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Vincent Drear schwankte heftig, als er so schnell wie möglich nach Hause eilte. Mit einer Hand hielt er sich den entsetzlich brummenden Schädel, die andere hatte er auf den schmerzenden Rücken gepresst.

Vermutlich kann ich noch von Glück sagen, überlegte Vincent. Er hätte sich bei dem Sturz vom Baum glatt den Hals brechen können. Stattdessen war er in eine Hecke gesegelt und von dort mit einem heftigen Aufprall auf dem Hintern gelandet. Damit hatte er wiederum gegen Grimbowls Befehl verstoßen und musste zu allem Übel eine neuerliche Tortur des Obyons über sich ergehen lassen.

Nach einer Weile hatte sich Vincent mühsam aufgerappelt und nach Hause geschleppt. Das niederträchtige Lachen der Elfen verfolgte ihn, doch er widerstand der Versuchung, einen Stein in den Baum zu schleudern, da ihn die Quälgeister sonst vielleicht von neuem piesackten.

Im Augenblick hatte er nur ein Ziel: Er wollte unbedingt vor seinen Eltern zu Hause ankommen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Vincent lief so schnell er konnte. Rennen war ausgeschlossen, sein Po tat ihm einfach zu weh.

Auf dem Heimweg hatte Vincent Zeit genug, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen die jüngsten Ereignisse auf ihn haben würden. In seiner Nase saß ein magischer Käfer, und Chanteuse bezeichnete das sonderbare Völkchen, dem er diesen Umstand zu verdanken hatte, als ausgesprochen gemein. Solange sich der Käfer in seiner Nase befand, war er den Elfen ausgeliefert.

Womöglich befahlen sie ihm gar, sich die Arme abzubeißen? Oder jemanden umzubringen? Solange der Obyon in ihm lebte, war er ihr Knecht. Wie lange mochte die durchschnittliche Lebensdauer eines Obyons wohl sein? Und wovon (schluck) ernährten sich die Biester eigentlich?

»Immer schön ruhig bleiben, Vincent«, ermahnte er sich leise, während er dahinhumpelte. »Es muss einen Ausweg geben. Denk nach.«

Ein Fahrradweg führte aus dem Park und bog nach links ab. Nur noch ein paar Straßen, dann befand er sich in Sicherheit.

»Ich könnte ihn einfach herausschneuzen«, überlegte Vincent und wühlte in seinen Taschen nach einem Tempo. Da er keines fand, schneuzte er sich kurzentschlossen in den Saum seines Hemdes.

Nachdem er eine Weile geprustet hatte, gab er es auf. Der Obyon saß zu fest.

»Moment mal.« Vincent schnippte mit den Fingern, als ihm eine neue Idee kam. »Das ist doch ein Insekt, oder? Ich könnte mir eine Ladung Insektenvernichtungsmittel in die Nase sprühen.« Seine Stimmung hob sich augenblicklich, bis ihm einfiel, dass Insektenspray giftig war.

»Verflixt«, sagte er entmutigt. Außerdem gab es bei ihnen zu Hause kein solches Mittel. In den Augen seiner Eltern war jedwedes Leben heilig.

»Vielleicht reicht ja eine winzig kleine Dosis«, überlegte er laut. »Ich könnte zu Big Tom rübergehen und mir was von ihm leihen. Seine Eltern haben einen Riesenvorrat von dem Zeug.«

Big Toms Haus schien das reinste Eldorado für Insekten zu sein. Jedes Mal, wenn Vincent seinen Freund besuchte, machten sie Jagd auf Kakerlaken. Im Keller stapelten sich Kisten voller großer schwarzer Dosen mit Gefahrstoffetiketten. In den darauf abgedruckten Texten wurde dringend davon abgeraten, den Inhalt der Spraydosen einzuatmen.

»Zu riskant«, entschied Vincent und bog in seine Straße ein. »Aber irgendwas muss es geben. Vielleicht ein Nasenpfropf?«

»Mit wem redet er?«

»Er führt Selbstgespräche, würde ich sagen.«

Vincent wusste nicht genau, ob er sich die Stimmen nur eingebildet oder ob er sie wirklich gehört hatte. Sie waren so leise, dass sie beinahe nicht zu verstehen waren. Er blickte auf und sah oben auf dem Straßenschild zwei winzige Gestalten sitzen.

»Was ist hier eigentlich los?«, sagte er. »Plötzlich wimmelt es überall von komischen Gestalten.«

»Er kann uns sehen«, stellte einer der beiden überrascht fest.

»Nein, nein, ich sehe überhaupt nichts«, erklärte Vincent hastig. »Ihr braucht mir keinen Käfer in die Nase zu stecken, ich bin schon weg.«

Damit drehte er sich um und rannte davon, so schnell er konnte.

 

Vincent hatte gerade die Eingangstür hinter sich ins Schloss geschmettert, als ihm siedend heiß einfiel, dass er sich ruhig verhalten musste. Er hatte ins Haus schleichen und sich wieder in die Kapelle einschließen wollen. Möglicherweise waren seine Eltern noch nicht im Keller gewesen und ahnten nicht, dass er ausgebüxt war, auch wenn er das für unwahrscheinlich hielt.

Er wusste, dass sie längst zu Hause waren. Auf seiner Flucht vor den geflügelten Wesen hatte er trotz aller Eile den Wagen in der Auffahrt stehen sehen. Wenn er Glück hatte, schliefen sie bereits. Andernfalls …

Aus dem Schlafzimmer vernahm Vincent Geräusche. Anscheinend waren sie im Anmarsch. Trotz seiner Schmerzen tappte er so schnell es ging die Kellertreppe hinunter. Offenbar waren seine Eltern im ersten Stock und hatten seine Abwesenheit bisher nicht bemerkt. Sonst, überlegte er weiter, wären sie nicht zu Bett gegangen, sondern hätten ihm aufgelauert. Wenn er die Kapelle rechtzeitig erreichte, kamen sie ihm vielleicht nicht auf die Schliche.

Vincent übersprang die letzten Stufen und rannte nach unten. Von oben hörte er, wie sein Vater die Schritte in die Diele lenkte. Würde er noch einen Blick in den Keller werfen? Bloß nicht herumstehen und abwarten, sagte der Junge sich, schob vorsichtig die Flügeltür zur Seite und schlüpfte in die Kapelle. Dann hängte er behutsam die Tür in die Angel zurück.

»Puh, das war knapp«, flüsterte Vincent, als er sich auf dem kalten Beton niederließ.

Er hatte es geschafft. Mit viel Glück und womöglich sogar ein wenig göttlichem Beistand war es ihm gelungen, dem drohenden Riesendonnerwetter zu entgehen. Falls sich seine Eltern um die Zeit noch zu einem Kontrollgang entschließen sollten, würden sie nichts Außergewöhnliches bemerken.

Diesmal ging er garantiert straffrei aus.

Plötzlich blendete ihn grelles Licht, und Vincent hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Zwischen den gespreizten Fingern hindurch erkannte er die Gestalt seines Bruders, der vor ihm saß und eine Taschenlampe hochhielt. Seine Miene war kalt, undurchdringlich und selbstgerecht.

»Du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten«, sagte Max.

»Ach wo«, erwiderte Vincent lahm und nicht sonderlich zutreffend.

Ein Wort von Max genügte, und schon ging es rund.

»Du hättest bis zum Morgen hierbleiben sollen«, sagte der Altere. »Zur Strafe für den Mangel an Glauben, den du heute bewiesen hast. Stattdessen machst du dich aus dem Staub und treibst dich sonst wo herum.«

»Psst«, flüsterte Vincent und überlegte fieberhaft. Womit konnte er seinen Bruder zum Schweigen bringen?

»Du sollst Vater und Mutter ehren«, zitierte Max, der vor Wut schäumte.

»Schscht«, zischte Vincent wieder. »Was hast du eigentlich hier unten verloren?«

»Ich habe auf dich gewartet«, erklärte Max hoheitsvoll. »Ich wollte dich auf frischer Tat ertappen und herausfinden, wie du abhauen konntest. Jetzt weiß ich Bescheid. Das passiert kein zweites Mal.«

»Und wenn ich in einer wichtigen Mission des Triumvirats unterwegs war?«, fragte Vincent, dessen Gedanken sich beinahe überschlugen.

»Das glaube ich dir nicht«, sagte sein Bruder. »Du willst bloß der gerechten Strafe für deine Sünden entgehen.«

»Von wegen«, log Vincent schamlos. »Was glaubst du denn, wie ich hier rausgekommen bin?« Er musste sich zusammenreißen, um weiterhin leise zu reden. »Niemand anders als das Triumvirat hat mir offenbart, dass die Tür ausgehängt ist. Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«

»Weiter«, sagte Max schon etwas milder.

Er kauft es mir ab, dachte Vincent erleichtert und schöpfte neuen Mut. »Sie haben mir gesagt, ich solle Ihnen dienen, damit sie mir meine Sünden vergeben«, fuhr er fort und achtete genau darauf, das I von Ihnen auch wirklich als Großbuchstaben auszusprechen. »Sie haben mir befohlen, in den Park zu gehen und nach den Handlangern des Bösen Ausschau zu halten.«

Vincent spürte ein leises Zwicken in der Nase. Das war eindeutig eine Warnung, schließlich hatte er strengste Anweisung, die Elfen nicht zu erwähnen. Immerhin hatte ihm niemand verboten, über kleine, geflügelte Geschöpfe zu sprechen. Diese Wesen waren sozusagen vogelfrei und konnten ihm helfen, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Ich bin also in den Park gelaufen«, berichtete Vincent weiter. »Dort habe ich dann einen Haufen winziger Wesen«, seine Kopfschmerzen nahmen urplötzlich zu, »mit kleinen Flügeln auf dem Rücken gesehen.« Die Kopfschmerzen ebbten genauso plötzlich wieder ab. »Sie haben mich angegriffen, gefangen genommen und hoch oben in einen Baum verschleppt.«

»Das ist glatt gelogen.«

Vincent zuckte überrascht zusammen und wirbelte herum. Die beiden Geschöpfe, die er auf dem Straßenschild bemerkt hatte, schwebten direkt hinter ihm. Mit ihren surrenden Flügeln sahen sie aus wie Libellen, und die winzigen Körper schimmerten im Dunkeln.

»Frechheit. Das ist üble Nachrede, Clara«, sagte das männliche Wesen empört zu seiner Begleiterin. »Er redet über uns, als wären wir Elfen.«

»Wie seid ihr denn hier reingekommen?«, fragte Vincent.

»Wir sind dir gefolgt«, erwiderte Clara.

»Du hättest uns um ein Haar zerquetscht, als du die Tür ins Schloss geworfen hast«, sagte ihr Gefährte. »Und jetzt auch noch diese dreisten Lügengeschichten. Ich sollte dir den Kopf abreißen.«

»Ganz ruhig, Nod«, ließ sich Clara vernehmen. »Wahrscheinlich weiß er nicht, wer wir sind.« Sie sah zu Vincent auf. »Du hast noch nie postepochale Wesen gesehen, nicht wahr?«

»Post was?«, fragte Vincent ratlos.

»Mit wem sprichst du da?«, wollte Max wissen.

»Mit diesen beiden«, erklärte Vincent und trat beiseite, damit sein Bruder sie ebenfalls sehen konnte.

»Welchen beiden?«, fragte Max.

»Komm schon, sie leuchten sogar«, sagte Vincent und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Irgendwas musst du doch erkennen.«

»Ich erkenne … überhaupt nichts«, erwiderte Max zögernd, aber sein Blick strafte die Worte Lügen. Irgendetwas nahm er wahr, so viel stand fest, auch wenn er nicht genau wusste, was er davon halten sollte. Max glaubte nämlich, genau wie die Eltern der beiden Jungen, durchaus an die Existenz übernatürlicher Wesen. Das war ein Eckpfeiler der Glaubenslehre des Triumvirats. Oben im Himmel gab es Engel und unter der Erde Dämonen. Welchen Reim machte er sich wohl auf diese Geschöpfe?

»Ich sehe nur deine sündigen Taten«, beharrte Max, blinzelte und schüttelte den Kopf. Er wollte es einfach nicht wahrhaben.

»Max«, sagte Vincent, während Nod und Clara leise aufstöhnten.

»Du denkst dir bloß irgendwelche Märchen über dämonische Wesen aus«, fuhr sein großer Bruder fort, »und wagst es außerdem noch, zu behaupten, das Triumvirat hätte ausgerechnet dich auf eine Mission geschickt. Glaubst du wirklich, ich falle darauf herein?«

»Okay, das war vielleicht ein bisschen weit hergeholt«, gab Vincent zu.

»Dieser Kerl verschwendet bloß unsere Zeit«, sagte Nod und schwirrte blitzschnell auf Max los.

»Stopp!« Vincent hechtete hinterher. Er verstand sich zwar nicht besonders gut mit seinem Bruder, wollte aber auch nicht, dass ihm etwas zustieß.

»Hey«, protestierte Nod, als der Junge ihn an seinem winzigen Bein festhielt.

Vincent war bass erstaunt, als ihn der kleine Mann einfach mit sich zerrte.

»Was machst du denn da?«, wollte Max wissen, der überhaupt nichts mehr verstand.

»Lass ihn los«, befahl Clara. Sie flog auf Vincent zu und trat ihm kräftig mit beiden Füßen in den Rücken.

Ein Stöhnen entfuhr Vincent, dem der Stoß die Luft aus den Lungen presste.

Als Vincent Nod völlig unerwartet losließ, wurde der Feenmann wie ein Katapult gegen Max’ Brust geschleudert.

Der Junge schrie auf, als er gemeinsam mit Nod in den hinter ihnen stehenden Altar krachte, woraufhin dieser unter lautem Getöse umkippte. Max blieb reglos liegen.

»Nod!« Entsetzt sprang Clara von Vincents Rücken und flog zu ihrem Begleiter hinüber.

Vincent ächzte und sackte auf dem Boden zusammen. Ihm tat einfach alles weh, und er blieb bewegungslos liegen. Heute hatte er schon genug Schmerzen erdulden müssen. Hoffentlich kam es nicht noch schlimmer.

»Was ist denn hier los?«, dröhnte die Stimme von Vincents Vater von der Eingangstür her.

»O nein«, murmelte der Junge schwach.

Es kam leider doch noch schlimmer.