Kapitel

Willkommen zurück. Nick fühlte den Puls in seinen Schläfen pochen. »Das ist nicht wahr«, flüsterte er.

Die Begrüßung zerfloss zu roten Wellen, bevor neuer Text erschien.

Da irrst du dich. Es beginnt eine neue Runde, Nick. Mit neuem Einsatz. Diesmal geht es um alles.

Spracherkennung, das verdammte Spiel verfügte jetzt über Spracherkennung. Nick schloss kurz die Augen. Er würde versuchen müssen, mit Adrian in Kontakt zu kommen. Außerdem mit Victor und vielleicht sogar mit Colin. Sie waren sicher auf Facebook, und zumindest Victors Mailadresse sollte er noch haben, jedenfalls hatte der ihm vor drei Jahren zu Weihnachten eine Happy-Holidays-Mail geschrieben. Oder war es schon fünf Jahre her?

Aber vielleicht musste er auch niemanden von seinen alten Freunden belästigen, er konnte erst einmal versuchen, das Problem selbst zu lösen. Als Erstes würde er den Rechner zurücksetzen und neu installieren.

Wir warten, Nick.

Die Schrift hatte sich wieder gewandelt. Er wehrte sich gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, das in ihm aufstieg. »Ich werde nicht mitmachen. Mir hat das letzte Mal wirklich gereicht. Tut mir leid, ich habe keine Lust.«

Du hast keine Wahl.

Na, das würden sie noch sehen. »Und ob ich die habe«, murmelte Nick und zog das USB-Kabel, an dem die Kamera hing, aus der Computerschnittstelle. Er würde die Fotos notfalls auf den alten Computer überspielen, den er auf dem Boden neben der Couch stehen hatte. Der war zwar langsamer, aber funktionstüchtig. »Ich bin kein Schüler mehr, so wie damals. Ich falle nicht wieder auf die Tricks herein, mit denen Erebos mich rumgekriegt hat, ich kenne das System. Und ich weiß zwar nicht, was diesmal dahintersteckt, aber es ist sicher nichts Gutes.«

Wie du meinst.

Die Schrift verschwand. Das Schwarz löste sich auf. Dahinter kam Nicks Desktophintergrund zum Vorschein. Alle Programme waren noch vorhanden, aber nirgendwo entdeckte Nick das unheilverkündende rote E.

Was leider ebenfalls fehlte, war der Ordner mit den Hochzeitsfotos, die er gerade überspielt hatte, aber das sollte kein Problem sein, sie waren ja auf der Speicherkarte der Kamera gesichert.

Dachte er. Doch als er den Ansichtsmodus des Fotoapparats anwählte, zeigte der Zähler null Aufnahmen. Mit einem Gefühl, als würde sich sein Brustkorb mit heißem Beton füllen, schaltete Nick die Kamera aus. Schickte ein Stoßgebet zum Himmel und schaltete sie wieder ein.

Die Daten auf der Speicherkarte waren gelöscht. Von den eintausendsiebenhundert Fotos war kein einziges mehr übrig.

Nick gab nicht sofort auf, obwohl er schon ahnte, dass seine Versuche vergeblich sein würden, schließlich erinnerte er sich noch gut daran, wie es beim letzten Mal gewesen war. Wenn das Spiel jemanden bestrafen wollte, dann tat es das, ohne Rücksicht. Trotzdem startete er den Rechner neu, suchte den Bilderordner im Papierkorb und in der Cloud, holte die Speicherkarte aus der Kamera und steckte sie in eine andere – nichts davon brachte auch nur den geringsten Erfolg.

Er würde Cindy und Max sagen müssen, dass es keine Fotos von ihrer Hochzeit gab. Nur die, die ein paar beschwipste Gäste geschossen hatten; vermutlich waren siebzig Prozent davon Selfies.

Ihm war zum Heulen zumute. Wieso drängte dieses Drecksspiel sich ein zweites Mal in sein Leben? Oder halt, Moment – das Spiel selbst tat wahrscheinlich gar nichts, jemand musste es neu zum Laufen gebracht und wieder auf die Menschheit losgelassen haben. Es war ja auch beim letzten Mal nicht einfach aus dem Nichts gekommen. Aber darüber konnte er sich später Gedanken machen. Im Moment war etwas anderes wichtiger.

Das Smartphone wog schwer in Nicks Hand. Sollte er das Brautpaar gleich anrufen und den beiden die schlechte Nachricht überbringen? Oder …

Einen Rettungsversuch wagen. Einen einzigen.

»Gib die Fotos zurück«, flüsterte er. »Jetzt gleich. Dann spiele ich mit dir.«

Er hatte erwartet, dass der Bildschirm sich sofort verdunkeln würde, doch es tat sich nicht das Geringste. Nicks Kehle wurde trocken. Was, wenn sich das Spiel in der ihm eigenen Konsequenz wirklich schon gelöscht hatte? Unwiderruflich? Vom Handy hatte er es selbst entfernt, also hatte Erebos seinen Vorschlag wohl gar nicht gehört.

Er fühlte leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Cindy und Max würden traurig und sauer sein, zu Recht, so etwas durfte einfach nicht passieren. Wenn sie andere Leute davor warnten, ihn zu engagieren, konnte er ihnen das noch nicht einmal übel nehmen.

»Ich brauche die Fotos«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Bitte.«

Dunkelheit legte sich über den Bildschirm, und diesmal sah Nick es mit Erleichterung.

Du erinnerst dich noch an die Regeln?

Ja, und ob. Sie hatten dazu geführt, dass die Leute in seiner Schule kaum noch normal miteinander gesprochen hatten, aus Angst davor, dass das Spiel sie ausschließen würde. »Niemandem etwas erzählen, niemandem etwas zeigen«, fasste er missmutig zusammen. »Auch nichts im Internet posten. Den Namen des Spielcharakters geheim halten. Nur spielen, wenn keiner dabei ist. Und möglichst nicht sterben, denn dann ist das Spiel vorbei.«

Gut. Das alles gilt nach wie vor. Was sich geändert hat, sind die Konsequenzen, die du tragen musst, wenn du dich nicht daran hältst. Oder stirbst.

Er hatte es befürchtet. Ein Rauswurf, so wie früher, wäre ja absolut in seinem Sinn. Er könnte ein paar Minuten lang spielen und dann in die erste Schlucht springen oder mit Anlauf in ein feindliches Schwert rennen. Doch so einfach würde Erebos ihn nicht davonkommen lassen. Sekunden später bestätigte das Spiel seine Vermutung.

Du wirst diesmal nicht verbannt. Du wirst bestraft.

Die Frage nach dem Wie lag ihm kurz auf der Zunge, aber sie war im Grunde überflüssig. Er hatte bereits eine Kostprobe erhalten, die gesamte Arbeit des letzten Tages war verschwunden. Ob er sie zurückbekam, hing vom guten Willen des Spiels ab. »Alles klar«, knurrte er. »Und? Können wir dann anfangen? Ich habe heute noch etwas anderes zu tun.«

Die Schrift verschwand, der Bildschirm blieb dunkel. Nick trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte; das dauerte alles viel zu lange. Wahrscheinlich, begriff er, war das eine Reaktion auf seine Ungeduld. Er hatte noch etwas anderes zu tun? Tja, Pech.

Nichts passierte. Nichts. Das Spiel wollte ihn ganz offensichtlich auf die Probe stellen. Nick vergrub das Gesicht in den Händen. Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Die Arena. Das unterirdische Labyrinth, in dem es von riesigen Skorpionen wimmelte. Eine Weide voller Schafe mit rasiermesserscharfen Zähnen und blutig verschmierten Mäulern …

Als er wieder hochblickte, war der Monitor immer noch dunkel. Es war nichts zu sehen, aber vielleicht etwas zu hören? Die Kopfhörer waren in den Rechner eingesteckt, Nick griff zögernd danach. Noch eine Erinnerung war plötzlich wieder da, in aller Deutlichkeit: die an das schmerzhafte Geräusch, wenn man im Spiel verletzt wurde. Ein hoher kreischend-quietschender Ton, als würde jemand mit einer Gabel über eine Schultafel kratzen.

Er setzte sich die Kopfhörer auf, und sofort wurde klar, dass das Spiel noch aktiv war. Tocktock. Entferntes Klopfen wie von einem Herzen, einem, das tief unter der Erde schlug. Auch das hörte Nick nicht zum ersten Mal, und nun mischte sich in seinen Unwillen etwas wie … nervöse Vorfreude. Was natürlich vollkommener Quatsch war, aber er konnte nichts dagegen tun. Er würde noch einmal einen Blick in diese Welt werfen können, die ihn damals so fasziniert hatte und aus der er so plötzlich und brutal geworfen worden war, dass er es kaum ertragen hatte.

Wie hatten die anderen Spieler geheißen? Xohoo hatte es gegeben. Blackspell. Lelant. Ach, und Hemera, doch mit ihr hatte er nie gespielt, denn das war …

Willkommen zurück.

Tritt ein.

Dies ist Erebos.

Nick hob die Hand, die bereits auf der Maus gelegen hatte. Etwas fehlte hier, nämlich das Angebot, umzukehren. Das damals niemand ernsthaft in Betracht gezogen hatte, aber immerhin war die Möglichkeit da gewesen. Diesmal schien es nur einen Weg zu geben: den nach vorne, hinein in die Welt des Spiels.

Er seufzte. Klickte auf Tritt ein.

Trübes Licht erhellte den Bildschirm. Nick beugte sich vor und lachte unwillkürlich auf. Die Gestalt, die in einer Wiese mit kniehohem Gras stand und gegen die tief stehende Sonne blinzelte, kannte er nicht nur, er hatte sie selbst geschaffen. Ihr Anblick war ihm auch nach all der vergangenen Zeit noch in jedem Detail vertraut. Sein Dunkelelf. Hellblondes Haar, das stachelig vom Kopf abstand. Spitze Ohren, grüne Augen und ein verwegener Zug um den Mund.

»Sarius«, flüsterte Nick, und als hätte er damit ein Zeichen gegeben, hallte der Name vielstimmig in seinen Kopfhörern wider.

Sarius. Saarius. Sa-ri-us. Willkommen zurück, Sarius.

Der Elf wandte sich Nick zu. Lächelte und beugte grüßend den Kopf. Einen winzigen Moment lang war Nick versucht, zurückzugrüßen, bremste sich aber schnell wieder. Es war nichts weiter als eine verquere Form von Nostalgie, die ihn gerade zu packen drohte.

Das Gras bog sich unter einem leichten Windstoß, und Nick führte Sarius in den Schatten eines nahen Wäldchens, das freundlich wirkte. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, denn Sarius war bei Weitem nicht mehr so gut ausgerüstet wie vor knapp zehn Jahren. Er trug zwar einen ledernen Brustpanzer und ein Schwert, aber er besaß weder Helm noch Schild. Beim letzten Mal, bevor geflügelte Dämonen ihn getötet hatten, war Sarius im Besitz ganz anderer Gegenstände gewesen. Er hatte fantastische Ausdauer- und Verteidigungswerte gehabt und eine Angsteinflößende Waffe, er war kurz davor gewesen, in den Inneren Kreis aufgenommen zu werden …

Nun war seine Kondition ein Witz. Nick ließ Sarius in das Wäldchen hineinlaufen, ein wenig springen, über ein paar große Steine klettern und sah zu, wie der blaue Balken der Ausdaueranzeige immer kürzer wurde.

Er musste gewissermaßen wieder bei null beginnen. Nick warf einen Blick auf die Uhr. Gleich halb drei, mit jeder Minute, die verstrich, verminderte sich die Chance, dass er dem Brautpaar heute noch eine kleine Auswahl von Bildern schicken konnte. Wenn er sie überhaupt wiederbekam; es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Morgen war nicht so viel Zeit, er musste in die Uni, außerdem sollte er lernen …

Als Nick wieder hochblickte, hatte sich in dem Wald rund um Sarius etwas verändert. Er wusste nicht sofort, woran es lag – vielleicht war es noch dunkler geworden. Stiller.

Ja, tatsächlich hatten die Vögel zu singen aufgehört, und nun drang über Nicks Kopfhörer etwas wie entferntes Donnergrollen. Als würde ein Unwetter aufziehen. In einiger Entfernung, zwischen den Baumstämmen, leuchtete etwas Helles auf, war aber sofort wieder verschwunden.

Ein Signal? Nick ließ seinen Dunkelelf auf die Beine kommen und steuerte ihn langsam auf die Stelle zu. Die Bäume standen hier dichter, zweimal verfing Sarius’ Wams sich in dornigen Ästen, bis Nick ihn sein Schwert ziehen und sich den Weg freihacken ließ.

Er erinnerte sich noch genau, was beim letzten Mal am Beginn des Spiels gestanden hatte: eine Begegnung mit dem Toten Mann, der jeden der Neuankömmlinge begrüßt hatte. Begrüßt und gewarnt. Nick hatte die Warnung ebenso in den Wind geschlagen, wie die anderen Spieler. Ein großer Fehler wie sich später herausstellte, denn der Mann hatte besser als jeder andere gewusst, wovor er warnte.

Würde er wieder hier sein? War das überhaupt denkbar?

Der Wind legte sich. Nun herrschte völlige Stille in der Welt von Erebos, nur Sarius’ Schritte waren noch zu hören. Nick bewegte ihn langsam vorwärts, ließ ihn vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, in dem Bewusstsein, dass überall Fallen lauern konnten.

Alles, was ihn umgab, war gleichzeitig vertraut und neu; es wirkte noch lebensechter als beim ersten Mal, noch detailreicher. Das Spiel war mit der Zeit gegangen.

Und dann sah Nick zwei fahlgelb schimmernde Schlitze im Dunkel zwischen den Bäumen. Im nächsten Augenblick trat eine Gestalt aus dem Dickicht, größer als in seiner Erinnerung. Furchterregender.

»Sarius.« Die Stimme klang, als würde man Steine aneinanderreiben. »Du bist zurückgekehrt.«

Früher hatte Nick seine Antworten an den Boten tippen müssen, und auch umgekehrt waren dessen Anweisungen meist schriftlich erfolgt. Diesmal gab es kein Eingabefeld, keinen blinkenden Cursor. Sie sprachen miteinander.

»Das bin ich«, antwortete Nick also. »Wenn auch nicht freiwillig.«

Die hagere Gestalt näherte sich ein weiteres Stück. Mattes Licht fiel auf den kahlen Schädel, die graue Kutte und die überlangen Knochenfinger, die aus den Ärmeln ragten. Der Bote mit den gelben Augen, der Nick noch Monate nach dem Ende des Spiels in seinen Träumen verfolgt hatte.

»Freiwillig oder nicht, das spielt keine Rolle«, erwiderte er. »Du bist hier, und du wirst bleiben, solange du nützlich bist.«

Nick runzelte die Stirn. »Was bedeutet das im Klartext? Beim letzten Mal hieß es, ich könne das Spiel jederzeit beenden.«

Im Gesicht des Boten rührte sich kein Muskel. »Das war damals. Diesmal gehörst du uns, bis wir keine Verwendung mehr für dich haben.« Er griff in seine Tasche und zog etwas hervor, das wie eine Schriftrolle aussah. »Das hier ist, was du suchst, nicht wahr?« Er rollte das Papier auf, zeigte Nick, was darauf abgebildet war.

Cindy, in dem Moment, als eine ihrer Freundinnen ihr den Schleier im Haar festmachte. Es war eines von Nicks Fotos, eines von tausendsiebenhundert.

»Es gibt nicht weit entfernt von hier einen Hügel, auf dem einst eine große Schlacht geschlagen wurde«, fuhr der Bote fort. »Das wäre ein guter Ort, um deine Suche zu beginnen.«

Ein amüsierter Zug umspielte seine schmalen Lippen, als er die Hand hob, sich umdrehte und in den Schatten des Waldes verschwand.