Zerstörung
Sie verließen die Höhle erst am nächsten Morgen.
Tally kniff im Licht der Morgendämmerung die Augen
zusammen und suchte den Himmel nach einer Flotte aus Hubwagen ab,
die sich plötzlich über den Bäumen erhob. Aber sie hatten die ganze
Nacht hindurch nichts gehört, was auf eine Suchaktion hindeutete.
Vielleicht war es jetzt, wo Smoke zerstört war, nicht der Mühe
wert, die letzten Ausreißer zu jagen.
Davids Hubbrett hatte die Nacht über in der Höhle
gelegen und jetzt seit einem ganzen Tag kein Sonnenlicht mehr
abbekommen, aber es war doch noch so weit aufgeladen, dass es sie
wieder den Berg hinaufbringen konnte. Sie flogen zum Fluss. Tally
knurrte nach vierundzwanzig Stunden ohne Essen der Magen, aber vor
allem brauchte sie Wasser. Ihr Mund war dermaßen ausgedörrt, dass
sie kaum sprechen konnte.
David kniete am Ufer nieder und hielt seinen Kopf ins
eisige Wasser. Tally zitterte bei diesem Anblick. Ohne eine Decke
und Schuhe hatte sie in der Höhle die ganze Nacht gefroren, sogar
in Davids Armen. Sie brauchte etwas Warmes im Bauch, ehe sie Dinge
ertragen konnte, die noch kälter waren als der Morgenwind.
"Was, wenn Smoke noch besetzt wird?", fragte sie.
"Woher sollen wir etwas zu essen nehmen?"
"Du hast gesagt, sie haben die Gefangenen in den
Kaninchenstall gesteckt? Und was ist aus den Kaninchen
geworden?"
"Die sind weggelaufen."
"Genau. Und jetzt können sie also überall sein. Und sie
sind nicht schwer
zu fangen."
Sie schnitt eine Grimasse. "Na, von mir aus. Solange
wir sie kochen."
David lachte. "Natürlich."
"Ich hab noch nie ein Feuer gemacht", gab sie zu.
"Mach dir keine Sorgen. Du bist ein Naturtalent." Er
stieg auf sein Brett und streckte die Hand aus.
Tally war noch nie zu zweit auf einem Brett unterwegs
gewesen und ertappte sich dabei, dass sie sich darüber freute, hier
mit David zusammen zu sein und nicht mit irgendwem sonst. Sie stand
vor ihm, ihre Körper berührten sich, sie streckte die Arme aus und
seine Hände umfassten ihre Taille. Sie gingen ohne Absprache in die
Kurven, Tally verlagerte vorher langsam ihr Gewicht und wartete
darauf, dass David ihrem Beispiel folgte. Als sie sich eingespielt
hatten, begannen ihre Körper sich gemeinsam zu bewegen und das
Brett über den vertrauten Pfad zu manövrieren, als ob nur eine
Person darauf stünde.
Das klappte, solange sie langsam flogen, aber Tally
lauschte die ganze Zeit auf Geräusche, die eine Verfolgung
ankündigten. Wenn ein Hubwagen auftauchte, würde eine Flucht in
vollem Tempo schwierig sein.
Sie rochen Smoke, lange bevor sie es sehen
konnten.
***
Oben vom Berg her sahen die Gebäude aus wie
heruntergebrannte Lagerfeuer, zerfallen, voller Rauch, ganz und gar
schwarz. Nichts bewegte sich dort unten, mit Ausnahme von einigen
Papierstücken, die der Wind erfasst hatte.
"Das scheint die ganze Nacht gebrannt zu haben", sagte
Tally.
David nickte sprachlos. Tally packte seine Hand und
fragte sich, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, die Heimat
seiner Kindheit als rauchende Ruine zu sehen.
"Es tut mir so leid, David", sagte sie.
"Wir müssen runter. Ich muss nachsehen, ob meine Eltern
…" Den Rest des Satzes verschluckte er.
Tally hielt Ausschau nach Menschen, die sich vielleicht
noch in Smoke aufhielten. Der Ort sah völlig verlassen aus, aber es
konnten sich ja doch noch Specials dort verstecken, die auf
zurückkehrende Ausreißer lauerten. "Wir sollten noch
abwarten."
"Das kann ich nicht. Das Haus meiner Eltern liegt auf
der anderen Seite des Felsrückens. Vielleicht haben die Specials es
ja nicht entdeckt."
"Wenn sie es übersehen haben, dann sind Maddy und Az
noch dort."
"Aber was, wenn sie geflohen sind?"
"Dann werden wir sie finden. Aber bis dahin dürfen wir
uns nicht erwischen lassen."
David seufzte. "Na gut."
Tally umklammerte seine Hand. Sie klappten das Hubbrett
auseinander, warteten, während die Sonne höher stieg, und hielten
Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen von menschlichem Leben. Ab
und zu entfachte ein Windstoß die Glut unten zu neuen Flammen, und
die letzten noch aufragenden Bretter brachen eins nach dem anderen
zusammen und zerfielen zu Asche.
Einige Tiere suchten nach Nahrung und Tally sah in
stummem Entsetzen zu, wie ein entlaufenes Kaninchen von einem Wolf
gerissen wurde. Der kurze Kampf hinterließ nichts als einen Fleck
aus Blut und Fellresten. Das
war alles, was von der Natur noch übrig war, roh und
wild, nur Stunden nachdem Smoke gefallen war.
"Bist du so weit, können wir runtergehen?", fragte
David nach einer Stunde.
"Nein", sagte Tally. "Aber ich werde nie so weit
sein."
***
Sie näherten sich langsam, immer bereit, kehrtzumachen
und zu die Flucht zu ergreifen, falls ein Special auftauchte. Aber
als sie den Dorfrand erreichten, spürte Tally, wie ihre Angst
sich in Schlimmeres verwandelte, in die entsetzliche Gewissheit,
dass hier niemand mehr war.
Ihr Zuhause war verschwunden und an seiner Stelle gab
es nur noch verkohlte Zerstörung.
Beim Kaninchenstall zeigten Fußspuren, wo Gruppen von
Smokies durch die Tore getrieben worden waren wie Vieh. Einige
wenige Kaninchen hoppelten noch immer über den Lehmboden.
"Na, immerhin brauchen wir nicht zu verhungern", sagte
David.
"Nein, das wohl nicht", antwortete Tally, obwohl der
Anblick von Smoke sie von ihrem Hunger kuriert hatte. Sie hätte
gern gewusst, wie David es schaffte, immer praktisch zu denken,
egal, mit welchem Entsetzen er konfrontiert wurde. "He, was ist das
denn?"
Bei einer Ecke des Stalls, direkt vor dem Zaum lagen
Gegenstände auf dem Boden.
Sie lenkten das Brett näher heran und David lugte durch
eine
vorübertreibende Rauchwand. "Sieht aus wie ...
Schuhe."
Tally blinzelte. Er hatte Recht. Sie senkte das Brett,
sprang ab und rannte zu der Ecke.
Dort schaute sie sich verblüfft um. An die zwanzig Paar
Schuhe lagen hier, Schuhe aller Größen, Sie fiel auf die Knie um
sie sich genauer anzusehen. Die Schnürsenkel waren noch immer
gebunden, so, als hätten Leute mit auf den Rücken gefesselten
Händen sie abgestreift ...
"Croy hat mich erkannt", murmelte sie.
"Was?"
Tally drehte sich zu David um. "Bei meiner Flucht bin
ich über den Kaninchenstall geflogen. Und da muss Croy mich erkannt
haben. Er wusste, dass ich keine Schuhe anhatte. Wir haben darüber
Witze gemacht."
Sie stellte sich die Smokies vor, die hilflos ihr
Schicksal erwarteten, und dennoch diesen einen letzten Akt des
Widerstands hinlegten. Bestimmt hatte Croy seine eigenen Schuhe
abgestreift und dann allen zugeflüstert, die er erreichen konnte:
"Tally ist frei und barfuß." Sie hatten ihr jede Menge Schuhe
hinterlassen, aus denen sie sich die passenden aussuchen konnte. Es
war ihre einzige Möglichkeit gewesen, der einen Smokey zu helfen,
deren Flucht sie gesehen hatten.
"Sie haben gewusst, dass ich hierher zurückkehren
würde." Ihre Stimme versagte. Was die anderen nicht wussten, war,
wer sie verraten hatte.
Sie hob ein Paar Schuhe auf, das die richtige Größe zu
haben schien und dessen Griffsohlen für das Hubbrett geeignet
waren, und zog sie an. Sie passten, sogar noch besser als die,
welche die Förster ihr gegeben hatten.
Als sie auf das Brett zurücksprang, musste Tally ihren
gequälten Gesichtsausdruck verbergen. So würde es von jetzt an
sein. Jede freundliche Geste ihrer Opfer würde ihre Schuldgefühle
noch steigern. "Na gut, los dann."
Der Hubpfad schlängelte sich durch das rauchende Dorf,
über die Wege,
die zwischen den verkohlten Ruinen noch verblieben
waren. Neben einem länglichen Gebäude, das jetzt kaum mehr war als
eine Schicht aus schwarzem Schutt, brachte David das Brett zum
Stehen.
"Das hatte ich befürchtet."
Tally versuchte sich zu erinnern, was dort gestanden
hatte. All ihr Wissen über Smoke hatte sich in Rauch aufgelöst, die
vertrauten Straßen waren zu einem unkenntlichen Gewirr aus Asche
und Schlacken zerfallen.
Dann sah sie einige schwärzliche Papierstücke im Wind
flattern. Die Bücherei.
"Sie haben die Bücher nicht herausgeholt, ehe sie …",
rief sie.
"Aber warum?"
"Sie wollen nicht, dass andere wissen, wie es vor der
Operation war. Ihr sollt euch weiterhin hassen. Sonst wäre es zu
leicht, sich an hässliche Gesichter zu gewöhnen, an normale
Gesichter."
Tally drehte sich um und schaute in Davids Augen. "An
einige jedenfalls." Er lächelte traurig.
Dann kam ihr ein Gedanke. "Der Boss ist mit alten
Zeitschriften weggelaufen. Vielleicht ist er entkommen."
"Zu Fuß?" David klang skeptisch.
Das hoffe ich doch." Sie lehnte sich zur Seite und das
Brett glitt auf den Rand des Dorfes zu.
Ein Klecks aus Pfeffer kennzeichnete die Stelle, wo sie
mit der Special
gekämpft hatte. Tally sprang vom Brett und versuchte
sich daran zu erinnern, wo genau der Boss im Wald verschwunden
war.
"Wenn er entkommen ist, dann ist er jetzt schon weit
weg", sagte David.
Tally bahnte sich einen Weg durch das Unterholz und
hielt Ausschau nach Spuren eines Kampfes. Die Morgensonne strömte
durch die Blätter und ein Pfad aus abgeknickten Zweigen führte in
den Wald. Der Boss war nicht gerade leichtfüßig gewesen, er hatte
sich wie ein Elefant seine Bresche getrampelt.
Sie fand die Tasche halb versteckt unter einem mit Moos
bedeckten umgestürzten Baum. Als sie sie öffnete, sah Tally die
Zeitschriften, jede liebevoll in einer Plastikhülle verstaut. Sie
warf sichdie Tasche über die Schulter und freute sich darüber,
etwas aus der Bücherei gerettet zu haben, als kleinen Sieg über Dr.
Cable.
Dann fand sie den Boss.
Er lag auf dem Rücken und sein Kopf war in einem Winkel
abgeknickt, von dem Tally instinktiv wusste, dass er so nicht
stimmen konnte. Er hatte die Faust geballt, seine Finger waren
blutig, weil er jemanden gekratzt hatte. Offenbar hatte er sich
gewehrt, um die anderen abzulenken, vielleicht, damit sie die
Tasche nicht entdeckten. Oder vielleicht auch Tally zuliebe,
nachdem er gesehen hatte, dass auch sie den Wald erreicht
hatte.
Ihr fiel ein, was die Specials mehr als einmal zu ihr
gesagt hatte Wir wollen dir nicht wehtun, aber wir werden es
tun, wenn es sein muss.
Das hatten sie ernst gemeint. Sie meinten alles
ernst.
Sie stolperte wieder aus dem Wald, wusste nicht, was
sie sagen sollte, und die Tasche hing noch immer über ihrer
Schulter.
"Du hast etwas gefunden?", fragte David.
Sie gab keine Antwort.
Er sah ihr Gesicht und sprang vom Brett. "Was ist
passiert?"
"Sie haben ihn eingeholt. Sie haben ihn
umgebracht."
David sah sie an, mit offenem Mund. Er holte langsam
Atem. "Komm, Tally. Wir müssen weg hier."
Sie kniff die Augen zusammen. Das Sonnenlicht kam ihr
nicht richtig vor, es wirkte verzerrt, wie der Hals des Bosses. Als
sei die Welt entsetzlich entstellt worden, während Tallv zwischen
den Blumen stand. "Wohin?-, murmelte sie.
"Wir müssen zum Haus meiner Eltern."