Das Model
Smoke war wirklich voller Rauch.
Überall im Tal brannten offene Feuer, an denen kleine
Gruppen von Menschen saßen. Der Geruch von Holzrauch und Essen
trieb zu Tally hoch und erinnerte sie an Campingtouren und Partys
unter freiem Himmel. Außer dem Rauch hing noch der Morgendunst in
der Luft, ein weißer Nebelfinger kroch aus einer oben am Berg
klebenden Wolkenbank hinab ins Tal. Einige wenige Solarzellen
leuchteten schwach vor sich hin und nahmen alles an Sonne auf, was
der Nebel durchließ. Zwischen den Gebäuden, etwa zwanzig
einstöckigen Konstruktionen aus langen Holzbrettern, waren hier und
da kleine Gärten angelegt. Überall sah Tally Holz, als Zäune, als
Bratspieße, als Gehwege auf morastigen Stellen und in hohen Stapeln
bei den Feuern. Tally fragte sich, woher sie diese Holzmengen wohl
nahmen. Dann sah sie die Baumstümpfe am Rand der Siedlung und
keuchte auf. "Bäume ...", flüsterte sie entsetzt. "Ihr fällt
Bäume."
Shay drückte ihr die Hand. "Nur in diesem Tal. Auf den
ersten Blick ist es komisch, aber so haben auch die Prä-Rusties
gelebt, weißt du. Und auf der anderen Seite des Berges pflanzen wir
neue Bäume, die die Orchideen zurückdrängen können."
"Na gut", sagte Tally skeptisch. Sie sah eine Gruppe
von Uglies. die einen gefällten Baum bewegten, sie schoben ihn auf
zwei Hubbrettern vor sich her. "Gibt’s hier ein Gitter?"
Shay nickte glücklich. "Nur hier und da. Wir haben
einige Metallschienen von einer Eisenbahnstrecke geholt, solche,
auf denen du die Küste hochgereist bist. Wir haben in Smoke einige
Hubwege gelegt und nach und nach werden wir das ganze Tal
versorgen. Das gehört zu meinen Aufgaben. Alle paar Schritte
verbuddeln wir ein Stück Schrott. Wie alles hier ist es
anstrengender, als man meinen sollte. Du hast ja keine Vorstellung,
wie viel ein Rucksack voll Stahl wiegt."
David und die anderen waren schon auf dem Weg ins
Tal, sie glitten nacheinander zwischen zwei in leuchtendem
Orange bemalten Steinreihen hindurch. "Ist das der Hubweg?", fragte
Tally.
"Ja. Also los, ich bring dich in die Bücherei. Du musst
den Boss kennenlernen."
***
Der Boss hatte in Smoke eigentlich nicht das Sagen,
erklärte Shay. Er tat nur so, vor allem Neulingen gegenüber. Aber
er hatte die Bücherei unter sich, das größte Gebäude auf dem Platz
mitten in der Siedlung.
Der vertraute Geruch von verstaubten Büchern
überwältige Tally, als sie die Tür zur Bücherei öffneten. Sie
schaute sich um und ihr ging auf, dass Bücher so ungefähr das
Einzige waren, was es hier gab. Es gab keinen großen
Wandbildschirm, nicht einmal private Arbeitsbildschirme. Es gab nur
wahllos zusammengewürfelte Tische und Stühle und reihenweise
Bücherregale.
Shay führte sie in die Mitte des Raumes, wo in
einem runden Kiosk eine kleine Gestalt saß, die mit einem
altmodischen Handapparat telefonierte. Als sie näher kam, spürte
Tally, wie ihr Herz loshämmerte. Sie hatte Angst davor, was sie
jetzt sehen würde. Der Boss war ein alter Ugly. Tally hatte
auf dem Weg hierher einige aus der Ferne gesehen, hatte aber noch
schnell in eine andere Richtung blicken können. Aber hier nun saß
die runzlige geäderte, verfärbte, schlurfende entsetzliche
Wahrheit, unmittelbar vor ihr. Seine milchigen Augen schauten
wütend drein, als er mit knatternder Stimme sein unsichtbares
Gegenüber herunterputzte und mit einer Klaue signalisierte, dass er
nicht gestört werden wollte.
Shay kicherte und zog Tally zu den Regalen. "Der wird
sich schon noch um uns kümmern. Und vorher möchte ich dir etwas
zeigen."
"Der arme Mann ..."
"Der Boss? Ganz schön wild, was? Der ist aber auch
schon vierzig. Warte mal, bis du mit ihm gesprochen hast."
Tally schluckte und versuchte sich von dem Bild seiner
schlaffen Züge zu befreien. Diese Leute waren doch wahnsinnig, wenn
sie das gestatteten, wenn sie es so wollten. "Aber sein Gesicht
...", sagte Tally.
"Das ist noch gar nichts. Sieh dir das mal an." Shay
führte sie an einen Tisch, drehte sich zu einem Regal um und zog
eine Handvoll Bände in Schutzhüllen heraus. Sie knallte sie vor
Tally auf den Tisch.
"Bücher aus Papier? Was ist damit?"
"Nicht Bücher. Die werden >Zeitschriften<
genannt", sagte Shay. Sie öffnete eine und zeigte hinein. Die
seltsam glänzenden Seiten waren mit Bildern gefüllt. Mit Bildern
von Menschen.
Von Uglies.
Tally mache große Augen, als Shay umblätterte, zeigte
und kicherte. Sie hatte noch nie so viele komplett unterschiedliche
Gesichter gesehen. Münder und Augen und Nasen in allen
vorstellbaren Formen, alle auf irrsinnige Weise bei Menschen
jeglichen Alters kombiniert. Und die Körper erst! Manche waren
grotesk fett oder auf bizarre Weise übermuskulös, andere waren
unangenehmdünn, und fast alle hatten falsche und hässliche
Proportionen. Aber statt sich ihrer Deformierungen zu schämen,
lachten diese Leute, küssten, posierten, als wären alle Fotos auf
einem riesigen Fest aufgenommen worden. "Wer sind diese
Freaks?"
"Das sind keine Freaks", sagte Shay. "Das komische ist,
das sind alles Berühmtheiten."
"Weshalb denn berühmt? Weil sie so entsetzlich
aussehen?"
"Nein. Das sind Sportstars, Schauspielerinnen,
Künstler. Die Männer mit den strähnigen Haaren sind Musiker, glaube
ich. Die richtig Hässlichen sind Politiker und irgendwer hat mir
gesagt, dass die Fettsäcke meistens Komiker sind."
"Das ist komisch, ich meine, seltsam", sagte Tally. "So
haben die Leute also vor den ersten Pretties ausgesehen? Wie
konnten sie es überhaupt ertragen, die Augen aufzumachen?"
"Ja, auf den ersten Blick ist es beängstigend. Aber das
Seltsame ist, wenn du sie lange genug ansiehst, dann gewöhnst du
dich irgendwie daran."
Shay wandte sich einem seitengroßen Foto einer Frau zu,
die nur eine Art figurbetonter Unterwäsche trug, wie einen
Badeanzug aus Spitzen.
"Was zum ...", sagte Tally.
"Ja."
Die Frau sah fast verhungert aus, ihre Rippen ragten
aus ihren Seiten vor, ihre Beine waren so dünn, dass Tally nicht
begriff, wieso sie unter ihrem Gewicht nicht brachen. Ellbogen und
Beckenknochen sahen nadelscharf aus. Aber da stand sie nun,
lächelnd und offenbar stolz auf ihren Körper, als habe sie eben die
Operation hinter sich gebracht und noch nicht kapiert, dass
viel zu viel Fett abgesaugt worden war. Das Komische
war, dass ihr Gesicht im Vergleich zu den anderen dem einer Pretty
am ähnlichsten war. Sie hatte die großen Augen, die glatte Haut und
die schmale Nase, aber ihre Wangenknochen traten zu sehr hervor und
ihr Schädel war unter der Haut ziemlich deutlich zu sehen. "Was um
alles in der Welt ist sie denn?"
"Ein Model."
"Und das ist?"
"So eine Art professionelle Pretty. Ich nehme an, wenn
alle anderen hässlich sind, ist Hübschsein sozusagen ein
Beruf."
"Und sie trägt ihre Unterwäsche, weil...?", setzte
Tally an, dann kam ihr eine Erinnerung. "Sie hat diese Krankheit.
Die, über die wir in der Schule gehört haben."
"Kann schon sein. Aber ich hab immer gedacht, die
hätten sie erfunden, um uns Angst zu machen."
Damals, als es die Operation noch nicht gab, das fiel
Tally jetzt ein, hatten sich viele Menschen, vor allem junge
Mädchen, dermaßen geschämt, weil sie dick waren, dass sie mit essen
aufhörten. Sie nahmen dann zu schnell ab und manche kamen nicht
mehr davon los und wurden immer magerer, bis sie wie dieses
>Model< endeten. Manche waren sogar gestorben, hatten sie in
der Schule gehört. Das sei einer der Gründe, warum die Operation
entwickelt worden war. Jetzt bekam niemand mehr diese Krankheit,
weil alle wussten, dass sie mit sechzehn schön werden würden. Die
meisten Leute langten kurz vor dem Wechsel sogar noch einmal
besonders zu, da ja dann alles Fett abgesaugt wurde.
Tally starrte das Bild an und zitterte. Warum wollte
irgendwer zu dem hier zurückkehren?
"Unheimlich, was?" Shay wandte sich ab. "Ich seh mal
nach, ob der Boss jetzt so weit ist."
Als sie davonhuschte, fiel Tally auf, wie mager Shay
war. Nicht krankhaft mager, nur Ugly-mager - sie hatte noch nie
viel gegessen. Tally fragte sich, ob Shays Essstörungen hier in
Smoke immer schlimmer werden würden, bis sie am Ende verhungerte.
Sie betastete ihren Anhänger. Das war die Gelegenheit. Besser, es
gleich hinter sich zu bringen. Diese Leute hier hatten vergessen,
wie die alte Welt wirklich gewesen war. Klar, es machte bestimmt
großen Spaß, im Wald zu kampieren und Verstecken zu spielen und
durch das Leben hier den Städten einen tollen Streich zu spielen.
Aber bei all dem hatten sie wohl vergessen, dass die Rusties
wahnsinnig gewesen waren, dass sie die Welt auf eine Million
verschiedene Weisen fast zerstört hatten. Diese verhungernde
Beinahe-Pretty war nur eine davon gewesen. Warum wollten sie dahin
zurückkehren?
Und sie fällten hier ja sogar schon Bäume!
Tally öffnete den herzförmigen Anhänger und schaute in
die kleine glühende Öffnung, wo der Lasersensor darauf wartete,
ihren Augenabdruck zu lesen. Sie hielt es dichter vor ihr Gesicht,
ihre Hand zitterte. Es wäre töricht, zu warten. Es würde dann nur
schwerer werden.
Und was blieb ihr für eine Wahl?
"Tally? Er ist fast..."
Tally ließ den Anhänger zuschnappen und schob ihn unter
ihr Hemd.
Shay lächelte viel sagend. "Der ist mir auch schon
aufgefallen. Woher??"
"Wie meinst du das?"
"Ach, komm schon. So was hast du sonst nie getragen. Da
lass ich dich mal
für zwei Wochen allein und schon wirst du total
romantisch?"
Tally schluckte und schaute das Silberherz an,
"Ich meine, das ist eine richtig schöne Kette.
Wunderhübsch. Aber wer hat sie dir geschenkt, Tally?"
Tally stellte fest, dass sie es nicht über sich
brachte, zu lügen. "Jemand. Einfach jemand."
Shay verdrehte die Augen. "Flirt in letzter Minute,
was? Ich hab immer gedacht, dass du dich für Peris
aufsparst."
"So ist das nicht, es ist..."
Warum soll ich es ihr nicht sagen, fragte Tally sich.
Sie würde ja doch alles durchschauen, wenn die Specials-Truppe
einfiel. Wenn sie es wüsste, könnte Shay sich immerhin auf das Ende
ihrer Fantasiewelt vorbereiten. "Ich muss dir etwas sagen."
"Klar."
"Ich bin hergekommen, weil ... also, es ist so, als ich
abgeholt wurde, um meine ..."
"Was treibt ihr denn hier?"
Tally fuhr zusammen, als sie die krächzende Stimme
hörte. Sie klang wie eine alte, brüchige Version von Dr. Cables,
wie eine rostige Rasierklinge, die über ihre Nerven gezogen wurde.
"Diese Zeitschriften sind über dreihundert Jahre alt und ihr tragt
keine Handschuhe." Der Boss schlurfte auf Tally zu, zog weiße
Baumwollhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Er
streckte den Arm an ihr vorbei und klappte die Zeitschrift zu, in
der sie gelesen hatte.
"Deine Finger sind mit überaus scheußlichen Säuren
bedeckt, junge Dame. Du wirst diese Zeitschriften zerstören, wenn
du nicht aufpasst. Ehe du in der Sammlung herumschnüffelst, hast du
zu mir zu kommen."
"Tut mir leid, Boss", sagte Shay. "Das war meine
Schuld."
"Davon gehe ich aus", fauchte er und stellte die
Zeitschriften zurück ins Regal, mit eleganten, vorsichtigen
Bewegungen, die überhaupt nicht zu seinen scharfen Worten passten.
"Also, junge Dame, ich nehme an, du bist gekommen, um dir die
Arbeit zuteilen zu lassen."
"Arbeit?", fragte Tally.
Die beiden anderen schauten in ihr verwirrtes Gesicht
und dann prustete Shay los.