RALF ODER ROLF ODER RUDI

Schmalenbach hatte gerade Sex gehabt – den besten Sex seines Lebens. Irritierend war nur, dass es nicht mit Elke gewesen war, sondern mit jemandem, der Ralf hieß oder Rolf oder Rudi. Schmalenbach wunderte sich, dass er sich auf diesen völlig fremden Partner hatte einlassen können. Zumal der unübersehbar männlich war. Er hätte diesem Ralf oder Rolf oder Rudi auch gerne noch gesagt, dass es nicht seine Art war, mit Männern anzubändeln, und dass es besser wäre, sie würden ihr kleines Abenteuer nicht rumtratschen. Doch da wurde Schmalenbach an der Schulter gepackt und geschüttelt. Er fuhr hoch. »Was ist los?«

Elke saß neben ihm im Bett. Hellwach. »Hast du schon geschlafen?«

»Ich war gerade in der Tiefschlafphase. Es ist mitten in der Nacht.«

»Es ist erst Viertel nach zwölf, Schmalenbach. Andere erleben um diese Zeit noch die ulkigsten Sachen – und du glaubst, du bist schon in der Tiefschlafphase. Oder habe ich dich gerade aus einem schönen Traum gerissen?«

Schmalenbach fiel dieser Ralf oder Rolf oder Rudi wieder ein. Und er bekam einen mächtigen Schreck. Hoffentlich hatte er im Schlaf nicht den Namen seines Sex-Partners geflüstert. »Nein. Aber morgen um halb sieben ist die Nacht vorbei und ein harter Arbeitstag beginnt.«

»Schmalenbach, ich kann nicht schlafen!«

Musste sie ihn deswegen wecken? Er konnte nämlich schlafen. Und er brauchte seinen Schlaf – wie alle Kreativen.

»Ich glaube, ich habe Hunger«, seufzte Elke. »Wahrscheinlich kann ich deshalb nicht schlafen.«

Hunger? Man konnte nicht schlafen, weil einen das schlechte Gewissen plagte oder der Arbeitsdruck oder Beziehungsprobleme. Aber doch nicht weil man Hunger hatte – vor allem nicht, wenn man abends ein halbes Pfund Tagliatelle mit dicker Soße gegessen hatte wie Elke.

Schmalenbach versuchte, an etwas Beruhigendes zu denken und wieder einzuschlafen. Um halb neun war eine Kreativkonferenz anberaumt, eine dieser gefürchteten Veranstaltungen, auf denen der Chef jeden Kreativen nach dem Stand seiner Projekte befragte. Das konnte peinlich werden.

»Machst du mir ein Sandwich? Mit knackigen Salatblättern, Avocadoscheiben, Lachs und Meerrettich, du weißt schon, Schmalenbach.«

Seit wann war er für nächtliche Imbisse zuständig? Es blieben ihm noch knapp sechs Stunden Schlaf. Viel zu wenig für einen Kreativen, der am nächsten Morgen dem Chef Rede und Antwort stehen musste.

»Oder ein Tässchen Bouillon. In französischen Filmen holen Männer ihren Frauen nachts immer so ein dampfendes Tässchen Bouillon, wenn sie nicht schlafen können.«

Da war ihm das Sandwich mit den knackigen Salatblättern ja fast lieber. Am liebsten wäre es ihm aber gewesen, Elke hätte endlich den Mund gehalten und das Licht gelöscht.

»Tust du deiner armen, schlaflosen Frau einen klitzekleinen Gefallen?«

Auch das noch. Die Mitleidstour. Und das nach Mitternacht. Früher hatten die Frauen mit der Hausarbeit und den Kindern so viel zu tun, dass sie abends todmüde ins Bett fielen und morgens Mühe hatten rauszukommen, um ihren Männern das Frühstück zu machen. Heute war das anders. Heute sahen sie französische Filme, in denen Paare Dinge taten, die völlig an der Realität vorbeigingen.

»Bitte, schlafe jetzt nicht ein! Dann würde ich alleine wach bleiben, und das könnte ich in meiner derzeitigen Verfassung unmöglich ertragen, Schmalenbach.« Sie schüttelte ihn schon wieder an der Schulter. »Nicht einschlafen! Hörst du?! Du sollst mit mir reden, bitte erzähle mir was! Erzähle mir, was dich beschäftigt! Ich werde sonst wahnsinnig. Weißt du eigentlich, wie es ist, nicht schlafen zu können?«

Und ob er das wusste. Schließlich versuchte er seit mindestens fünf Stunden weiterzuschlafen, aber sie ließ ihn nicht.

»Wenn du mir schon nicht erzählst, was dich bewegt, dann frage mich doch was! Nur um eines bitte ich dich inständig: Rede endlich mit deiner Frau!«

Sie würde ihm keine Ruhe lassen, das wusste er. Also richtete er sich auf. Es ging ihm nicht gut. Das hatte wirklich nichts mit diesem Ralf oder Rolf oder Rudi zu tun. Er vertrug es nicht, aus seinem verdienten Schlaf gerissen zu werden. Das war einfach eine Frage des Alters. Man braucht irgendwann seine Ruhephasen.

»Es gibt sicher etwas, was du schon immer von mir wissen wolltest. Nun hast du die Gelegenheit dazu: Frage mich danach!«

Also gut. Wenn sie dann Ruhe gab. »Wie ist das eigentlich – mit einem Mann?«

»Was?«

»Na ja, du weißt schon: der Sex?«

»Was ist das denn für eine Frage?!«

»Muss man die Fragen, die man an dich hat, vorher schriftlich einreichen oder was?«

»Ich wundere mich nur. Andere Männer würden ihre Frauen nach ihren Wünschen und Sehnsüchten fragen. Du fragst mich, wie der Sex mit einem Mann ist. Oder hattest du einen bestimmten Mann im Sinn?« Sie rückte näher an ihn heran, was Schmalenbach in dieser speziellen Situation unangenehm war. »Willst du etwa wissen, wie der Sex mit dir ist? Du möchtest wohl gelobt werden, was? Braucht dein Ego das?«

Schmalenbach stand auf. »Wo willst du hin?«, fragte sie.

»Ich mache dir jetzt eine Bouillon, Elke. Vielleicht kannst du dann einschlafen.«

Sie zog ihn ins Bett zurück. »Ich möchte mich aber jetzt mit dir unterhalten. Du willst also wissen, wie du im Bett bist? Lass mich mal überlegen …«

»Nein!«, sagte Schmalenbach entschlossen. »Ich will jetzt endlich schlafen!« Er rollte sich in seine Decke ein und drehte sich von Elke weg.

»Typisch!«, sagte sie. »Erst ein Gespräch über unseren Sex lostreten und sich dann feige vom Acker machen.«

»Du hast mir ja nicht geantwortet«, brummte Schmalenbach. »Ich wollte nur wissen, wie es allgemein mit einem Mann ist. Wie es mit mir ist, weiß ich ja.«

Elke saß plötzlich kerzengerade im Bett. »Gibt es einen besonderen Grund für diese Frage?«

Jetzt hatte sie es geschafft: Schmalenbach war hellwach. Er gähnte und sagte: »Nöö. Gut’ Nacht.« Wenn er nicht sofort einschlief, geschah sicher ein Unglück.

Elke rutschte wieder unter die Decke und drückte sich an ihn. »Warum hältst du mich nicht fest, bis ich eingeschlafen bin? Halt mich endlich fest, Schmalenbach, sonst sterbe ich noch vor Müdigkeit!«

Also tat er es. Was blieb ihm sonst übrig? Immerhin hörte sie auf zu reden. Das war ja schon mal was.

»Weißt du, manchmal denke ich, man sollte sich auch mal in das andere Geschlecht hineinversetzen. Deshalb würde ich gerne wissen, wie es so ist mit einem Mann. Nicht, dass ich da irgendwelche Ambitionen hätte. Ich bin ja durch und durch heterosexuell. Ich glaube, es gibt im ganzen Nordend keinen, der heterosexueller ist als ich. Trotzdem würde ich es gerne wissen. Als Intellektueller bin ich mir das einfach schuldig. In meinem Unbewussten soll es keine weißen Flecken geben. Weißt du, ich habe manchmal Träume – Träume, die mir nicht gerade angenehm sind. In einem dieser Träume spielt ein gewisser Ralf oder Rolf oder Rudi eine Rolle. Deshalb muss ich das wissen. Ich weiß, ich gehe sehr weit mit diesem Geständnis. Aber ich bin sicher, dass du das Vertrauen rechtfertigst, das ich in dich setzte. Oder täusche ich mich da, Elke?«

Elke rechtfertigte das Vertrauen, das er in sie setzte. Sie blieb ganz ruhig. Keine Tränen, keine Vorwürfe, keine dummen Witze. Elke war eben ein reifer Mensch.

»Und – was meinst du dazu?«, fragte er.

Sie schwieg. Sie atmete nur. Ganz ruhig. Als ob sie tief schlief. Nein: Sie schlief tief. Sehr tief. Und Schmalenbach war wach. Er blieb lange wach. Er hatte Angst einzuschlafen. Angst vor Ralf oder Rolf oder Rudi.