DER LETZTE THUNFISCH

Schmalenbach sah es sofort, als er ins Zimmer trat. »Du hast geweint?«, fragte er.

»Lass mich bloß in Ruhe!«, fauchte Elke.

Also doch: Sie hatte geweint.

Schmalenbach konnte nur hoffen, dass er nichts getan hatte, was sie zum Weinen gebracht haben könnte. Elke fühlte sich oft bei Dingen verletzt, über die andere nur lachen konnten.

Aber Elke konnte eben nicht darüber lachen. Das war das Problem.

Schmalenbach hatte wieder einmal einen Abend mit seinen Freunden verbracht, anstatt sich um seine Elke zu kümmern. »Ein Mann braucht das ab und zu. Er muss sich mit seinen Freunden treffen. Tut er das nicht, so kann es zu sehr unangenehmen Ausfällen kommen.« Und er fügte dunkel hinzu: »Du liest sicher manchmal davon in der Zeitung.«

Doch Elke schien ihm gar nicht zuzuhören. »Zuerst habe ich in einem Buch gelesen, das gefiel mir nicht. Aber die Nachrichten im Fernsehen waren leider schon vorbei.«

Schmalenbach schnürte es den Hals zu: Wenn er gewusst hätte, welches Elend Elke zu Hause durchstand – er hätte sie niemals allein gelassen.

Sie wischte die Tränen weg. »Nach dem Wetter kam eine Reportage. Normalerweise schaue ich mir ja keine Reportagen an, wie du weißt.«

Gerade Reportagen – gut gemachte Reportagen – waren bestens dazu geeignet, Frauen, die sich langweilten, weil ihre Männer sich gerade mit den Freunden amüsierten, von ihrem Elend abzulenken, indem sie diesen die Welt zeigten, wie sie wirklich war: interessant, originell, bunt, leidenschaftlich und überraschend.

»Aber diesmal konnte ich einfach nicht abschalten.« Sie nahm einen langen Anlauf. »Es ging um Thunfisch.«

Schmalenbach sah eine Chance, sie etwas aufzumuntern: »Thunfisch? Schade, dass ich das verpasst habe. Du weißt ja, wie sehr ich Thunfisch liebe. Natürlich nicht diesen trockenen, völlig geschmacklosen Thunfisch in Dosen. Nein, den frischen, fleischigen, saftigen Thunfisch, aus dem man Carpaccio macht oder Sushi. Ich könnte mich daran totessen. Dieser volle Geschmack nach Meer, nach Leben, nach Tiefsee und salzigen Winden. Ich glaube, es gibt nichts Köstlicheres. Erst durch frischen Thunfisch lernt man das Meer lieben. Ich könnte, wenn es sein müsste, nur von dieser Delikatesse leben. Du nicht?«

Elke sah ihn lange an. Ihr Blick war verächtlich. »Diese Reportage handelte davon, dass der Thunfisch eine bedrohte Tierart ist. Verstehst du, es wird diese schönen, stolzen Tiere bald nicht mehr geben. Und weißt du auch warum?«

Schmalenbach hatte plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. Einen Geschmack nach altem, fauligem Fisch. »Wegen der Verschmutzung der Meere, nehme ich an.«

»Falsch. Weil alle Welt sich neuerdings den Bauch vollschlagen muss mit dem Fleisch eines Tieres, das es immer schwerer hat zu überleben.«

Und Schmalenbach wurde klar, was für ein billiger, ein schmutziger, ein verantwortungsloser Charakter er eigentlich war. Ein Mensch, der nicht nach links und rechts schaute. Ein Egoist, der nur die Befriedigung seiner niederen Triebe im Kopf hatte. Dem alles andere egal war. Der auf die Schöpfung spuckte. Schmalenbach hasste sich dafür.

»Du – die haben gezeigt, wie sie diese schönen Tiere fangen. Piraten. Geschäftemacher. Halsabschneider. Männer, die sich einen Dreck um Fangquoten kümmern, ziehen riesige Schleppnetze hinter sich her. Sie machen regelrechte Treibjagden auf Thunfische. Dann ziehen sie sie an Haken aus den Netzen. Die Schiffsplanken sind voller Blut …«

»Hör auf!«, sagte Schmalenbach.

»Wie bitte?«

»Du sollst damit aufhören! Ich kann es nicht hören.«

»Aber du willst weiter Thunfisch-Carpaccio essen, stimmt’s? Schmalenbach, wie sagst du immer so schön: Es gibt kein wahres Leben im falschen.«

Das war zu viel für ihn. Er ging schlafen.

Nachts träumte er von einem Thunfischschwarm, der ins Netz skrupelloser Schwarzfischer geraten war. Es war schrecklich. Bis auf einen Fisch wurden alle massakriert. Nur dieser eine Fisch blieb übrig. Schmalenbach wusste: Es war der letzte Thunfisch.

Elke hatte ja recht. Der Mensch durfte die Erde nicht so gedankenlos ausräubern. Er durfte sich nicht nehmen, was er wollte. Wenn man dieses Erdendasein mit Würde überstehen wollte, musste man beginnen, sich selbst im Zaum zu halten, vernünftiger zu wirtschaften und die Natur mit Respekt zu behandeln.

Schmalenbach aß für sein Leben gerne Thunfisch. Frischen, knackigen, kräftigen Thunfisch. Aber er musste von nun an darauf verzichten. Im Interesse des Lebens. Das war zwar schwer, aber er würde es tun. Das war er sich schuldig. Sich und Elke.

Wie er die kannte, würde sie sowieso nie wieder ein Stück Thunfisch essen. Elke war – wie alle Frauen – sehr konsequent und unbarmherzig gegen sich selbst, wenn es um ein Leben in Würde ging. So wie sie einst aufgehört hatte, Schweinefleisch zu essen, würde sie jetzt damit aufhören, Thunfisch zu essen. Einfach weil sie ein besserer Mensch war.

Am nächsten Tag kam er auf seinem Nachhauseweg an einem japanischen Restaurant vorbei. Fast alle Plätze waren besetzt. Kein Wunder, dass die Thunfisch-Population in den Weltmeeren drastisch schmolz, wenn um halb fünf schon alles, was in Frankfurt Rang und Namen hatte, Sushi und gegrillte Thunfischsteaks verschlang. Wenn er die gierigen Gesichter sah, verstand er Elkes Wut. Es war einfach nicht Sinn der Schöpfung, dass Banker und Werbeleute nachmittags schon Thunfisch in sich hineinstopften.

Schmalenbach betrat das Restaurant und nahm am letzten freien Tisch Platz. Das Ganze ging schnell und mit heiligem Ernst vonstatten. Bevor Schmalenbach zusammen mit seiner strengen Elke ein wahrhaftigeres Dasein begann, in dem Thunfisch-Steaks nicht mehr vorkamen, musste er sich ein letztes Mal Gewissheit darüber verschaffen, wie dieser Fisch schmeckte, den er mit seinem Verzicht vor dem Aussterben bewahrte.

Er bestellte einen Reiswein und ein gegrilltes Thunfischsteak, für das selbst der größte Teller zu klein war. Dann machte er sich an die Arbeit. Er vertilgte ein ausgesuchtes Stück von einem stolzen Thunfisch.

Selbst die seltenste Köstlichkeit wird irgendwann schal und widerlich, wenn man zu viel davon isst. Aber da Schmalenbach sich des Ernstes der Situation bewusst war, zwang er sich dazu aufzuessen. Schließlich war das kein Vergnügen, sondern das Ende der sträflichen Völlerei und der Beginn eines wahren, ehrlichen Lebens. Als er fertig war, stieß ihm das Essen unangenehm auf. Er trank seinen Reiswein und war fast ein wenig erleichtert darüber, dass er nun nie, nie wieder Thunfisch essen würde. Er hatte seine Leidenschaft für frischen Thunfisch ein- für allemal besiegt. Zufrieden mit sich und seiner Seele machte er sich auf den Heimweg.

Das Essen wartete. Wahrscheinlich Salat und irgendeine Tofupressung. Das gehörte auch zu der geläuterten Existenz: eine ethisch saubere Ernährung.

Elke brachte zwei riesige Portionen. Thunfisch. Sie hatte sich nicht lumpen lassen.

»Aber, Elke, wir waren doch übereingekommen, keinen Thunfisch mehr zu essen.«

»Wie kommst du denn darauf, mein Schatz?«

»Du hast gesagt, der Thunfisch stirbt aus, wenn es so weitergeht, oder?«

»Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass wir keinen Thunfisch mehr essen.«

Schmalenbach musste sich setzen, der widerliche Thunfischgeruch zog ihm in die Nase, er hätte sich schütteln können.

»Greif zu!«, forderte sie ihn auf und nahm sich selbst ein Stück. »Wer weiß, wie lange wir das noch können. Oder sollen wir etwa allein auf den köstlichen Thunfisch verzichten, während die anderen die Meere leer fressen?«