Kapitel 10
Gwen ließ sich Zeit beim Eingeben der Daten der aktuellen Quittungen, denn Blayne erhielt schon wieder eine SMS. Sie antwortete rasch und klappte ihr Telefon zu. Dann steckte sie das Handy in ihren Rucksack und warf ihn sich über die Schulter, stand auf und ging auf die Bürotür zu.
Gwen tippte weiter und wartete, bis Blaynes Hand auf der Türklinke lag, bevor sie sagte: »Wo gehst du hin?«
Blayne blieb stehen und erstarrte. »Hm?«
Sie arbeitete weiter. »Ich sagte: Wo gehst du hin?«
»Raus.«
»Was trinken? Ich hatte schon ewig kein Guinness mehr.«
Blayne starrte sie an. Sie war schon den ganzen Tag ein Nervenbündel, zuckte zusammen, wenn das Telefon klingelte, zerriss Papiere auf ihrem Schreibtisch in Fetzen und verbog wehrlose Büroklammern. Was Gefühle anging, war Blayne immer ein offenes Buch.
»Nein«, antwortete sie schließlich. »Nichts trinken. Ich … äh …« Gwen sah aus dem Augenwinkel, wie sie damit rang, was sie sagen wollte. Ein Ringen zwischen Lügen und Gwen die Wahrheit sagen. Nach einer Minute entschied sie sich fürs Lügen. »Ich gehe ins Krankenhaus. Wieder mal.«
»Die ehrenamtliche Arbeit. Stimmt ja. Okay.«
Blayne nickte, sah Gwen noch einen Augenblick an – ihre Unzufriedenheit war deutlich daran zu erkennen, wie sie die Finger verschränkte und knetete – und ging zur Tür hinaus.
Gwen machte sich wieder an die Arbeit … noch ungefähr dreißig Sekunden. Dann schaltete sie den Monitor aus, setzte ihren Rucksack auf und rannte zur Bürotür hinaus. Sie blieb kurz stehen, um die Türen abzuschließen und rannte dann weiter. Es erstaunte sie immer noch, wie Blayne es geschafft hatte, ihnen ein Büro im Kuznetsov-Gebäude zu organisieren. Es war ein kleines Büro, kaum groß genug für ihre zwei Schreibtische, einen kleinen Kühlschrank und die Kaffeemaschine, aber die Miete war zu gut, um sich die Chance entgehen zu lassen, und sie hatten genug Platz in der Tiefgarage für ihre Firmenwagen und Werkzeuge. Gwen konnte sich wirklich nichts Besseres wünschen, vor allem nicht in dieser Stadt.
An der Haupttür des Gebäudes blieb sie stehen, streckte den Kopf hinaus und sah sich in beide Richtungen um. Sie sah Blayne nach Westen laufen und folgte ihr. Allerdings nicht zu dicht, um nicht entdeckt zu werden.
Zum Glück nahm Blayne weder Bus noch U-Bahn, denn Gwen war immer noch dabei, sich in dieser Albtraum-Stadt zu orientieren. Dennoch … die Tür, hinter der Blayne nach einer Viertelstunde verschwand, überzeugte Gwen nur davon, dass sie Blayne schon wieder vor sich selbst retten musste.
Gwen ging durch diese Tür und blieb dahinter abrupt stehen. Nein. Kein Krankenhaus – ein Ort, von dem Blayne wusste, dass Gwen ihn niemals betreten würde –, sondern eine Eislaufbahn. Es wimmelte von Vollmenschen, die ihren Kindern beim Eislaufen zusahen und hofften, die Erzeuger des nächsten Goldmedaillengewinners zu sein.
Doch Gwens feiner Geruchssinn sagte ihr, dass dieses Gebäude nicht nur von Vollmenschen benutzt wurde.
Schnüffelnd wie ein Bluthund auf der Spur eines Mörders, folgte Gwen ihrer Nase zu einer diskreten Tür hinter einer Treppe. Diese unauffällige Tür führte zu einer weiteren unauffälligen Tür. Sie zog sie auf und stand vor mehreren Duschen und Putzschränken. Beinahe wäre sie von ein paar Kupferrohren in der Wartungskammer abgelenkt worden, zwang sich aber wieder zur Konzentration.
Sie hob die Nase und folgte der Fährte zu einer weiteren Treppe und einer verschlossenen Tür. Sie schnüffelte und scharrte ein paar Mal daran. Die Tür ging auf, und ein Wolf stand auf der anderen Seite.
»Hi.«
»Hi.« Gwen trat ein, wobei sie ignorierte, wie der Typ sie automatisch von oben bis unten musterte, und inspizierte die Umgebung. Dieser Teil des Gebäudes war riesig, und es gab eigene Aufzüge, eine Fressmeile, mehrere Sportgeschäfte und einen Starbucks. Dies war ein Ort rein für Gestaltwandler, riesig und all-inclusive. Eine sichere Zone für jede Rasse. Das bedeutete, hier wurde nicht gekämpft, es gab auch keine Meuten-, Rudel oder Klan-Kriege; es wurde nicht gejagt und kein Blut vergossen. Gestaltwandler wurden sauer, wenn sie ein Schlamassel wieder in Ordnung bringen mussten, für das Cops oder das Beseitigen von Kadavern nötig waren.
»Kann ich dir helfen?«, fragte der Wolf.
»Äh … ja. Ich suche meine Freundin. Sie ist ein bisschen größer als ich, schwarz, mit braunen Haaren … sie hat wahrscheinlich mit sich selbst gesprochen.«
Er grinste. »Die Wolfshündin? Ja, die ist die Treppe da drüben runtergegangen.«
»Danke.«
»Soll ich dir helfen, sie zu suchen?«
Gwen gluckste – sie konnte sich vorstellen, was für eine Art von Hilfe der Wolf sich vorstellte. »Nein, danke.«
»Wenn du es dir anders überlegst, sag Bescheid.«
»Ja, ja, klar.« Denn natürlich hatte sie nichts Besseres zu tun, als zehn Minuten lang mit einem notgeilen Wolf herumzumachen. Wie die Wölfinnen auch nur einen davon ertragen konnten, würde Gwen auf ewig ein Rätsel bleiben.
Wie angewiesen, ging sie die Treppe hinunter und blieb im Flur stehen. In einem sehr großen Flur voller Türen. Warum hätte es auch einfach sein sollen, Blayne zu finden?
Seufzend ging Gwen von Tür zu Tür. Manche waren abgeschlossen, hinter anderen fand gerade irgendeine Übungs- oder Trainingsstunde statt. Sie wünschte, sie hätte bleiben und den Sportlern zusehen können. Es ging doch nichts über den Anblick all dieser Achtjährigen, die sich fünf oder sogar fast zehn Meter in die Luft katapultierten und dann auf dem Weg nach unten kreischten, weil sie nicht wussten, wie sie richtig landen sollten.
Dafür hatte sie allerdings keine Zeit. Sie spionierte, und davon wollte sie sich von nichts abhalten lassen. Denn wer wusste, was Blayne ausheckte? Gwen hätte gewettet, dass es etwas mit einem Mann zu tun hatte. Sie war überrascht gewesen, Blayne nicht beim Training der Basketball-Spieler auf der Tribüne zu sehen, wo sie darauf wartete, dass irgendein abartig großer Loser herüberkam und sie ansprach. Die Frau hatte einen unterirdischen Männergeschmack. Sie suchte sich immer die aus, die aussahen wie die nettesten, liebenswertesten Typen, und sie stellten sich immer als ausgewachsene Soziopathen heraus. Und wenn sie einen Typen vor Gwen geheimhielt, konnte das nur eines bedeuten – noch ein Schwachkopf, mit dem sich Gwen am Ende herumschlagen musste.
Warum war es so anstrengend, ihre Freunde und Familie zu beschützen? Warum konnte Blayne nicht normale, launische Gestaltwandler mit Dominanzproblemen finden wie alle anderen auch?
Gwen hörte männliche Stimmen hinter einer nahe gelegenen Tür und griff nach der Klinke, in der Annahme, dort Blayne zu finden. Doch bevor Gwen die Klinke in der Hand hatte, flog die Tür auf, und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig aus dem Weg. Sie sah Schlittschuhe und wusste, es waren die Hockeyspieler. Ihr Onkel Cally hatte, als er noch jünger war, jahrelang Hockey in einem Gestaltwandler-Team gespielt.
Sie versuchte, einen Bogen um einen der Spieler zu machen, als dieser knurrte: »Gehst du nicht an dein Telefon?«
Gwen versteifte sich und blickte auf – und noch weiter hinauf, bis sie in Lachen ausbrach. »Du spielst Hockey?«
»Was meinst du damit?«
»Das kann nicht fair sein. Du prügelst mit deinen Riesenarmen die anderen Spieler auf dem Eis doch im Viereck herum.«
»Ich habe keine Riesenarme.«
Sie lachte weiter und schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ist Blayne da drin?«
»Nein. Und warum gehst du nicht an dein Telefon?«
»Ich habe es ausgeschaltet, weil mein Bruder mich in den Wahnsinn getrieben hat, nachdem ich ihm heute Morgen den Arsch aufgerissen habe. Warum?«
»Ich habe herausgefunden, wer dich und Blayne in Macon River angegriffen hat.«
Gwen sah zu dem Grizzly auf. Um ehrlich zu sein, hatte sie diese Meute schon vergessen gehabt. Vergessen, dass sie existierte und sie und Blayne angegriffen hatte. Nicht, dass es ihr nichts ausmachte, aber die letzten Wochen waren so unglaublich vollgepackt gewesen, dass es auf dem Haufen Sorgen, den sie schon hatte, ganz nach unten gerutscht war.
»Wer war’s?«
»Ich habe angerufen, weil ich es dir sagen wollte, aber dann habe ich noch mal darüber nachgedacht und mir wurde klar, dass ich es dir nicht sagen kann.«
»Warum nicht?«
Er nahm mehrere Schluck Wasser aus der Flasche, die er dabeihatte. Seine Haare und Haut waren schweißnass, und er keuchte. Das Training musste höllisch gewesen sein. »Weil man sich schon darum gekümmert hat, und ich will nicht, dass du hingehst und das Ganze wieder von vorn anfängst.«
»Werde ich nicht.«
»Das sagst du jetzt, aber dann sitzt du herum und grübelst. Und du wirst dich daran erinnern, was passiert ist – und als Nächstes höre ich in den Nachrichten von dir.«
Empört, dass er wahrscheinlich recht hatte, winkte Gwen ab. »Von mir aus.«
»Von mir aus«, äffte er sie nach und lächelte dann.
Doofkopf.
Das wollte Gwen ihm gerade auch mitteilen, als sie sieben Frauen in schwarzen Latex-Minikleidern, in Latexstiefeln mit siebzehn Zentimeter Absatz und mit schwarz-grauen Pom-Poms vorbeigehen sah. Sie spähte zu Lock hinauf, in der Annahme, sie müsse seine Aufmerksamkeit zurückgewinnen, wenn sie ihn etwas fragen wollte, aber er sah immer noch zu ihr herab. Vielleicht hatte er auch eine genauso schnelle Reaktionszeit wie Mitch.
»Wer sind die?«
»Wer ist wer?«
Hatte er die sieben großbrüstigen Frauen in schwarzem Latex wirklich nicht vorbeigehen sehen? Oder war er der größte Lügner diesseits des Atlantiks?
»Die Mädels in Latex.« Sie deutete auf sie, und er warf einen Blick hinüber, konzentrierte sich aber augenblicklich wieder auf sie.
»Ach so. Das sind die Derby-Cheerleader.«
O nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein!
»Die Derby-Cheerleader?« Bitte, Gott! Lass es etwas anderes sein als das, was ich denke!
»Ja. Die Cheerleader der New York Roller Derby League.«
Verdammt! Gwen holte tief Luft und gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben. »Ist heute Abend ein Spiel?«
»Yup. Im Stadion, einen Stock unter uns.«
Ohne ein weiteres Wort ging Gwen davon.
»Da kommst du niemals rein.«
Sie sah ihn über die Schulter an. »Warum nicht?«
»Das Spiel ist schon ausverkauft.«
Sie wandte sich ihm wieder zu und merkte jetzt, dass er ein Trainings-Trikot eines der Teams der Gestaltwandler-Profiliga trug. »Aber du spielst für die New York Carnivores.«
»Stimmt.«
»Dann bin ich sicher, mit deinen Verbindungen kannst du mich reinbringen.«
»Kann ich.«
Mit einem verärgerten Aufstöhnen ging sie auf ihn zu. »Was willst du?«
»Ich will gar nichts, Mr Mittens.« Er beugte sich nieder, bis ihre Nasen sich beinahe berührten. »Du musst nichts weiter tun, als mich zu fragen.«
»Das ist alles?«
»Ja, das ist alles. Ich versuche, Erpressungen zu vermeiden. Da kommt am Ende nie etwas Gutes bei raus.«
»Kannst du mich zum Spiel bringen?«
»Klar. Warte hier.« Er ging, und die Tür, aus der er gekommen war, öffnete sich wieder und weitere Hockeyspieler strömten heraus. Sie bemerkte sie kaum – sie war zu sehr damit beschäftigt, sich Sorgen darüber zu machen, was sie in ein paar Minuten sehen würde –, bis einer zu ihr herüberkam und an ihren Haaren schnüffelte. Normalerweise hätte es sie tierisch genervt, wenn ein fremder Wolf ohne Erlaubnis an ihr schnüffelte, aber er war gut aussehend und … freundlich.
»Honig-Shampoo«, sagte er lächelnd. »Du musst Gwen sein.«
»Kenne ich dich?«
»Wir haben einen gemeinsamen Freund: Lock. Ich bin Ric.« Er zog seinen Handschuh aus und streckte ihr die Hand entgegen. Gwen schüttelte sie. »Nett, dich kennenzulernen.«
»Finde ich auch.«
»Ich habe deinen Geruch wiedererkannt – Lock hat nach dir gerochen, als er nach seinem Zusammenstoß mit dieser Meute zurückkam. Tut mir übrigens leid, das alles.«
»Das war nicht deine Schuld.«
»Mag sein. Aber es wurde vor’s Gremium gebracht, und du und deine Freunde müsstet demnächst eine Entschädigung für den Angriff bekommen.« Ach ja? Aber bevor sie nach mehr Einzelheiten fragen konnte – denn hey! Kohle, ohne etwas zu tun! –, kam Lock zurück. Er trug jetzt eine Jogginghose, Turnschuhe und ein hellgraues T-Shirt, das aussah, als sei es ihm an den Körper geformt worden. Und … äh … Wow!
»Hey«, sagte Lock zu Ric.
»Hey«, antwortete Ric. Dann ging er.
Nein. Gwen würde die Kerle wohl nie verstehen.
Lock lächelte sie an. »Bereit?«
Lock war noch nie so dankbar gewesen, im Hockey-Team zu sein. Es war eine hervorragende Art, sich abzureagieren und sich etwas dazuzuverdienen. Er hatte sich dem Team ungefähr ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr von den Marines angeschlossen. Knapp ein Jahr später war Ric Team-Kapitän geworden und Lock sein Ersatzmann. Was bedeutete, dass er Zugang zu all den coolen kleinen Vergünstigungen hatte, die alle Team-Kapitäne und Manager bekamen … wie 1A-Plätze bei Roller-Derby-Wettkämpfen.
Er hatte allerdings nicht erwartet, die Hälfte der Kuznetsov-Wildhund-Meute auf dem Großteil dieser 1A-Plätze vorzufinden.
»Hey.«
Jess Ward-Smith hob kurz den Blick von ihrem Programm und grinste breit … bis sie Gwen neben ihm stehen sah. Da wurden ihre Augen groß und … ja. Er sah eindeutig Panik.
»Hi!«, sagte sie viel zu fröhlich. »Was tut ihr denn hier?« Sie stieß den Wildhund neben sich mit dem Ellbogen an, ohne Lock oder Gwen Zeit für eine Antwort zu geben. »Hey, Phil. Schau mal, wer hier ist.«
Phil warf einen Blick herüber und bellte dann: »O Mist!«
Dann versetzte er Sabina einen Rippenstoß, die Danny einen versetzte, der wiederum Maylin, die bei ihrem Anblick aufjaulte. Angesichts dessen, dass die Wildhunde Lock erlaubt hatten, regelmäßig in der Nähe ihres Nachwuchses zu sein, bezweifelte er irgendwie, dass sie plötzlich Angst vor ihm hatten.
»Wo ist sie?«, fragte Gwen, und verwirrte Lock durch ihren aggressiven Tonfall.
»Wen meinst du nur, Gwen?«, erwiderte Jess, immer noch viel zu fröhlich und mit höherer Stimme, als Lock sie je bei ihr gehört hatte.
Gwen richtete den Zeigefinger auf Jess. »Lüg mich nicht an, Benji! Wo ist sie?«
»Was ist los?«, musste Lock fragen. Und wie zur Antwort gingen die Lichter aus, und eine raue weibliche Stimme war über die Lautsprecher zu hören.
»Ladies und Gentlemen, ich hoffe, ihr seid bereit für einen Abend der Brutalität und Gewalt ohne Reue. Ihr habt darauf gewartet … ihr wolltet es! Und jetzt bekommt ihr es! Die New Girls on the Block gegen die bösartigsten Weiber, die das Roller-Derby kennt. Willkommen, alle miteinander … beim Boroughs Brawlers Banked Track Derby!«
Die Menge johlte, vor allem die Wildhunde – bis auf die Top Five, wie Lock Jess und ihre besten Freunde nannte. Sie flüsterten in heller Aufregung durcheinander.
»Die Party beginnt!«, schrie die Sprecherin. »Einen großen Applaus für … die Assault and Battery Park Babes!«
Die Reaktion des Publikums war nicht gerade enthusiastisch, denn die Babes waren ziemlich neu und bestanden überwiegend aus Hybriden. Lock hatte im vergangenen Jahr allerdings schon eine Menge von ihnen gehört, denn sie stiegen stetig in der Tabelle der Liga auf, was alle überraschte.
Die Scheinwerfer wurden auf die Bahn gerichtet, als die Babes zu »Boom Boom« von John Lee Hooker herausgeschossen kamen. Sie bewegten sich schnell und sahen wirklich süß aus in ihren knappen roten Shorts, schwarzen Netzstrümpfen, funkelnden roten Rollschuhen und drei Schichten zu engen Tank-Tops in Rot, Schwarz und Weiß. Während die Spielerinnen um die Bahn zischten, rief die Sprecherin sie mit Nummer und Derby-Namen aus.
»Nummer achtunddreißig und Team-Kapitän: Pop-A-Cherry! Nummer zweiundsechzig: Marlon Brandher. Nummer vierundzwanzig: Our Lady of Pain and Suffering.« Lock lachte – irgendwie wünschte er sich, sie hätten in den Profi-Teams auch so coole Namen –, als er Gwen nach Luft schnappen hörte, während die Sprecherin rief: »Nummer sechsundsiebzig: Evie Viserate!«
Lock hörte die Wildhunde bellen und wollte gerade fragen, wer das war, als Jess schrie: »Lock, halt sie auf!«
Sie aufhalten? Wen? Als er in die Richtung schaute, in die Jess zeigte, sah er Gwen die Stadiontreppen hinunter in Richtung Bahn marschieren.
»Was zum …« Froh, dass er seine Schlittschuhe ausgezogen hatte, lief Lock Gwen nach, packte sie um die Taille und schleppte sie wieder die Treppe hinauf.
»Lass mich runter! Das macht sie nicht!«
»Wer?«, wollte er wissen.
Jess deutete wieder auf die Bahn, und Lock sah Evie Viserate an. Diesmal genauer. Sie hatte die Haare zu zwei Zöpfen gebunden und trug darüber einen leuchtend weißen Helm. Doch als sie lächelte, zuckte Lock zusammen. Denn dieses Lächeln hätte er überall erkannt.
»O-oh.«
Gwen wehrte sich immer noch. »Lass mich runter! Sofort!«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er zu Jess. »Halt unsere Plätze frei.« Und dann schleppte er die wütende Katze die Treppe hinauf und in den Gang vor der Halle.
»Wie konnte sie mich so anlügen?«, brüllte Gwen, sobald Lock sie im Gang wieder auf den Boden gestellt hatte.
»Vielleicht, weil sie wusste, dass du ein kleines bisschen hysterisch reagieren würdest?«
»Ich bin nicht hysterisch! Ich bin angepisst! Sie bringt sich da draußen um!« Sie versuchte noch einmal, an ihm vorbeizukommen, doch Lock machte einen kleinen Schritt und blockerte ihr schon wieder mit diesem irrsinnig schönen Körper den Weg.
Die Arme vor der Brust verschränkt, fragte Gwen: »Hast du je ein Roller-Derby gesehen? Ein echtes Derby? Nicht eins der Vollmenschen« – was für einen Haufen Vollmenschen schon ziemlich hart war, aber im Vergleich mit einem Gestaltwandler-Derby total harmlos.
»Nein.«
»Dann hast du keine Ahnung, wie schlimm das werden könnte.«
»Aber du schon?«
Er hielt sie wirklich für eine kleine Drama-Queen, oder? Glaubte, ihr ganzes Leben drehe sich darum, Blayne von jedem Spaß fernzuhalten.
»Ja. Ich schon. Ich bin die Tochter von The Rocker.«
Lock runzelte die Stirn. »Dem Baseball-Spieler?«
Sie holte tief Luft. »Nein. Nicht von dem Baseball-Spieler.« Du Dummkopf! »Von der Roller-Derby-Queen.«
Seine Stirn glättete sich, und sie sah, dass er sich ein Grinsen verkniff. »Deine Mutter war eine …«
»Ja. Aber nicht ›eine‹ – sie ist die Derby-Queen. Immer noch. Sie und meine Tanten haben jahrelang die Liga in Philly angeführt. Wettkämpfe gegen die Philly Phangs einfach nur zu überleben war für die meisten Teams eine echte Leistung. Für Gestaltwandler hat sich das Roller-Derby nicht sehr verändert. Die Uniformen sind heißer, die Mädels hübscher, aber der Rest ist genau dasselbe.«
»Und du glaubst nicht, dass Blayne damit umgehen kann.«
»Ich weiß, dass sie es nicht kann.«
»Weil du es versucht und versagt hast.«
Gwen machte ein paar Schritte weg von ihm. »Ja. Ich habe es versucht.« Sie lehnte sich an die Wand. »Ich habe versagt.«
Lock stellte sich neben sie; er ragte immer noch über ihr auf, auch wenn er sich an die Wand lehnte. »Das heißt nicht, dass Blayne versagen wird.«
»Ich mache ich mir keine Sorgen, dass sie versagt wie ich. Ich meine, ich war achtzehn und die Tochter von The Rocker. Ich hatte keine Chance, und alle wussten es. Sogar meine Mutter. Mein erstes Spiel wurde angepfiffen, und ich bin erstarrt. Einfach erstarrt. Ich habe noch nie so eine Angst gehabt.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wird Blayne nicht passieren.«
»Was willst du dann …«
»Ihr Name war Marla the Merciless von den Pittsburgh Stealers – also ›Stealers‹ wie Diebstahl. Sie knallte gegen mich wie ein Dreieinhalbtonner. Ich fiel hin, und sie hat mich zur Schnecke gemacht und mir das Bein an fünf Stellen gebrochen.«
»Au.«
»Das Becken.«
»Ah …«
»Meine rechte Hüfte.«
»Gott, Gwen …«
»Das Steißbein.«
»Okay, okay.« Lock schüttelte sich. »Ich hab’s kapiert.«
»Ich bin im Krankenhaus aufgewacht.«
»Denn dort würdest du niemals freiwillig hingehen.«
»Genau. Ich habe Wochen gebraucht, bis ich mich ganz erholt hatte.«
»Hast du noch einmal gespielt?«
»Nein. Aber nicht nur, weil ich Angst hatte – und die hatte ich«, gab sie freimütig zu. »Sondern weil Marla mich, als sie von mir herunterkrabbelte und bevor ich ohnmächtig wurde, eine ›Mischlingshure‹ genannt hat. Und so, wie sie das sagte, wusste ich: Ob ich die schlechteste oder die beste Spielerin da draußen war, ob Roxy meine Mutter war oder nicht – sie hätte mich fertiggemacht.«
»Das ist lange her, Gwen.«
»Na und? Es hat sich nichts geändert. Bin ich eigentlich die Einzige, die sich noch an das Labor-Day-Wochenende erinnert? Diese Meute ist nur aus einem einzigen Grund über Blayne hergefallen.«
»Vielleicht. Aber Blaynes Team besteht hauptsächlich aus Hybriden. Sie ist nicht allein da draußen.«
»Sie ist die Neue, Jersey. Frischfleisch.« Sie zuckte resigniert die Achseln; sie wusste, sie konnte nichts tun. »Sie werden sie richtig rannehmen.«
»Und wann kommt der Ball ins Spiel?«, fragte Jess, was ihr einen finsteren Blick von Gwen einbrachte.
»Es gibt keinen Ball im Roller-Derby«, blaffte Gwen. »Rollerball ist ein Film – und ich lasse nur die James-Caan-Version gelten, nicht dieses Remake.«
»Wenn es keinen Ball gibt, was tun sie dann?«
»Sie fahren im Kreis«, erklärte Phil fälschlicherweise. »Bis jemand stirbt.«
Lock spürte, wie sich der Katze neben ihm die Haare sträubten, was nur noch schlimmer wurde, als er anfing zu lachen. Er hätte nicht gedacht, dass er es schaffen würde, Gwen zu überzeugen, wieder mit hineinzukommen, um Blayne zuzusehen – nur zuzusehen, nicht zu retten –, aber er hatte es geschafft. Jetzt saßen sie bei den Wildhunden, und es war ziemlich unterhaltsam, Gwen dabei zuzusehen, wie sie mit ihnen umging.
»Also gut«, sagte Gwen. »Sehr kurze Lektion über Roller-Derbys vor dem Anpfiff. Vier Mädchen aus jeder Mannschaft bilden das Pack. Sie werden Blockerinnen genannt. Eine der Blockerinnen darf zum Pivot erklärt werden, das heißt, sie kann im Spielverlauf zur Jammerin werden. Das Pack startet beim ersten Pfiff. Die beiden Fünften jeder Mannschaft sind die Jammerinnen. Nach dem zweiten Pfiff ist das einzige Ziel der Jammerinnen, so schnell wie möglich das Pack zu überholen. Wer den Pivot der Gegnermannschaft als Erstes überholt, wird Lead-Jammerin und bekommt ab der zweiten Runde Punkte für jede überholte Spielerin der Gegnermannschaft. Das alles passiert in zweiminütigen Intervallen, genannt Jams, aber die Lead-Jammerin kann den Jam auch vorher abbrechen. Das Ganze dauert ungefähr zwei Stunden, inklusive Auszeiten und einer dreißigminütigen Halbzeitpause. So. Das ist Roller-Derby.«
Die Wildhunde starrten Gwen ausdruckslos an; die Enttäuschung stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
»Das ist alles?«, fragte Jess schließlich. »Das ist das ganze Rennen?«
»Es nennt sich Bout oder Spiel, nicht Rennen. Und ja, das ist alles.«
»Das klingt irgendwie …«
»Langweilig«, beendete Phil ihren Satz.
Gwen zuckte die Achseln. »Jedem das Seine«, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf die Bahn.
Wie Gwen gesagt hatte, rollten fünf Frauen jeder Mannschaft auf die Bahn. Blayne war dabei. Sie sah verängstigt aus, als sie ausrollte und zum Stehen kam und dann den suchenden Blick ins Publikum richtete. Sie erblickte zuerst Jess und die Wildhunde, und ihr Lächeln sah furchtbar erzwungen aus, als sie ihnen zuwinkte. Dann ging Blaynes Blick weiter zu Lock und Gwen.
Sie blinzelte und legte den Kopf schief wie ein verwirrter Schäferhund. Dann lächelte sie – und dieses Lächeln überstrahlte beinahe die Stadion-Lichter.
Sie hob den Arm hoch in die Luft und winkte. »Hi, Gwenie!«
Lachend winkte Gwen zurück, doch beide Frauen zuckten zusammen, als eine große Hand auf das Geländer vor Blayne krachte.
»Wer ist das?«, fragte Gwen, ohne die ziemlich große Spielerin aus den Augen zu lassen, die auf Blayne herunterstarrte.
»Sie gehört zu den Staten Island Furriers.« Jess lächelte, während sie von ihrer Schokobanane am Stiel abbiss; wie die meisten Hundeartigen ignorierte sie das potenzielle Risiko von Schokolade. Ihre Hochzeit war ein veritables Schokoladen-Festmahl gewesen, in dem sämtliche anwesenden Hunde geschwelgt hatten. Am nächsten Tag war es allen gut gegangen, aber Lock verstand nicht, warum sie das Risiko eingingen. Andererseits – wenn jemand ihm sagen würde, er dürfe keinen Honig essen … »Ihr Name ist D. F. A.«
»D. F. A.?«
»Death From Above.«
Gwen und Lock sahen die Wildhündin an. »Das ist ihr Name?«, fragte Lock.
»Es ist ihr Derby-Name. Und angesichts ihrer Größe … irgendwie passend.«
»Maulkörbe an!«, befahl einer der Schiedsrichter, und Lock konnte nur hinstarren.
»Äh … Blayne trägt einen Maulkorb.«
»Ja.« Gwen rang die Hände. »Ich habe gehört, in einigen Ligen wird darauf bestanden, wenn Wolfshunde, Kojoten-Hunde oder Wolfs-Kojoten spielen. Sie müssen Maulkörbe tragen.«
»Sag mir, dass das ein Witz ist!«
»Nö. Nur so erlauben die Ligen ihnen, gegen Nicht-Hybride zu spielen.«
Na ja, zumindest waren die Maulkörbe, die sie trugen, angepasst und wurden an ihren Helmen eingerastet. Die überkreuzten weißen Lederstreifen führten über Nasen und Münder und unterm Kinn entlang. Sie schützten nicht nur die anderen Spieler vor Bissen, sondern sahen außerdem ziemlich cool aus. Locks Nerd-Seite war beeindruckt.
Der erste Pfiff ertönte, und das Pack schoss los. Lock und Gwen beugten sich vor, und er fragte sich, ob sie wohl dasselbe sahen, wenn es um Blayne als Spielerin ging. Sie hatte ziemlich viel Kraft und hielt gut mit den anderen Spielerinnen im Pack mit, aber sie war ein bisschen schüchtern und hätte mehr Selbstbewusstsein und Sicherheit auf den Rollschuhen gebraucht. Ein paarmal sah es aus, als könnte sie ein starker Wind umwerfen.
Der zweite Pfiff ertönte, und die zwei Jammerinnen jagten dem Pack nach, um sich hindurchzuarbeiten, wenn sie es erreichten. Die Jammerin der Furriers versuchte, an Blayne vorbeizukommen, und Blayne hielt sie hübsch auf, sodass der Rest ihres Teams seine Jammerin durchbekam. Doch als das Hauptfeld anzog, hörte Lock Blayne plötzlich knurren, und Gwen richtete sich hoch auf, als sie sah, wie ihre beste Freundin von D. F. A. hochgehoben wurde.
Es war merkwürdig, dass er wusste – wie er es spürte, ohne es wirklich zu wissen –, was Gwen tun würde. Automatisch streckte er die Hände aus und umfasste ihre Taille, als sie versuchte, an ihm vorbeizuschießen. Er riss sie auf seinen Schoß, bevor sie über die Sitze und wahrscheinlich auf die Bahn springen konnte.
Gwen fest im Arm, beobachtete Lock, wie sich D. F. A. mit der zappelnden Blayne in den Armen aus dem Pack löste, auf Gwen und Lock zurollte, und sie, als sie noch ungefähr drei Meter entfernt war, wie eine Kugelstoßerin in ihre Richtung stieß.
Alle Zuschauer in diesem Abschnitt duckten sich instinktiv, als Blaynes Körper über das Geländer und gegen das Sicherheitsglas zwischen Bahn und Publikum flog. Noch nie war er so dankbar für Sicherheitsglas gewesen wie in diesem Moment.
Langsam hob er den Kopf und starrte mit offenem Mund auf die Stelle, wo die arme Blayne eingeschlagen war.
Hatte er das wirklich gerade gesehen? War er tatsächlich gerade Zeuge geworden, wie eine Spielerin eine andere in die Zuschauer geworfen hatte? Und was noch wichtiger war: Warum wurde diese Spielerin nicht disqualifiziert?
»Kennst du sie, Gwen?«, musste er fragen, denn D. F. A. hatte eindeutig Gwen angestarrt, als sie Blayne nach ihr geworfen hatte. »Nein. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
»Warum spielt sie immer noch?«
Gwen streckte sich, um Blayne sehen zu können, die zwischen der schrägen Bahn und den Stadionsitzen auf den Boden gefallen war. »Du machst Witze, oder?«
»Nein, ich mache keine Witze.«
»Du musst schon einiges mehr anstellen, als eine Spielerin durch die Gegend zu werfen, bevor du rausgeschmissen wirst. Marla the Merciless wurde nicht einmal rausgeworfen, nachdem sie mich fertiggemacht hatte.«
Lock wusste nicht, was er sagen sollte, doch dann rappelte sich Blayne auf. Sie musste sich ein paar Sekunden am Geländer festhalten, dann merkte sie, dass sie blind war, was aber schnell behoben war, nachdem sie Helm und Maulkorb zurechtgerückt hatte.
Sie schüttelte sich am ganzen Körper, winkte Gwen noch einmal mit einem glücklichen Lächeln zu und rollte wieder zurück ins Spiel. Die Menge bejubelte den Willen, den sie brauchte, um wieder da reinzugehen, aber keiner jubelte so laut wie die Wildhunde.
Gwen applaudierte, doch wieder konnte Lock an ihrer Körpersprache ablesen, wie gestresst sie war. Und er konnte es ihr nicht verdenken.