenig nützen würde, den Unmut der Leute zu erregen. So geduldete er sich, obwohl er kostbare Zeit verlor und Zenas Vorsprung bereits zwei Tage betrug.

Nach einer schlaflosen Nacht stand er schon im Morgengrauen auf und zog sich an. Sobald es der Anstand erlaubte, weckte er Ivan, der die Fährtenleser wachrüttelte. Der Prinz verabschiedete sich von Mariana und küßte die Stirn des schlafenden Kindes. »Wenn ihr irgendwas braucht, wende dich an den Hoteldirektor. Ich habe ihn angewiesen, alle deine Wünsche zu erfüllen. Sollten irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen, schick Telegramme an alle Garnisonsstädte zwischen hier und Akhti. Dann wird man mich möglichst schnell verständigen.«

Nachdem die Männer gefrühstückt hatten, erwachte die kleine Stadt zum Leben, und sie trennten sich, um den Fahrer zu suchen, der Zena in den Süden gebracht hatte.

Als sie zurückkehrten, teilten sie dem Prinzen mit, sie sei mit einer alten Frau nach Grosnyi gereist. Diese Information beruhigte ihn ein wenig.

Wie der Fahrer erzählte hatte, sei die Telega in Grosnyi von einem Offizier erwartet worden. Den Namen und den militärischen Rang des Mannes kenne er nicht. Die alte Bäuerin habe ihn Grisko genannt. Mehr wisse er nicht. Nachdem Alex diese Nachricht erhalten hatte, war der Fahrer um einige hundert Rubel reicher.

Um zwei Uhr nachmittags traf der Prinz mit seinen Leuten in Grosnyi ein und ging zum Kommandanten der Garnison. Sobald Oberst Chiev den Namen Kuzan gehört hatte, begrüßte er Alex überaus freundlich. In seinem Regiment dienten drei Griskos. Nur einer hatte in letzter Zeit Besuch aus Moskau erhalten.

Alex ließ sich den Weg zu Leutnant Vlastovs Villa am Stadtrand beschreiben. Als er müde, verstaubt und hungrig den Hang hinaufritt, betrachtete er einen prächtigen Palast. Mit gemischten Gefühlen stieg er die Eingangsstufen hinauf. Hatte Zena dem wohlhabenden Offizier ihre Gunst geschenkt? Dieser Gedanke zerrte an seinen Nerven. Anderseits konnte er froh sein, wenn seine Suche hier ein Ende fände. Er wurde in den Salon geführt und mußte ein paar Minuten warten, bis der Leutnant in einer eleganten Uniform mit glänzenden Epauletten eintrat.

Mißtrauisch musterte Alex den Mann vom sorgsam frisierten Scheitel bis zu den blankpolierten Stiefelspitzen.

»Was führt Sie zu mir, Prinz Alexander?« fragte Vlastov höflich.

»Ich suche Zena«, erklärte Alex mehr als kurz angebunden.

»Ah …« Also steckte dieser sichtlich eifersüchtige Aristokrat hinter dem überstürzten Aufbruch der jungen Dame.

»War sie hier?« Die Stimme des Prinzen nahm einen drohenden Klang an.

»Sie kam mit meiner Mutter hierher, dann reiste sie weiter zu ihrem Großvater.«

»Wann?«

»Vor zwei Tagen. Sie hatte es sehr eilig. Glücklicherweise konnte ich ihr einen verläßlichen Führer besorgen. Er heißt Ma’amed.«

»Danke. Guten Tag.« Zweifellos war es unhöflich, den Leutnant so abrupt zu verlassen. Aber es wäre noch viel unhöflicher gewesen, die Faust an sein Kinn zu schmettern. Und genau dazu drängte den Prinzen sein wildes Kuzan-Temperament. Glücklicherweise erinnerte er sich an einen Rat seiner Mutter. »Zähl erst einmal bis zehn, bevor du etwas Unbedachtes tust, liebster Sasha.« Und so hatte er bereits die Haustür erreicht, als er bei zehn anlangte.

Wenig später folgte seine Truppe der Straße nach Gumuk. In halsbrecherischem Tempo ritt Alex an der Spitze. Ivan, die Fährtenleser und Reitknechte mußten ihre Pferde gnadenlos antreiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Wenn sie Rast machten und den geschundenen Tieren etwas Ruhe gönnten, erkundigten sie sich bei den Bewohnern der Dörfer nach einer Frau, die in einer Kutsche fuhr, in Begleitung eines Reiseführers namens Ma’amed. Wie sich bald herausstellte, waren sie auf der richtigen Spur.

Die erste Nacht kampierten sie im Freien und schliefen in ihren pelzgefütterten Mänteln, um sich vor der kalten Bergluft zu schützen.

Ungeduldig weckte Alex die Männer, noch ehe der Morgen graute.

Zur Mittagszeit des zweiten Tages hatten sie Zenas Vorsprung um neun Stunden verringert. Falls der Ritt zum Wohnsitz des Großvaters noch drei weitere Tage dauerte, müßten sie die junge Frau einholen, ehe sie ihr Ziel erreichte. Um die Autorität des Clan-Oberhaupts sorgte sich Alex nicht. Immerhin war er ein Kuzan. Aber wie wenig die Macht der zivilisierten Welt, Gold und Geld im wilden Dagestan zählten, wußte er nicht.

Am Abend des zweiten Tages, nachdem sie Grosnyi verlassen hatten, rasteten sie bei einigen Schäfern auf einem Bergpaß oberhalb der Baumgrenze. In der eisigen Kälte, die den Einheimischen nichts auszumachen schien, fand Alex keinen Schlaf. Um drei Uhr nachts erhob er sich vom hartgefrorenen Boden. Einer der Fährtenleser entfachte ein Feuer und erhitzte einen Topf mit Hammelbrühe, die alle Reisenden ein wenig erwärmte.

Während die Pferde ihre Gerste fraßen, erhellte sich der Himmel. Im Osten und Westen tauchte eine Gebirgskette aus dem Dunkel auf. Bald färbten sich die Gipfel rötlich gold, und im Norden schimmerte weißer Schnee.

Die Truppe verabschiedete sich von den Schäfern und ritt dann im Zickzack einen sehr steilen Felshang hinauf. Schließlich erreichte sie nach langem Ritt einen Gipfel, der 3.230 Meter über dem Meeresspiegel lag.

Knapp drei Stunden später bog der Pfad scharf nach rechts, führte in ein Tal hinab und stieg dann allmählich wieder an. Unentwegt ging es bergauf und bergab, unter einer sengenden Sonne, über steinigen Boden. Am späten Nachmittag waren die Pferde völlig erschöpft.

»Bald sollten wir rasten«, schlug Ivan vor, »sonst beginnen die armen Tiere zu lahmen.«

Alex nickte. »Im nächsten Tal sehe ich saftiges Gras. Dort sollen sie sich stärken.«

Nach einem steilen Abstieg hielten sie in der grünen Senke.

»Hier werden wir übernachten«, entschied Alex. Voller Sorge fragte er sich, wie es Zena und ihrem Führer auf diesen gefährlichen Gebirgswegen ergehen mochte. An manchen Stellen boten sie nur einem einzigen Pferd Platz, zwischen senkrechten Felswänden und tiefen Abgründen. Ringsum herrschte beklemmende Einsamkeit. Seit der Prinz und seine Begleiter die Schäfer verlassen hatten, waren sie keiner Menschenseele begegnet.

Den Kopf auf dem Sattel, lag Alex auf dem harten Boden und hoffte inständig, Zena und Ma’amed in absehbarer Zeit einzuholen.