
Das Abendessen zog sich für Derek in beinahe unerträgliche Länge. Weniger deshalb, weil Mum Fisch gebraten hatte und das Herausoperieren der Gräten wie immer eine mühsame Prozedur war, sondern weil Dad erst um halb neun nach Hause kam.
Mums Gereiztheit verflog beim Anblick seines erschöpften Gesichts. »Schlimmen Tag gehabt?«
Er zuckte nur mit den Schultern, wuschelte Rosie durchs Haar und ließ sich dann auf den Stuhl am Kopfende des Tisches fallen. Derek hatte er kaum eines Blickes gewürdigt, was vielleicht auch daran lag, dass Rosie ihn mit ihrer Musical-Besetzungs-Geschichte zutextete, inklusive erster Hörproben.
Immerhin brachte sie ihn zum Lachen, das war Derek zuletzt gelungen, als er noch im Krabbelalter gewesen war. »Ihr seid euch zu ähnlich«, sagte Mum oft, wenn Derek anklingen ließ, dass Dad am Tag kaum zwei Worte mit ihm wechselte.
Damit konnte sie recht haben. Er und sein Vater waren in der Familie die mit dem dunklen Haar und dem düsteren Gemüt – Dad schweigsam und ernst, Derek selbst unsicher und wütend. Mum und Rosie waren dagegen beide lebendig, redselig und meistens abartig gut gelaunt.
Schon möglich, dass Dad sich daher lieber an sie hielt, aber insgeheim glaubte Derek, dass der Grund dafür ein anderer war.
Der Fisch auf seinem Teller war dunkelbraun gebraten und knusprig, genau so, wie er es liebte. »Ich hatte heute meine Physik-Präsentation«, erzählte er, als Rosie gerade eine Sprechpause einlegte, um Luft zu holen. »Lief gut. Mr Henley war total zufrieden.«
»Toll, das freut mich!« Mum strahlte. Dad nickte immerhin wohlwollend. »Welches Thema?«, erkundigte er sich.
Dereks Laune sank mit einem Schlag. Darüber hatten sie erst vor zwei Tagen gesprochen. Er hatte Dad den ganzen Aufbau seiner Arbeit dargelegt, stolz darauf, wie wissenschaftlich alles klang. »Die Schalenstruktur der Atome«, sagte er leise und fühlte, wie das vertraute Grollen in seinem Inneren lauter wurde.
»Ah.« Dad zog eine lange Gräte aus seinem Kabeljau. »Interessant.«
Derek fing Rosies Blick auf, mit dem sie ihn bat, nicht auszurasten. Er nickte. Konzentrierte sich auf sein Essen und wünschte sich, es wäre schon vorbei.
Dieses Dorf, das er im Spiel vorhin beinahe erreicht hätte – würde er es wiederfinden? Er wollte sich so gerne näher dort umsehen, es hatte verlockend gewirkt. Die einladenden Lichter. Die Edelsteinblüten. Er musste die Stelle suchen, an der er aus dem Spiel geflogen war.
Oder eher rauskatapultiert worden, wenn man es genau nahm. Weil Rosie ins Zimmer platzen und ihn unterbrechen musste …
Der Druck in seinem Inneren nahm zu. Als würde da etwas sitzen und sich aufplustern. Er kannte das Gefühl. Sobald dieses Etwas ihm die Luft zum Atmen abdrückte, war es gut möglich, dass er rumschrie oder einen Teller an die Wand pfefferte – alles schon passiert.
Er atmete aus und wieder ein. Dachte an Maia und wie sie ihn heute angesehen hatte. Als wäre sie wirklich beeindruckt gewesen. Und danach waren sie sich noch einmal über den Weg gelaufen; er hatte sie erkannt, sie ihn bestimmt nicht. Soryana. Die Vampirin, die Maia so sehr glich. Sie hatten sich beide für das gleiche Volk entschieden, zeigte das nicht, wie ähnlich sie sich waren? Seelenverwandt.
Der Gedanke ließ den Druck in seinem Inneren fast verschwinden. Derek fühlte Mums Hand auf seiner Schulter. »Alles gut?«
»Ja. Ist es.«
»Noch eine Portion? Es ist genug da.«
»Nein danke. Ich habe noch ein paar Sachen für die Schule zu erledigen.«
Er trug seinen Teller in die Küche und stellte ihn in den Geschirrspüler, dann verzog er sich in sein Zimmer. Hängte das »Bitte nicht stören«-Schild an die Türklinke, das Rosie ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag gebastelt hatte. Sie freute sich jedes Mal, wenn er es verwendete, und hielt sich normalerweise an seinen Wunsch.
Das rote E leuchtete ihm von seinem Notebook entgegen. Er stülpte sich die Kopfhörer über und klickte es an.
Wald. Ja, er ist in einem Wald, der aussieht wie der, den er verlassen musste. Es ist immer noch Nacht, der Mond spiegelt sich in Torqans Helm und lässt die edelsteinartigen Blumen wirken, als würden sie von innen leuchten. Die Stelle, an der er steht, ist allerdings eine andere als zuvor.
Er dreht sich einmal um die eigene Achse. Von Mandrik und BloodWork ist weit und breit nichts mehr zu sehen, aber damit hat Torqan auch nicht gerechnet.
Er geht ein paar Schritte weiter, und die Musik ist wieder da, sie hüllt ihn ein und macht ihm Mut. Er ist auf dem richtigen Weg, daran besteht kein Zweifel. Und tatsächlich, kurz darauf erreicht er die Stelle, die er gesucht hat. Aus der Senke, die vor ihm liegt, dringt warmes, einladendes Licht durch die Zweige bis zu ihm. Über einen bogenförmigen Weg beginnt er mit dem Abstieg.
Nun sieht er zum ersten Mal genauer, woher das Licht kommt. Es ist wirklich eine kleine Siedlung, die vor ihm liegt, sechs Hütten und drei hügelartige Höhlen. Gut die Hälfte der Behausungen muss bewohnt sein, denn im Inneren brennen Feuer oder zumindest Kerzen.
Torqan spürt, dass er hier keine Gefahr zu erwarten hat. Es ist ein friedlicher Ort, einer, der ihn willkommen heißt wie einen Freund. Oder einen Sohn.
Er ist fast bei der ersten Hütte angelangt, als jemand aus einer der Höhlen tritt. Ein groß gewachsener Mann mit dunklem Bart, in dem sich schon graue Spuren zeigen. Er kommt direkt auf Torqan zu und betrachtet ihn mit freundlicher Neugierde. »Sei gegrüßt, Fremder. Was führt dich nach Rhea?«
Seine Stimme ist tief und einnehmend. Torqan betrachtet den Mann, sucht vergebens nach dem roten Gürtel, an dem man die anderen Kämpfer erkennt. Räuspert sich. »Der Zufall. Ich war auf dem Weg nach Osten, doch dann habe ich meine Begleiter verloren.«
Der Mann lächelt. »Du bist ein Krieger der Nacht und glaubst an Zufall?«
Es dauert einen Moment, bis Torqan versteht, was gemeint ist. Er ist Vampir. Ist sein Volk dafür bekannt, besonders abergläubisch zu sein? »Vielleicht war es ja auch das Schicksal«, sagt er und kommt sich dabei ein bisschen lächerlich vor.
»Vielleicht.« Der Mann streckt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Idmon. Darf ich wissen, wer du bist?«
»Ich heiße Torqan.« Er hat einen Moment gezögert, es ist das erste Mal, dass er seinen Namen laut ausspricht.
Es fühlt sich merkwürdig an.
Es fühlt sich gut an.
»Wenn du deine Begleiter suchst, so werde ich dir kaum helfen können«, erklärt Idmon. »Hier ist heute den ganzen Tag über niemand vorbeigekommen. Aber wenn du Unterschlupf willst, den gewähre ich dir mit Freuden. Ich habe einen Kessel Suppe auf dem Feuer, falls du hungrig bist.«
»Gerne.« Torqan nimmt die Einladung an, ohne lange nachzudenken. Gut, der Bote hat ihn mit den Barbaren nach Osten geschickt, und Suppe in einer Hütte klingt nicht gerade nach Abenteuer, aber es wäre unhöflich, Idmons Gastfreundschaft auszuschlagen. Außerdem will Torqan das Dorf noch nicht verlassen, es ist einfach wunderschön hier. Dunkel, aber nicht auf bedrohliche Art. Eher wie in einem behaglichen Versteck.
In Idmons Behausung verstärkt sich dieser Eindruck noch. Es ist keine Hütte, sondern ein in den Fels gehauener Raum mit Nischen und funkelnden Tropfsteinen. An den Wänden reiht sich Buch an Buch in steinernen Regalen, dazwischen stecken da und dort Schriftrollen.
An einer Kette über der Feuerstelle hängt ein kupferfarbener Kessel, in dem es verheißungsvoll blubbert.
»Nimm Platz.« Idmon weist auf einen der Stühle, die um den grob gezimmerten Holztisch stehen. Er stellt einen Zinnkrug vor Torqan hin und gießt etwas Goldgelbes hinein. »Du wanderst noch nicht lange durch unsere Wälder, habe ich recht?«
Sieht man ihm das an? »Nein. Ich bin neu hier. Also … fremd. Und ich habe keine Karte gefunden, die mir hilft, mich zurechtzufinden.«
Idmon lächelt, kehrt an seinen Kessel zurück und rührt darin um. »Dann bist du bei mir richtig. Ich kenne diese Welt, ich kenne ihre Bewohner und ihre Gebräuche. Manchmal kenne ich sogar die Zukunft.« Er füllt zwei Holzschüsseln mit Suppe und bringt sie an den Tisch. »Wenn du etwas wissen möchtest, frage mich.«
Die Gelegenheit wird Torqan sich nicht entgehen lassen. Die erste Frage, die ihm in den Sinn kommt, betrifft Soryana – ob Idmon sie kennt und wo man sie finden kann –, doch damit anzufangen ist ihm unangenehm. Aber es gibt auch anderes, das er wissen möchte. »Ist es wirklich so, dass ich hier nur eine Chance habe? Dass es vorbei ist, wenn ich sterbe?«
Um den Mund seines Gastgebers spielt ein amüsiertes Lächeln. »Warum sollte das nicht so sein? Der Tod ist unwiderruflich. Für alle.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Dachtest du, du wärst unsterblich, nur weil du ein Krieger der Nacht bist?«
»Nein, das habe ich nicht gemeint, ich …« Er bricht verlegen ab. »Ich wollte nur wissen, wie vorsichtig ich sein muss. Wie viel ich riskieren kann.«
In Idmons Augen funkelt es. »Der Tod kommt nicht nur zu denen, die es gefährlich lieben. Er nimmt sich auch die, die Sicherheit suchen. Oder Nahrung.« Ohne Torqan aus den Augen zu lassen, deutet er auf dessen Suppenschüssel. »Hast du dir überlegt, dass ich dich töten könnte, ohne ein Schwert in die Hand zu nehmen?«
Nein, das hat er nicht. Unsicher bewegt er seinen Holzlöffel in der dunkelgelben Flüssigkeit. Da, wo sie in Bewegung gerät, bilden sich goldfarbene Schlieren. Idmon selbst hat noch nichts gegessen, fällt ihm jetzt erst auf.
»Du würdest mich vergiften?«
»Nein.«
»Warum sagst du dann so etwas?«
Sein Gegenüber beugt sich vor. »Weil du von selbst nicht auf die Idee gekommen wärst. So wie die meisten verlorenen Wanderer. Die Frage ist doch: Vertraust du mir?«
Bis vor einer Minute hat Torqan das getan, er hat sich wohlgefühlt. Gut aufgehoben. Nun fragt er sich, ob er nicht vielleicht in eine Falle gegangen sein könnte.
Aber es spricht alles dagegen. Idmons Freundlichkeit. Das Gefühl, willkommen zu sein, das ihm sogar der Wald vermittelt. Wenn das Betrug ist, dann …
Er beschließt, es darauf ankommen zu lassen, und führt den Löffel zum Mund. Zweimal, dreimal, dann legt er ihn hin und wartet.
Nichts passiert, außer, dass draußen der Wind auffrischt und den Wald rauschen und raunen lässt. Die Flammen unter dem Kupferkessel flackern.
Idmon hat Torqan keinen Moment lang aus den Augen gelassen. Nun lächelt er. »Bist du überrascht? Ich sagte doch, ich würde dich nicht vergiften.«
»Stimmt. Und ich habe dir geglaubt und habe recht gehabt.« Er fühlt sich, als hätte er eine Probe erfolgreich bestanden. Als wäre er in Idmons Achtung gestiegen. »Du hast gesagt, du könntest die Zukunft sehen?«
Sein neuer Freund nickt. »Ich dachte mir schon, dass dich das interessieren wird.«
»Kannst du mir etwas dazu sagen? Es muss nicht viel sein, bloß irgendetwas, das mich morgen erwartet?«
Idmons Blick gleitet zur Seite, dann schließt er die Augen. Einige Zeit lang ist es still im Raum. Nur der Wind trägt ein Geräusch heran; ein Heulen, das von einem Wolf stammen könnte.
»Berge«, sagt Idmon schließlich. »Feuerberge.«
Torqan fragt nicht weiter nach, wahrscheinlich liegen sie im Osten, dorthin wird er sich wohl oder übel wenden müssen, wenn er den Boten nicht verärgern will. Überhaupt: der Bote! Der ist ein Thema, über das er gerne mehr erfahren würde.
Bei seiner Erwähnung wird Idmons Miene undurchdringlich. »Der Bote mit den gelben Augen. Vor ihm habt ihr alle die größte Angst, nicht wahr?«
»Ach, Angst …«, sagt Torqan unbehaglich. »Angst nicht gerade. Aber etwas stimmt nicht mit ihm. Ich habe dir doch von den beiden Barbaren erzählt. Einer davon – ein echter Riese, heißt BloodWork – scheint ihn besser gekannt zu haben. Er wollte nichts mit ihm zu tun haben, obwohl er ein Geschenk bekommen sollte.«
Idmon schweigt. Zeichnet mit den Fingern auf der Tischplatte die Maserung des Holzes nach. »Es ist nicht der Bote, auf den ihr euer Augenmerk richten solltet«, sagt er dann leise. »Er ist ein Bote, verstehst du? Es liegt in der Natur seiner Aufgabe, von jemandem geschickt zu werden.«
Da war etwas dran. »Von wem?«
Für die Frage erntet er herzliches Lachen. »Es gibt Dinge, die hier niemand aussprechen wird.« Idmon beugt sich vor. »Von jemandem, der nicht selbst in den Vordergrund treten möchte.«
Draußen schreit ein Käuzchen, hohl und klagend. Er wendet den Kopf. »Es ist Zeit«, sagt er. »Du musst morgen ausgeruht sein. Wenn du möchtest, kann ich dir eine Schlafstatt anbieten, in der du für diese Nacht sicher bist.« Er weist auf eine breite Bank, über der mehrere Felle liegen.
»Danke.«
»Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.« Die Glut in der Feuerstelle glimmt nur noch, Idmons Gesichtszüge sind fast nicht mehr zu erkennen. »Es gibt ein Erkennungszeichen unter den Kämpfern und Wanderern von Erebos.« Er legt eine Hand flach auf die Brust, als wolle er einen Schwur leisten, ballt sie dann kurz zur Faust und streckt sie wieder. »Tu es mir nach.«
Zwei Versuche, dann ist Idmon zufrieden. »So kannst du erkennen, wer zu den Eingeweihten gehört, aber du darfst sie weder verraten noch dich mit ihnen besprechen, das weißt du, nicht wahr?«
»Ja. Ich verstehe nur nicht, wa–«
Idmon unterbricht ihn mit einer Handbewegung. »Ich wünsche dir eine ruhige Nacht.« Das Feuer ist heruntergebrannt, er schließt die Fensterläden. Die Welt wird schwarz.
Milch aus dem Kühlschrank, Kekse aus der Süßigkeitendose. Die Familie schlief schon, und Derek genehmigte sich einen späten Snack, um den Frust über das unerwartet schnelle Ende seiner Erebos-Session zu besänftigen. Er hätte doch nach Soryana fragen sollen. Morgen würde er das Zeichen bei Maia ausprobieren. Wenn er den Mut dafür aufbrachte.
Es war erst knapp elf Uhr gewesen, also hatte Derek versucht, das Spiel noch einmal zu starten, nachdem es sich selbst beendet hatte – ohne Erfolg. Sooft er das rote E auch angeklickt hatte, das Programm hatte überhaupt nicht reagiert.
Beim Antippen auf dem Smartphone war immerhin das Display dunkel geworden, und es hatte sich ein Wort gebildet. Und zwar – ja, genau – Geduld. Derek war ziemlich stolz auf sich, dass er das Handy daraufhin nicht an die Wand geworfen hatte.
Vielleicht würde er ja gleich noch auf Discord gehen und schauen, ob jemand von seinen Kontakten online war und Lust auf eine Runde Dragonhunter hatte.
Bloß reizte der Gedanke ihn nicht sonderlich. Er hätte lieber die Welt von Erebos weiter erkundet. Notfalls wieder Heuschrecken gekillt. Oder den Wald durchstreift, auf der Suche nach Gefährten.
Auf der Suche nach Soryana.
Fast genauso gerne hätte er das Gespräch mit Idmon weitergeführt. Es war so flüssig und normal abgelaufen wie eines mit Syed oder mit Mum. Ungewöhnlich war das.
Derek lehnte sich ans Fenster und sah auf die dunkle Straße hinaus. Vielleicht lag der Reiz auch darin, dass zwar jeder x-Beliebige Dragonhunter spielen konnte, Erebos sich dagegen seine Spieler selbst wählte. Ihn hatte es aus der anonymen Masse herausgegriffen, und das war sicher nicht zufällig passiert. Er war Teil von etwas Größerem, und er wollte wissen, was das war.
Obwohl er sich relativ früh schlafen gelegt hatte, fühlte er sich am nächsten Morgen wie durchgekaut und wieder ausgespuckt. Die Heuschrecken hatten ihn bis in seine Träume verfolgt, ihre stählernen Stacheln waren lang gewesen wie Lanzen. Sie hatten ihn umzingelt und begonnen, ihn bei lebendigem Leib zu fressen – zum Glück war er schnell aufgewacht. Dann aber nicht mehr richtig eingeschlafen. Nun rührte er in seinem Tee, während Rosie auf dem Flur Steppschritte übte. Hinter seinen Schläfen pochten beginnende Kopfschmerzen.
»Wollen wir dann?« Seine Schwester lugte durch die Küchentür. Sie besuchten zwar nicht die gleiche Schule, den ersten Teil des Weges legten sie aber trotzdem gemeinsam zurück.
»Klar. Bin gleich so weit.« Er kippte den restlichen Tee in einem Zug hinunter und griff nach seiner Tasche. Drei Minuten später waren sie auf dem Weg zur U-Bahn.
Als Derek vor der Schule ankam, wartete Syed schon am Tor auf ihn. »Hey, hast du das dritte Mathebeispiel kapiert, das wir aufgehabt haben? Ich werde noch irre damit. Du hast …« Er unterbrach sich und legte die Stirn in Falten. »Alles okay mit dir?«
»Ja. Wieso?«
»Weil du irgendwie krank aussiehst.«
»Bin ich nicht. Ich habe nur schlecht geschlafen und totalen Mist geträumt.«
»Ah. Na dann.« Syed lockerte den Knoten seiner Schulkrawatte und deutete mit einer Kopfbewegung zum Eingang hin. »Ab in den Schlachthof?«
Auf dem Gang, wo sich ihre Spinde befanden, hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Anfeuerungsrufe waren zu hören. Im Näherkommen sah Derek, dass sein Freund Owen in der Mitte der Ansammlung stand und Morton bei den Schultern gepackt hatte. Der war zwar größer und sicher stärker als Owen, machte aber trotzdem einen betretenen Eindruck. »Ich war das nicht, du Spast. Lass mich, okay?« Der halbherzige Versuch, sich zu befreien, scheiterte.
»Natürlich warst du es.« Owens Stimme war heiser vor Wut. »Du oder Riley, ihr habt doch gerade erst Dereks Spind aufgebrochen. Glaubt ihr, das hat keiner mitbekommen? Ich gehe zu Direktor Lewis, mir scheißegal, ob du von der Schule fliegst oder nicht, das Tablet gehört meinem Vater!«
Syed hatte sich bereits zu den beiden Streitenden durchgedrängt, jetzt zog er die rundliche Gestalt seines Kumpels zur Seite. »Was ist denn los?«
»Das Arschloch hat ein Tablet aus meinem Spind geklaut.«
»Hab ich nicht!«, rief Morton. »Sag dem Idioten, er soll besser auf seinen Kram aufpassen.«
»Ich geh zu Lewis«, wiederholte Owen, sichtlich verzweifelt. »Ich sag ihm, dass du das öfter machst. Oder du gibst mir das Ding jetzt wieder, ich hab es mir von meinem Vater geliehen, der bringt mich sonst um!«
»Da wäre ich ihm echt dankbar.« Morton warf erst Derek, dann Syed einen überheblichen Blick zu. »Lasst den kleinen Irren besser nicht ohne Aufsicht herumlaufen. Wenn er mich bei Lewis anschwärzt, kann er sich wirklich auf den Rest des Jahres freuen.« Er ging, und die Menge zerstreute sich.
Syed und Derek halfen Owen, seinen Spind noch einmal genauer zu durchforsten. Sie nahmen alle Hefte, Mappen und Bücher heraus, Syed leuchtete mit dem Handy in sämtliche Winkel, doch von dem Tablet keine Spur.
»Sicher, dass du es in der Schule gelassen hast?«, fragte Derek.
»Hundertprozentig. Dad killt mich.«
»Du solltest auf jeden Fall melden, dass es weggekommen ist«, meinte Derek. »Musst ja nicht sagen, dass du Morton verdächtigst. Obwohl es geil wäre, wenn sie in seinen Sachen suchen und es finden würden.«
»Vielleicht hast du es woanders hingelegt, und es taucht wieder auf«, versuchte Syed ihn zu trösten. Sekunden später läutete die Schulglocke, und Owen brach zu seiner Biologieklasse auf.
Syed und Derek hatten die erste Stunde gemeinsam. Geografie war eines der entspanntesten Fächer, Mr. Clements erzählte locker vor sich hin, tat das aber so, dass die Fakten hängen blieben. Heute Morgen winkte er schon beim Hereinkommen Paul zu sich, damit der den Beamer startete. Dann wandte er sich der Klasse zu. »So, Freunde, die nächsten Wochen geht es um Vulkane. Um die verschiedenen Vulkantypen, um die Vorhersage von Ausbrüchen und damit verbundene Ereignisse – Glutwolken zum Beispiel oder pyroklastische Ströme – und natürlich auch um die Frage, ob sie eine Rolle beim Klimawandel spielen.« Er deutete auf die Fenster. »Kann jemand die Rollläden runterlassen? Wir fangen nämlich mit einem Film an, um in die passend explosive Stimmung zu kommen.«
Derek stützte sein Kinn auf die Hände. Owens Tablet ging ihm nicht aus dem Kopf, vielleicht hatte er ja recht, und Morton hatte es sich wirklich angeeignet. Wundern würde es ihn nicht.
Er betrachtete schläfrig, wie glühendes Gestein aus Kratern geschleudert wurde. Wenn er nicht aufpasste, würde die sonore Stimme des Sprechers ihn in kürzester Zeit einnicken lassen; er sollte zur Sicherheit Syed Bescheid geben. Damit der ihn weckte, wenn der Film zu Ende …
Er dachte den Gedanken nicht fertig, denn er hatte eben etwas begriffen, das alles andere aus seinem Kopf verdrängte. Schlagartig war er hellwach.
Er hatte Idmons hellseherische Fähigkeiten auf die Probe stellen wollen und ihn nach etwas gefragt, das ihn heute erwarten würde.
Berge, hatte Idmon gesagt. Feuerberge.
Dereks Blick hing starr an der Wand vor ihm und dem Lavastrom, der gerade daraufprojiziert wurde. Feuerberge.
Keinen Moment lang hatte er damit gerechnet, dass die Vorhersage sich auf sein wirkliches Leben beziehen würde. Tat sie wahrscheinlich auch nicht, das war bloß Zufall. Ein riesiger Zufall.
Wieder hatte er Idmons Stimme im Kopf. Du bist ein Krieger der Nacht und glaubst an Zufall?
In der Hosentasche tastete Derek nach seinem Smartphone, am liebsten hätte er sofort nachgehakt. Seinen neu gewonnenen Freund gefragt, wie das sein konnte.
Doch Handys während des Unterrichts akzeptierte Mr Clements nicht, so nett er auch war. Und im Grunde wusste Derek, dass er bloß wieder eines zu sehen bekommen würde: Geduld, in roter Schrift auf schwarzem Grund.
Lava floss träge einen steilen Hang hinab. Glühende Brocken fielen ins Wasser und brannten dort weiter.
Derek dachte an leuchtende Blumen in der Nacht.
Er hatte so viele Fragen.