Komplizen
"Wir haben Zeit genug, wenn wir uns beeilen."
"Zeit genig wofür?"
"Um bei der Kunstschule in Uglyville vorbeizuschauen.
Da hängen im Keller Bungeejacken. Ein ganzes Regal voll."
David holte tief Atem. "Okay."
"Du hast doch keine Angst, oder?"
"Das nicht ..." Er zog eine Grimasse. "Nur hab ich noch
nie so viele Leute gesehen."
"Leute? Wir haben doch gar niemanden gesehen."
"Nein, aber diese ganzen Häuser auf dem Weg hierher.
Ich muss immer daran denken, dass da überall Leute wohnen, alle so
total zusammenge-pfercht."
Tally lachte, "Du findest die Vororte überfüllt? Dann
warte mal, bis wir nach Uglyville kommen."
***
Sie kehrten zurück und jagten im Spitzentempo über die
Dächer. Der Himmel war pechschwarz, aber inzwischen konnte Tally
gut genug in den Sternen lesen, um zu wissen, dass das erste Licht
der Dämmerung schon in wenigen Stunden zu sehen sein würde.
Als sie den grünen Gürtel erreicht hatten, flogen sie
auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie schwiegen und
konzen-trierten sich darauf, zwischen den Bäumen zu manövrieren.
Der geschwungene Gürtel führte sie durch den Cleopatra Park, wo
Tally zur Erinnerung an alte Zeiten um die Slalompfähle kurvte.
Alles in ihr krampfte sich zusammen, als sie an ihrem alten
Wohnheim vorbeiflogen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie
das Gefühl, hier abbiegen, durch ihr Fenster fliegen und schlafen
gehen zu können.
Bald tauchten die vielen Türme von Uglyvilles
Kunstschule auf und Tally bat David anzuhalten.
Was jetzt kam, war leicht. Es schien eine Million Jahre
her zu sein, dass Tally und Shay sich für ihren letzten Streich
eine Bungeejacke ausgeborgt hatten, in der Shay dann auf die neuen
Uglies in der Bücherei gesprungen war. Tally folgte ihren Schritten
von damals zu dem Fenster, das sie geöffnet hatten, einer
schmutzigen, vergessenen Glasscheibe, verborgen hinter
Ziersträuchern. Es stand noch immer offen.
Tally schüttelte den Kopf. Diese Art von Einbruch war
ihr vor zwei Monaten so gewagt vorgekommen. Damals war die Nummer
in der Bücherei der wildeste Streich, den sie und Shay sich
überhaupt vorstellen konnten. Jetzt sah sie diese Streiche
realistisch: eine Möglichkeit für Uglies, um Dampf abzulassen vor
ihrem Wechsel, nicht mehr als eine sinnlose Ablenkung, bis ihr
rebellisches Wesen durch das Erwachsen-werden und die Operation
besänftigt wurde.
"Gib mir die Taschenlampe. Und warte hier."
Sie schlüpfte ins Haus, fand die Bungeejacken,
schnappte zwei davon und war in weniger als einer Minute wieder
draußen. Als sie sich aus dem Fenster zog, starrte David sie aus
weitaufgerissenen Augen an. "Was ist los?", fragte sie.
"Du ... du machst das alles so gut. Du hast so viel
Selbstvertrauen. Und ich bin schon nervös, bloß weil ich in der
Stadt bin."
Sie grinste. "Das ist doch nicht der Rede wert. So was
machen alle hier."
Trotzdem war Tally glücklich, David durch ihre
Geschicklichkeit beim Einbrechen beeindrucken zu können. In den
vergangenen Wochen hatte er sie gelehrt Feuer zu machen, ein Zelt
aufzustellen, Fische zu säubern und eine Geländekarte zu lesen. Da
war es doch nett, dass zur Abwechslung sie die Fähigere war.
Sie kehrten zum grünen Gürtel zurück und erreichten den
Fluss,noch ehe der Himmel auch nur einen Hauch von Rosa zeigte. Als
sie amWildwasser vorbeijagten und die Erzader erreichten, tauchten
die Ruinen auf, während der Himmel gerade seine Farbe
änderte.
Beim Hinababklettern fragte Tally: "Morgen Nacht
also?"
"Warten ist sinnlos."
"Ja." Und alles sprach dafür, den Rettungsversuch bald
zu unternehmen. Der Überfall auf Smoke lag schon über zwei Wochen
zurück.
David räusperte sich. "Wie viele Specials sind da wohl
in dem Haus, was meinst du?"
"Als ich da war, hat es nur so von ihnen gewimmelt.
Aber das war tagsüber. Ich nehme an, auch die müssen irgendwann
schlafen."
"Dann ist es nachts leer."
"Das glaube ich nicht. Aber vielleicht sind nur ein
paar Wachen da." Mehr sagte sie nicht. Ein einziger Special w ürde
zwei Uglies mehr als gewachsen sein. Nicht einmal das gewaltigste
Überraschungsmoment könnte die überlegene Stärke und
Reaktionsfähigkeit der grausamen Pretties ausgleichen. Wir müssen
eben dafür sorgen, dass sie uns nicht sehen."
"Klar. Oder hoffen, dass sie gerade anderweitig
beschäftigt sind."
Tally trottete vor ihm her. Ihre Erschöpfung war groß,
jetzt, wo sie sicher aus der Stadt hinausgelangt waren, und bei
jedem Schritt nahm ihr Optimismus ab. Sie waren den ganzen Weg
hierher gekommen, ohne wirklich über die Aufgabe nachzudenken, die
vor ihnen lag. Jemanden vor den Besonderen Umständen zu retten war
nicht einfach ein Ugly-Streich, wie der Diebstahl einer Bungeejacke
oder die Überquerung des Flusses war ein schwerwiegendes
Vergehen.
Und obwohl Croy, Shay, Maddy und Az vermutlich allesamt
in diesen schrecklichen unterirdischen Gebäuden gefangen gehalten
wurden, bestand doch immer noch die Möglichkeit, dass die Smokies
an einen anderen Ort gebracht worden waren. Und selbst wenn nicht,
dann hatte Tally absolut keine Ahnung, wo sie sich in dem Labyrinth
aus kotzbraunen Gängen befinden mochten.
"Ich wünschte, wir hätten Hilfe", sagte sie
leise.
Davids Hand legte sich auf ihre Schulter und brachte
sie zum Stehen. "Haben wir ja vielleicht."
Sie schaute ihn fragend an, dann folgte sie seinem
Blick zu den Ruinen. Oben auf dem höchsten Turm erloschen gerade
die letzten Funken eines Sicherheitsstrahlers.
Da unten waren Uglies.
"Die suchen mich", sagte er.
"Was machen wir also?"
"Gibt es noch einen anderen Weg zurück in die
Stadt?"
David.
"Nein. Sie müssen diesen Weg nehmen."
"Dann warten wir."
Tally kniff die Augen zusammen und starrte zu den
Ruinen hinüber. Der Strahler war erloschen und im Licht der
Morgendämmerung, das sich jetzt am Himmel verbreitete, war sonst
nichts zu sehen. Wer immer dort unten war, hatte bis zum letzten
Augenblick gewartet, um sich auf den Heimweg zu machen.
Wenn diese Uglies David suchten, dann waren sie
potenzielle Flüchtlinge. Rebellische Uglies im letzten Jahr, die
sich keine großen Sorgen darüber machten, dass sie das Frühstück
verpassen könnten.
Sie drehte sich zu David um. "Also suchen Uglies
offenbar noch immer nach dir. Und nicht nur hier."
"Natürlich", sagte er. "Die Gerüchte werden sich noch
Generationen halten, in Städten im ganzen Land, ob es mich nun gibt
oder nicht. So ein Lichtsignal bringt normalerweise keine Antwort,
und da wird es lange dauern, bis sogar die Uglies, die mir begegnet
sind, begreifen, dass ich nicht auftauchen werde. Und die meisten
glauben ja ohnehin nicht, dass Smoke ..."
Seine Stimme versagte und Tally nahm seine Hand. Einen
Moment lang hatte er vergessen, dass es Smoke ja wirklich nicht
mehr gab.
Sie warteten schweigend, bis sie durch die Felsen
Schritte hörten. Es klang wie drei Uglies, die sich leise
unterhielten, als fürchteten sie sich noch immer vor den Geistern
in diesen Rusty-Ruinen.
"Pass auf", flüsterte David und zog die Lampe aus
seiner Tasche. Er zeigte damit auf sein Gesicht und schaltete sie
ein.
"Sucht ihr mich?", fragte er dann laut und
gebieterisch.
Die drei Uglies erstarrten, mit großen Augen und
offenem Mund. Dann ließ
der Junge sein Brett fallen, und es knallte auf die
Steine neben ihm und riss
ihn aus seiner Lähmung.
"Wer bist du?", brachte eins der Mädchen heraus.
"Ich bin David."
"Ach. Heißt das, du bist..."
"Real?" Er schaltete die Lampe aus und grinste. "Ja.
Die Frage wird mir oft gestellt."
***
Die drei hießen Sussy, An und Dex, und sie kamen jetzt
seit einem Monat zu den Ruinen. Sie hatten seit Jahren Gerüchte
über Smoke gehört, seit jemand aus ihrem Wohnheim durchgebrannt
war.
"Ich war gerade nach Uglyville gekommen", erzählte
Sussy. "Und Ho war im letzten Jahr. Nach seinem Verschwinden hatten
alle Theorien darüber, wo er hingegangen sein könnte."
"Ho?" David nickte. "An den kann ich mich erinnern. Er
war ein paar Monate bei uns, dann hat er sich die Sache anders
überlegt und ist zurückgegangen. Jetzt ist er hübsch."
"Aber er hat es wirklich geschafft? Er war in Smoke?",
fragte An.
"Ja. Ich habe ihn hingeführt."
"Wahnsinn. Es stimmt also." An und die beiden anderen
wechselten aufgeregte Blicke. "Wir wollen auch hin."
David öffnete den Mund und machte ihn dann wieder zu.
Sein Blick wanderte zur Seite.
"Das geht nicht", sagte Tally. "Im Moment nicht."
"Warum nicht?", fragte Dex.
Tally schwieg. Die Wahrheit, dass Smoke bei einem
bewaffneten Überfall zerstört worden war, klang zu
unwahrscheinlich. Vor einigen Monaten hätte sie auch nicht
geglaubt, wozu ihre eigene Stadt fähig war. Und wenn sie hier
zugab, dass Smoke nicht mehr existierte, würde dieses Gerücht unter
den Uglies weitergereicht werden. Dr. Cables Arbeit wäre dann
vollendet, selbst wenn ein paar gerettete Smokies es auf irgendeine
Weise schafften, in der
Wildnis eine neue Gemeinschaft zu gründen. "Na ja",
sagte sie. "Ab und zu muss Smoke umziehen, um ein Geheimnis zu
bleiben. Im Moment gibt es diesen Ort deshalb eigentlich nicht.
Alle haben sich zerstreut und wir werben deshalb keine Neuen
an."
"Der ganze Ort zieht um?", fragte Dex.
"Wahnsinn."
An runzelte die Stirn. "Moment mal. Wenn ihr keine
Neuen anwerbt, warum seid ihr dann hier?"
"Um einen Streich zu spielen", sagte Tally. "So einen
richtig großen. Vielleicht könnt ihr uns helfen. Und wenn Smoke
dann wieder auf den Beinen ist, werdet ihr es als Erste
erfahren."
"Wir sollen euch helfen? So als Aufnahmeprüfung?",
fragte Dex.
"Nein", sagte David mit fester Stimme. "Wir verlangen
keine Prüfung, ehe wir jemanden in Smoke aufnehmen. Aber wenn ihr
uns helfen wolltet, würden Tally und ich uns sehr freuen."
"Wir brauchen nur ein Ablenkungsmanöver", sagte
Tally.
"Klingt witzig", sagte An. Sie sah die anderen an und
die nickten begeistert.
Zu jeder Schandtat bereit, dachte Tally, genau wie sie
selbst früher. Sie waren einwandfrei im letzten Jahrgang, weniger
als ein Jahr jünger als sie, aber Tally staunte darüber, wie unreif
sie ihr vorkamen.
David starrte Tally zusammen mit den anderen an und
wartete darauf, wie es weitergehen sollte. Sie musste sich jetzt
sofort eine Ablenkung ausdenken. Und es musste eine gute Sache
sein. Etwas, das die Specials so sehr beunruhigte, dass sie
ausrücken würden.
Etwas, das sogar Dr. Cables Aufmerksamkeit
entfachte.
"Also, ihr braucht jede Menge Strahler."
"Kein Problem."
"Und ihr wisst doch, wie ihr nach New Pretty Town
kommt, oder?"
"New Pretty Town?" An schaute ihre Freunde an. "Aber
die Brücken melden doch alle, die den Fluss überqueren."
Tally lächelte. Sie freute sich immer, wenn sie
jemandem einen neuen Trick beibringen konnte.