Als Vincent den kleinen Bungalow erreichte, in dem Chanteuse wohnte, saß sie meditierend auf dem Rasenstück davor. Super, dachte er erleichtert, ich habe sie nicht verpasst.
»Keinen Schritt weiter, Kleiner.«
Der Junge wirbelte herum und blickte dann nach unten. Mit dem üblichen dreisten Grinsen stand Grimbowl neben ihm auf dem Bürgersteig.
»Du willst unserer gemeinsamen Freundin doch nicht etwa von den Ereignissen der vergangenen Nacht erzählen?«, erkundigte sich der Elf drohend.
»Genau das habe ich vor«, erklärte Vincent entschlossen und marschierte weiter auf Chanteuses Haus zu.
»Bleib sofort stehen!«, befahl Grimbowl.
Die unmittelbar darauf folgende Kopfschmerzattacke ließ Vincent ohnehin keine andere Wahl.
»Du wirst kein Wort von unserer Unterhaltung ausplaudern. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Wenn Blicke töten könnten, hätte der Elf auf der Stelle leblos zu Boden sinken müssen. Stattdessen lächelte er Vincent jedoch nur auf seine gewohnt hämische Art an.
»Vollkommen klar. Ich wollte sowieso etwas völlig anderes mit ihr besprechen«, sagte der Junge.
»Vergiss es. Du musst dich an die Arbeit machen«, erklärte Grimbowl. »Komm mit.«
Vincent war im Zwiespalt. Er wollte zwar unbedingt mit Chanteuse reden, doch die Quittung für jedweden Ungehorsam kannte er inzwischen nur zu gut. Nach einem letzten Blick auf seine tief in ihre Meditation versunkene Freundin machte er kehrt und folgte dem unangenehmen Zeitgenossen.
Kurz darauf hatte Vincent bereits begriffen, dass ihn der Elf direkt zur Schule führte, was ihn ungemein ärgerte, da er den Unterricht eigentlich hatte schwänzen wollen. Seine Familie, die Lehrer und, nicht zu vergessen, sein Bruder hatten ihm immer wieder eingetrichtert, es gebe nichts Wichtigeres als eine gute Ausbildung. Trotzdem schien es ihm im Augenblick einen Tick angesagter, etwas gegen den drohenden Untergang der Welt zu unternehmen, als Mathe und Erdkunde zu pauken.
Inzwischen hatten sie das Schulgelände erreicht und strebten Richtung Parkplatz. Dort deutete Grimbowl auf eine Limousine, die gerade heranrollte, und Vincent beobachtete, wie der reichste Junge der Schule ausstieg.
»Barnaby Wilkins«, erklärte er mit größtmöglicher Verachtung.
»Kennst du ihn?«, fragte Grimbowl. »Umso besser, das vereinfacht die Sache erheblich.«
»Soll ich ihn verprügeln?«, fragte Vincent hoffnungsvoll. Er hatte die blauen Flecken im Gesicht von Big Tom keineswegs vergessen.
»Wo denkst du hin«, sagte Grimbowl. »Wir möchten, dass du dich mit ihm anfreundest.«
»Das ist ja wohl hoffentlich ein übler Scherz!«, meinte Vincent daraufhin. »Ich soll mich mit diesem Mistkerl anfreunden?«
Grimbowl nickte unbeirrt.
»Das mache ich nicht.«
»Und ob du das tust«, gab Grimbowl zurück. »Falls du dich nicht an unsere Anweisungen hältst, explodiert nämlich dein Schädel. Möchtest du das?«
Der Junge beschränkte sich auf ein unwilliges Grunzen. Der Elf hatte recht, das wusste Vincent genau.
»Ich habe recht«, sagte Grimbowl, »das weißt du genau.«
»Okay, okay, ich freunde mich mit Barnaby an«, lenkte der Junge ein. »Aber warum? Was liegt euch denn nur an diesem verwöhnten Bengel?«
»Kannst du dich an meinen Kumpel Plimpton erinnern?«, fragte Grimbowl. »Auf dem Schülerforum der Wissenschaft hat er sich Barnabys Projekt gründlich angesehen, du weißt schon, es ging um Regierungsverschwörungen. Wir glauben, er könnte da eine heiße Spur entdeckt haben. Hast du schon mal von den Portalen gehört?«
»Portalen?«, wiederholte Vincent erstaunt. »Was soll das sein?« Er spielte lieber den Ahnungslosen, sonst stellte Grimbowl ihm womöglich noch unangenehme Fragen. Er hielt es für besser, wenn die Elfen nichts von Nod und Clara erfuhren, denn er war sich ziemlich sicher, dass Feen und Elfen nicht gut miteinander auskamen.
»Ihr glaubt, die Regierung könnte diese Portale geheim halten?«, fragte Vincent, nachdem Grimbowl ihm alles erklärt hatte.
»Genau das sollst du für uns herausfinden«, sagte der Elf. »Freunde dich mit Barnaby an, bring in Erfahrung, woher die Idee für das Projekt stammt, und gib mir dann Bescheid. Kapiert?«
»Ja, alles klar«, erwiderte Vincent. »Warum habt ihr eigentlich Barnaby keinen Käfer in die Nase gesteckt?«
»Weil du eben der Erste warst«, antwortete der Elf unwirsch. »Junge, du kannst einen vielleicht löchern. Weißt du was? Ab sofort keine Fragen mehr, Kleiner.«
»Aber was … Aua!«
»Genau«, sagte Grimbowl. »Das ist die einzige Antwort, die du von nun an auf deine Fragen erhältst. Hör endlich auf, dich auf dem Boden zu wälzen, sondern geh zu Barnaby und freunde dich mit ihm an.«
Als die Schmerzen allmählich nachließen, stand Vincent auf und machte sich gehorsam auf den Weg zum Parkplatz. Barnaby plauderte gerade mit seinen Leibwächtern Bruno und Boots.
»Einfach nicht zu fassen, was ich hier tue«, murmelte Vincent, während er sich seinem Erzfeind näherte. »Ich muss unbedingt diesen Käfer loswerden.«
Der Volltrottel hatte ihn inzwischen bemerkt und seine Leibwächter alarmiert. Vincent dachte angestrengt darüber nach, mit welchem Satz er das Gespräch eröffnen sollte. Wie um alles in der Welt freundet man sich mit jemandem an, den man nicht ausstehen kann? Hatten sie vielleicht irgendwelche gemeinsamen Interessen?
»Hey, Barnaby«, sagte Vincent und blieb in einiger Entfernung stehen. »Wie geht’s denn so?« Der Angesprochene starrte ihn für einen Augenblick völlig verdutzt an, was Vincent als gutes Zeichen deutete. »Prima Wetter heute, oder?«, fuhr er betont munter fort und quälte sich ein Lächeln ab.
»Was willst du hier?«, fragte Barnaby.
»Nichts weiter.« Vincent spähte zu den Leibwächtern hinüber. Ihre Mienen hinter den dunklen Sonnenbrillen wirkten undurchdringlich, aber er machte sich nichts vor. Ein Wort von Barnaby, und sie würden über ihn herfallen.
»Greift ihn euch«, befahl Barnaby.
Na gut, dann eben drei Wörter.
»Augenblick!«, sagte Vincent. Bruno hatte ihn bereits am Hemd gepackt und hochgehievt. »Ich wollte mit dir über dein Wissenschaftsprojekt reden.«
»Was genau wolltest du mit mir besprechen?«, erkundigte sich Barnaby, der amüsiert beobachtete, wie sein Leibwächter Vincent kopfüber drehte und ihn dann am Bein festhielt.
»Dein Projekt war echt gut«, erklärte Vincent, während er wie ein Pendel an Brunos Hand hin und her schwankte. In letzter Zeit hänge ich ständig kopfüber, dachte er. Dabei mag ich das überhaupt nicht.
»Natürlich war es gut«, erwiderte Barnaby. »Ich hatte die beste Ausstellung, die neueste Technik und das einleuchtendste Untergangsszenario.«
»Absolut«, pflichtete Vincent bei. »Leider hatte ich keine Zeit, es mir gründlich anzusehen. Deshalb wollte ich dich fragen, ob ich noch mal einen Blick darauf werfen darf.«
Barnaby schien ernsthaft über die Bitte nachzudenken. Er kauft es mir ab, freute sich Vincent. Jetzt ist der richtige Augenblick für den entscheidenden Schritt. »Ich weiß natürlich, dass wir nicht immer einer Meinung waren«, fuhr er fort. »Aber das lässt sich ändern. Ich glaube, wir könnten Freunde werden.«
»Freunde? Wir beide?« Barnaby lachte laut heraus. »Was soll ich denn mit einem Versager wie dir anfangen?«
»Hör mal, ich habe auch nie viel von dir gehalten«, versicherte Vincent. »Bis ich dein Projekt gesehen habe«, fügte er hastig hinzu, als Bruno ihm grob den Knöchel verdrehte. »In dir steckt mehr, als man denkt. Gib mir eine Chance, dann wirst du feststellen, dass es bei mir genauso ist.«
Barnaby dachte wieder nach, während Vincent geduldig dahing. Jetzt half nur noch Daumendrücken.
»Nein«, sagte der Angeber schließlich. »Zieh Leine, Versager.«
»Sekunde, Barnaby.«
Alle vier drehten sich zu der Limousine um. Ein Mann mittleren Alters mit zurückgegeltem grauem Haar und Anzug ließ die Scheibe ganz herunter.
»Zumindest kannst du dem Jungen keinen schlechten Geschmack im Hinblick auf die Wahl seiner Freunde vorwerfen«, sagte der Fremde. »Auch wenn er überhaupt keinen Geschmack hat, was die Wahl seiner Kleidung angeht.«
Barnaby lachte auf, die Leibwächter wieherten ebenfalls. Vincent brachte mit knapper Not ein Lächeln zustande.
»Mein Vater«, erklärte Barnaby. »Einer der führenden Manager von Alphega.«
»Francis Wilkins«, ergänzte sein Vater. »Ich würde dir ja die Hand schütteln, aber …«
»… Sie mögen es nicht, wenn man sich so hängen lässt?«, beendete Vincent den Satz für ihn.
»Warum gibst du dem Jungen keine Chance?«, fragte Mr. Wilkins und zwinkerte seinem Sohn verschwörerisch zu.
Barnaby lächelte und nickte zurück.
Hoppla, dachte Vincent.
Die Fensterscheibe glitt wieder nach oben, und die Limousine rollte langsam davon. Auf eine Handbewegung Barnabys ließ Bruno Vincents Bein los.
»Okay, du sollst deine Chance bekommen«, sagte Barnaby. »Erst mal habe ich allerdings einen Job für dich. Du musst mir beweisen, dass du jemand bist, mit dem ich mich sehen lassen kann.«
»Einverstanden.« Vincent erhob sich langsam und rieb sich dabei den schmerzenden Schädel. »Was soll ich tun?«
»Du sollst jemanden für mich verprügeln.«
»Jemanden verprügeln?«, fragte Vincent.
»Hast du etwa nicht genug Mumm in den Knochen, um einen anderen Jungen herauszufordern?«, fragte Barnaby, woraufhin die Leibwächter herablassend grinsten.
»Doch, doch. Keine Sorge«, versicherte Vincent.
»Ausgezeichnet«, sagte Barnaby, »dann knöpf dir mal deinen Freund Big Tom vor und nimm ihn ordentlich in die Mangel.«