Kapitel 24
Ein Umschlag erschien vor Locks Gesicht; auf der Vorderseite war in Silber sein Name eingeprägt, und seine Reaktion kam unmittelbar: »Nicht in diesem Leben!«
»Du musst hin«, sagte Ric, der an Locks Schreibtisch lehnte und all die Papiere, CDs, DVDs, Festplatten und kleinen Werkzeuge ignorierte, die darauf verstreut lagen. »Wenn du es nicht tust, kann ich dir versichern: Es wird Tränen geben. Und du weißt, damit kann ich nicht umgehen.«
»Ich ziehe kein dummes Kostüm an und stolziere herum …«
»Ist schon besprochen, du bist aus dem Schneider.«
»Bin ich?«
»Ja.«
»Hast du das schriftlich?«
»Für eine Kostümparty?«
»Nicht nur für eine Kostümparty. Für eine Wildhund-Kostümparty. Das heißt ein Kostüm, eine Menge Schokolade und unmenschlich viel Wissen über die Herr der Ringe-Filme.«
»Warum diskutierst du mit mir darüber?«, fragte Ric lachend. »Sie meinte schon, wenn du Nein sagst, kommt sie rüber und heult, bis du zusagst.«
»Warum? Letztes Jahr war es ihr auch egal, dass ich nicht auf ihrer Party war.«
»Das war letztes Jahr. Nicht dieses. Dieses Jahr will sie dich. Und ich habe noch nicht erlebt, dass du einer schluchzenden, heulenden Wildhündin etwas abschlägst.«
Denn er konnte es einfach nicht! Seine Schwäche machte ihn krank.
»Ich denke darüber nach.«
Ric lächelte. »Natürlich wirst du das. Und dann wirst du sowieso Ja sagen.« Er sah sich um. »Und … bist du allein hier?«
Lock ließ sich auf seinem extra-robusten Schreibtischstuhl nach hinten fallen. »Ich wünschte, ich könnte glauben, dass du mich das fragst, weil du neugierig wegen mir und Gwen bist. Tust du aber nicht. Du fragst wegen Dee-Ann.«
»Tja, ist sie nun hier oder nicht?«
»Nein. Und wenn ich du wäre, würde ich nicht versuchen, sie aufzuspüren.«
»Warum nicht?«
»Weil du bei Dee besser nicht weißt, wohin sie geht und was sie vorhat. Sonst musst du später nur die Behörden anlügen.«
»Oh. Na gut.«
Smitty hob den Blick von seinem Computermonitor zu den großen Füßen, die auf seinem Schreibtisch ruhten. Er lehnte sich zurück und ließ die verschränkten Hände auf dem Bauch ruhen.
»Schau mal einer an, wer hier seine dicken, fetten Hufe auf meinem Schreibtisch ablegt.«
»Dir auch einen guten Tag, Bobby Ray.«
»Wo zum Henker warst du so lange, Dee-Ann?«
»Ich wusste nicht, dass es einen Zeitplan gibt, dem ich hätte folgen sollen.«
»Ich hatte dich schon vor ein paar Monaten zurückerwartet.«
»Ich hatte dir gesagt, ich denke darüber nach.«
»Und warum hast du mir nicht schon letzte Woche gesagt, dass du wieder in der Stadt bist?«
Dee lächelte. Sie hatte das warmherzige, hübsche Lächeln ihrer Momma, aber die Augen ihres Daddys. Augen wie der Wolf, mit dem sie den Körper teilte. Smitty hatte zwar dieselben Augen, wenn er in Wolfsgestalt war, aber Dees und Eggies Augen schienen sich nie zu verändern, ob sie nun Mensch oder Wolf waren. Sie blieben immer gleich wachsam. Immer gleich kalt.
Smitty liebte seine Cousine, aber er würde sie niemals verärgern. Denn je älter sie wurde, desto mehr ähnelte sie ihrem Daddy. Genauso gefährlich, genauso tödlich.
»Woher weißt du, dass ich in der Stadt war?«, fragte sie und beobachtete ihn scharf.
»Ein Van Holtz sagte, eine meiner Cousinen sei in der Stadt. Er hat keinen Namen genannt, aber ich dachte mir schon, dass du es bist.«
Sie musterte ihn kurz. »Du willst, dass ich gehe?«
»Nein, Schätzchen. Ich will, dass du Teil der Meute wirst.«
»Ich fühle mich nicht gern eingeengt.«
Smitty musste lächeln. »Und das Einzige, was mir mein Daddy immer beigebracht hat, war: Enge niemals Eggie Smith ein – oder Eggie Smiths Tochter. Du schließt dich der Meute auf ganz einfacher Basis an: Wir sind immer für dich da, und wenn ich dich brauche, bist du für uns da.«
Dee-Ann nickte. »Gib mir ein paar Tage Zeit.«
»Wenn du willst.«
Dee-Ann schwang ihre langen Beine von Smittys Schreibtisch und stand auf.
»Und am Wochenende gibt es eine Party. Du bist mehr als willkommen.«
»Ich denke darüber nach.« Sie ging zur Tür und blieb stehen. »Und welcher Van Holtz hat dir gesagt, ich sei in der Stadt?«
Smitty schaute wieder auf den Monitor; eine E-Mail von Jessie Ann mit einer albernen Betreffzeile brachte ihn zum Lächeln. »Äh … einer von den jüngeren. Ähm, Ric? Ulrich? Er ist ein Freund von …«
Smitty starrte auf den leeren Türrahmen und seufzte. Wie seine Cousine das immer machte, würde ihm wohl ewig ein Rätsel bleiben.
Gwen öffnete die Tür ihres Büros und trat ein. Nur, um von einer einsneunundsiebzig großen Wolfshündin rückwärts an die Wand geknallt zu werden.
»P a a a a a a a r r r r t t t t t y y y y y y y y!«
Gwen war nicht so recht in Stimmung für so etwas und blaffte nur: »Was?«
»Party! Party! Party!«
»Ich gehe zu keiner Party.« Gwen drängte sich an Blayne vorbei und strebte auf ihr Büro zu, wurde aber an den Haaren zurückgerissen, und ein dicker Umschlag erschien vor ihrem Gesicht.
»Party! Party! Party!«
»Würdest du bitte damit aufhören!« Gwen riss ihr den Umschlag aus der Hand. Ihre beiden Namen standen darauf, die Buchstaben erhöht, das Papier dick und von guter Qualität. Gwen öffnete das Kuvert und zog die darinsteckende Karte heraus.
Ihr seid zu der blutrünstigsten Party des Jahrhunderts eingeladen. Kleidet euch als das schaurigste, furchterregendste und makaberste Ungeheuer der bekannten Welt und tanzt mit anderen gleichgesinnten Schreckensgestalten die ganze Nacht durch. Kostüme sind Pflicht. Getränke sind kostenlos. Und Schokolade! Schokolade! Schokolade!
Die Kuznetsovs
»Fällt es ihnen wirklich so schwer, normal zu sein?«
Blayne entriss ihr die Einladung. »Wir gehen hin.«
Gwen drängte sich noch einmal an Blayne vorbei und schaffte es diesmal immerhin bis in ihr Büro. »Du gehst hin. Ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Bin nicht in Stimmung.« Warum sollte sie zu einer albernen Halloween-Party mit einem Haufen alberner Hunde gehen? Ihr Leben war zu kurz und wurde täglich kürzer. Sie hatte nicht vor, sich auch nur eine Minute lang tödlich zu langweilen, wenn sie es vermeiden konnte. »Aber geh ruhig. Amüsier dich!«
Gwen wand sich aus den Trägern ihres Rucksacks und zog gerade ihren Schreibtischstuhl vor, um sich hinzusetzen und ihren Papierkram zusammenzusuchen, bevor sie sich auf den Weg zur Schlangenfarm machten, als Blayne einwarf: »Deine Mutter geht hin.«
Gwen erstarrte, den Hintern noch über ihrem Stuhl. »Was?«
Blayne zuckte die Achseln. »Sie ist eingeladen, und du weißt ja, wie sie …«
»Verdammt!« Gwen ließ sich auf den Stuhl fallen. Jetzt musste sie hin. Ihre Mutter auf einer Party voller Raubtiere und mit einer offenen Bar … Gwen konnte nicht einmal den Gedanken an den Schaden ertragen, den diese Frau anrichten konnte. Und der Schaden würde im Beisein von Locks ganzen Freunden entstehen.
»Wenn du wirklich nicht hinwillst, sag es mir jetzt, denn ich muss eine Antwort …«
»Ich werde da sein«, knurrte Gwen, während sie Schubladen öffnete, als suche sie etwas, aber eigentlich nur, damit sie sie wieder zuknallen konnte.
»Okay.«
Blayne trat in den Flur hinaus und ging um die große Säule herum, die ihr Büro vor den Blicken der Leute in der Lobby verbarg. Bei der Rezeptionistin Mindy am Empfang stand Jess. Als sie Blayne sah, wandte sie sich ihr zu.
Blayne hob die Daumen und zog dann fragend die Augenbrauen hoch.
Jess hob die Hand, formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, die restlichen drei Finger ausgestreckt, um ihr zu bedeuten, dass Lock dabei war.
Sie grinsten sich albern an, dann ging Blayne zurück ins Büro. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, als sie Gwen brüllen hörte: »Wo sind die Scheiß-Belege von der Baustelle?«
Wenn sie die Babysitterin für ihre Mutter spielen musste, kannte Gwen nur einen Lautstärkepegel, bis alles vorbei war. Zum Glück musste Blayne das nur bis Samstagabend ertragen.
Jay Ross griff ins Auto seiner Freundin und riss den Schlüssel aus der Zündung. Schnell machte er einen Schritt zurück, als die Wagentür aufflog und Donna herausstolperte. Sie war vielleicht sturzbetrunken, aber das machte sie nicht weniger stark.
»Gib mir den Scheiß-Schlüssel!« Normalerweise hätte er es getan, denn er hatte keine Lust, sich mit ihr herumzustreiten, wenn sie in einem solchen Zustand war, aber er hatte etwas anderes im Sinn. Das Timing war perfekt.
Er ließ die Schlüssel über ihrem Kopf baumeln. »Okay, deine Mutter hat dir also eine geknallt« – mal wieder –, »aber warum abhauen, wenn ich eine bessere Idee habe, wie wir es derjenigen heimzahlen können, die wirklich Schuld daran ist?«
Sie versuchte, an ihre Schlüssel heranzukommen. »Ich geh nicht nach Philly und leg mich mit dem ganzen Rudel an. Ich bin doch nicht blöd!« Da war er sich nicht so sicher, aber sie war höllisch gut im Blasen, deshalb war er bereit, über ihre Mängel hinwegzusehen.
»Wenn du der Mutter wehtun willst … dann tu dem Kind weh.«
Donna senkte langsam die Arme und starrte ihn mit dem Auge an, das nicht zugeschwollen war, auch wenn es von dem ganzen Jack Daniel’s, den sie pichelte, ziemlich glasig war. »Was meinst du? Sie verprügeln? Das haben wir schon gemacht.«
»Nee. Ich meine etwas … Bleibenderes.«
Sie wandte sich von ihm ab. Donna versuchte, so zu tun, als wüsste sie nicht, was er für Geld tat, aber natürlich wusste sie es. Sie wussten es alle, sie taten nur gern so, als hätten sie keine Ahnung.
»Beide?«, fragte sie schließlich und klang jetzt gar nicht mehr so betrunken.
»Ja. Beide.« Er konnte das Geld praktisch schon in seinen Händen spüren. Und Mann, das fühlte sich gut an.
Jay legte ihr den Arm um die Schultern und rieb die Nase an ihrem Ohr. »Vertrau mir, Baby. Sie kriegen beide, was sie verdienen.«
»Wie? Die Schlampe ist nicht dumm. Wir können sie schließlich nicht anrufen und ihr sagen, sie soll sich irgendwo mit uns treffen.«
»Du musst langsam anders denken, Baby. Denk mal ein bisschen menschlicher.«
Daraufhin zog Donna ein wenig die Lippe hoch, doch dann fragte sie: »Wann?«
Er lächelte; seine Gedanken liefen bereits auf Hochtouren. »Bald. Ganz bald.«
Sie fühlte sich wunderbar an, ganz verschwitzt und weich, während sie so erschöpft auf ihm lag. Er fuhr ihr mit den Händen das Rückgrat entlang und über die Wölbung ihres Hinterns.
»Nimm die Krallen«, murmelte sie und schmiegte sich enger an ihn.
Er tat es, ließ sie vorsichtig an ihrem Rücken auf und ab gleiten. Er wusste nicht, ob sie merkte, dass sie einschlief – auf dem Küchenboden und während er ihr den Rücken liebkoste.
Sie waren gerade nach Hause gekommen, nachdem er sie von der Eisbahn abgeholt hatte und mit ihr zum Essen ins Diner um die Ecke gegangen war. Sie hatten zu Abend gegessen, aber beschlossen, das Dessert in der Wohnung einzunehmen. Er war auf dem Weg zur Eiscreme in seinem Gefrierschrank gewesen, als sie ihm von hinten die Arme um die Taille geschlungen hatte. In weniger als fünf Sekunden hatte sie seinen Reißverschluss auf und die Hand in seinen Shorts gehabt. Danach waren ihre Klamotten durch den Raum geflogen und sie malträtierten seinen Küchenboden.
Sie schlief nur zwanzig Minuten, bevor sie den Kopf von seiner Brust hob und sich mit ihren hübschen Augen blinzelnd im Raum umsah.
»Eiscreme?«, fragte sie.
»Gefrierschrank. Ich hol sie.«
»Nein. Ich gehe.« Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, drückte sich hoch und kratzte sich den Kopf. Dann streckte sie sich, die Arme hoch über dem Kopf, die Brust herausgedrückt. Lock wurde wieder hart und griff nach ihr.
»Eiscreme«, beharrte sie und schob seine Hände weg. »Und schmoll nicht!«, befahl sie, bevor sie aufstand und zu seinem Gefrierschrank ging.
Gwen starrte in Locks Gefrierschrank. Wie viel Eiscreme aß dieser Mann täglich? Die oberen drei Fächer waren voller Eiscremebehälter, von den teuren Markennamen bis hin zu den billigen Eigenmarken. Er hatte alle möglichen Geschmacksrichtungen.
Bei offener Tür drehte Gwen sich, um Lock zu fragen, welche Sorte er wollte, aber er hatte die Beine in die Luft gestreckt und umklammerte seine Zehen.
»Hast du Spaß?«
Er nickte grinsend.
Musste er unbedingt so süß sein? War das wirklich fair?
»Was für Eis willst du?«
»Traube-Rum.«
Sie warf einen Blick in den Gefrierschrank. »Irgendeine bestimmte Marke? Du hast so ungefähr zehn Traube-Rums hier drin.«
»Ist egal.«
Sie nahm die vorderste Packung Traube-Rum-Eis heraus und wühlte herum, bis sie für sich selbst das Pekannuss-Eis fand.
»Wo sind noch mal die Löffel?«
»Zweite Schublade …« er deutete mit einem Bein hin »… links.«
»Das ist keine attraktive Pose für einen Mann.«
Er lachte und spielte weiter Zehengrabbeln, oder wie auch immer er es nannte.
Das Eis, Löffel und Küchentücher in der Hand, ging Gwen zu Lock zurück und setzte sich auf den Boden.
»Wir können ins Wohnzimmer gehen, wenn du willst.«
»Nö.« Sie hob den Deckel vom Traube-Rum-Eis ab und steckte den Löffel hinein. »Ich habe irgendwie perversen Spaß daran, nackt in deiner Küche zu sitzen, was meine Tanten niemals erlauben würden, denn ›Das ist einfach ekelhaft‹. Also will ich es genießen.« Lock setzte sich auf und lehnte den Rücken an das dicke Holzbein des Küchentisches. Doch statt ihr die Eiscreme abzunehmen, zog er sie zu sich her und setzte sie zwischen seine Beine.
»Bequem?«
Überraschenderweise war es das. Wer hätte geahnt, dass sie es mögen würde, dass sein dicker Schwanz gegen sie drückte wie ein Bleirohr? »Yep.«
Lange Arme griffen um sie herum, hielten sein Eis fest und schöpften Löffel voll heraus, ohne dass Gwen sich Sorgen gemacht hätte, dass er sie mit dem kalten Becher berührte. Seine Beine waren so lang, dass er mit den Zehen ständig die Schwingtür aufstieß, die ins Esszimmer führte. Neben ihm fühlte sie sich wie ein Zwerg.
Nach ein paar Löffeln Eis musste sie dann doch fragen: »Fühlst du dich unwohl mit deiner Größe?«
»Nein. Ich fühle mich unwohl damit, wie unwohl sich alle anderen mit meiner Größe fühlen.« Er tauchte seinen Löffel in ihr Pekannuss-Eis, was ärgerlicherweise Reste von Traube-Rum hinterließ. »Irgendwann kann man dieses ›Heilige Scheiße, ist der Typ groß!‹ nicht mehr hören.«
Nachdem sie das Traube-Rum-Eis herausgekratzt und in ein Küchentuch gewischt hatte, sagte Gwen: »Blayne und ich sind am Samstag auf eine Party eingeladen.«
»Es ist Halloween.«
Sie wartete auf mehr als diese Aussage, aber es schien nichts mehr zu kommen. »Ja. Es ist Halloween.«
Sein Löffel wollte wieder in ihr Eis tauchen, und sie zog den Becher weg. »Mach wenigstens deinen Löffel vorher besser sauber.« Sie verzog das Gesicht. »Ich hasse Traube-Rum.«
»Banausin!«
»Als wäre ich noch nie so genannt worden.« Und zwar von echten Männern Gottes.
Sie schöpfte noch einen Löffel von ihrem Eis heraus und bot ihn Lock an. Lächelnd leckte er den Löffel sauber, und Gwen nahm selbst auch noch einen. »Also, jedenfalls, die Party.« Sie räusperte sich. »Blayne und ich können jemanden mitbringen, wenn wir wollen, und ich dachte, ich frage dich, ob du mitwillst. Auch wenn ich dich warnen muss, dass meine Mutter kommt und ich wahrscheinlich einen guten Teil des Abends damit beschäftigt sein werde, sie davon abzuhalten, andere abzufüllen, damit sie sie zu Dingen überreden kann, die sie am nächsten Morgen bereuen.«
»Ich arbeite am Samstag in meiner Werkstatt.«
»Oh. Ach so. Kein Problem. Ich wollte nur fr…«
»Deshalb treffen wir uns dort, wenn das okay ist. Ric holt mich in seiner Limo ab.« Er schluckte noch einen Löffel Eis. »Danach können wir zusammen nach Hause gehen, so wie heute.«
»Okay. Klingt gut.« Sie schöpfte noch einen Löffel Eis, aß es aber nicht, sondern steckte den Löffel wieder zurück in den Becher. »Du wolltest sowieso hin?«
»Ja.«
»Du hasst Partys.«
»Ich weiß. Aber Jess hat gedroht zu weinen. Ich konnte also entweder zusagen oder ihre Tränen aushalten. Ich hasse es, wenn sie weint.«
»Klar.« Gwen nahm den Löffel wieder auf, steckte ihn dann aber doch wieder ins Eis zurück. »Und warum hängst du so an ihr?«
»Jess ist eine Freundin«, erklärte er, während er weiteraß.
»Und?«
»Und was?«
»Warst du mal mit ihr zusammen oder so?«
»Mit Jess?«
»Ja. Mit Jess. Die mit den feuchten Augen, die sich immer so exzessiv an dich klammert. Die Jess.«
»Sie klammert sich nicht an mich.«
»Und wenn sie dir sagen würde, du sollst von einer Brücke springen …?«
»Das wäre davon abhängig, wofür ich von der Brücke springen soll.«
Sie warf dem Bären über die Schulter einen wütenden Blick zu. »Was soll das denn für eine Antwort sein?«
»Pass auf: Wenn sie mich bitten würde, von der Brücke zu springen, weil ihr langweilig ist und sie sehen will, ob ich einen schmerzhaften Tod im Atlantik sterbe, dann würde ich es nicht tun. Wenn eines ihrer Jungen reingefallen wäre oder Jess selbst oder einer aus ihrer Meute, dann würde ich natürlich versuchen, sie zu retten. Weil es Jess ist.«
»O mein Gott«, platzte Gwen heraus und fühlte sich plötzlich unglaublich dumm, weil sie es vorher nicht erkannt hatte. »Du bist in sie verliebt!«
Lock riss den Kopf hoch, der Löffel hing ihm aus dem Mund wie ein Dauerlutscher. »Was?«
»Du hast mich verstanden!« Sie versuchte, von ihm wegzukriechen, aber er packte sie um die Taille und drückte sie an seine Brust. »Warum gibst du nicht einfach zu, dass du in sie verliebt bist?«, beharrte sie, als er sie nicht loslassen wollte.
»Weil ich nicht in sie verliebt bin.«
»Schwachsinn.«
»Gwen …« Er nahm den Löffel aus dem Mund, steckte ihn in seinen Rest Eiscreme und stellte den Becher beiseite. Dann drehte er sie um und zog sie auf seinen Schoß, damit sie einander direkt ansehen konnten.
»Ich liebe Jess«, sagte er. »Aber ich bin nicht in sie verliebt.«
»Dann …«
»Lass mich ausreden, denn das ist keine einfache Geschichte.« Er holte Luft und fuhr fort. »Jess hat mit mir geredet, als es sonst keiner tat. Sie hat mir einen Job gegeben, als sonst keiner es wollte. Sie besitzt meine Loyalität.«
»Frisch von den Marines, Universitätsabschluss, und du hattest Probleme, Arbeit zu finden?« Sie versuchte vergeblich, nicht ungläubig zu klingen.
»Ich kam nicht nur frisch von den Marines, Gwen. Ich kam frisch aus der Einheit.«
In ihrer Wut hatte sie es vergessen, aber sie wusste sehr wohl, dass es da einen Unterschied gab. Einen großen. »Stimmt ja.«
»Ich war speziell für die Einheit rekrutiert worden. Meine ganze Ausbildung, die ganzen Jahre, die ich dabei war … immer bei der Einheit. Nach acht Jahren wurde ich ehrenvoll entlassen – mit einer beträchtlichen Abfindung und der Auflage, ein Jahr lang fünfmal pro Woche zur Therapie zu gehen.«
Fünfmal pro Woche?
»Ich habe Jess in einem Coffee-Shop in der Nähe ihres Büros kennengelernt. Da war ich gerade mit dem Laptop meiner Mutter dabei zu versuchen, mich in meine Dienstakten zu hacken, weil ich herausfinden wollte, warum sie mich rausgeworfen hatten. Damals wollte ich noch nicht kapieren, warum sie mich zwei Jahre vor dem Ende meiner eigentlichen Dienstzeit entlassen hatten, aber eigentlich wusste ich schon, warum. Alle wussten es. Jedenfalls hatte ich mich ungefähr drei Monate nicht rasiert. War seit meiner Entlassung nicht mehr beim Friseur gewesen. Trug immer noch meine Uniform … Ich sah definitiv wie ein Typ aus, der gleich mit einem Gewehr aufs Dach irgendeines Gebäudes geht und anfängt, Leute abzuknallen. Da sitze ich also, mache etwas, wovon ich weiß, dass es ein Fehler ist, und als ich aufblicke …«, er zuckte die Achseln, »… steht sie da. Mit zwei Bechern Kaffee in den Händen. Starrt mich einfach an. Ich hätte erwartet, dass sie wegläuft. Wenn schon nicht einfach aus Angst vor Grizzlys, dann wenigstens vor meinem Gestank – denn ich hatte ein paar Tage nicht geduscht. Aber sie ist nicht weggelaufen.«
»Was hat sie getan?«
Sein Lächeln war warm, und Gwen spürte wieder diesen Stich der Eifersucht. Sie hasste dieses Gefühl – schon allein, dass sie so ein Gefühl hatte, war unerträglich. »Sie gab mir einen der Kaffeebecher und sechs Honigbrötchen, setzte sich neben mich und … und sie redete mit mir. Ich erinnere mich nicht einmal, wie lang, oder was sie sagte. Und am Anfang hat auch hauptsächlich sie geredet. Eine Woche lang ging ich dann aber jeden Tag ungefähr zur selben Zeit in denselben Coffee-Shop, und jedes Mal war sie auch da oder kam ein paar Minuten später, und wir redeten weiter. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie sie mir den Auftrag gegeben hatte, Codes für ihre Firmensoftware zu schreiben, und als das gut lief, haben sie mich wieder angeheuert. Ich habe wieder angefangen, mich zu rasieren, jeden Tag zu duschen, packte mein Militärzeug in meinen Koffer und stellte ihn ganz hinten in den Schrank. Bald hatte ich Ziele und Pläne für meine Zukunft, nicht mehr nur für die nächsten Tage oder Stunden. Sie hat mir geholfen, weiterzumachen … na ja, sie und die Therapie. Und das werde ich ihr nie vergessen. Also ja: Wenn Jess von mir verlangen würde, von einer Brücke zu springen und es gäbe einen guten Grund dafür, dann würde ich es wahrscheinlich tun.«
Gwen schluckte; hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl der Dankbarkeit Jess gegenüber, weil sie Lock geholfen hatte, als er es am meisten brauchte, und Abneigung, weil sie Lock näher war, als sie selbst es vielleicht je sein würde. »Dann liebst du sie also«, sagte sie, entschlossen, sich der Wahrheit zu stellen.
»Ja, ich liebe sie. Aber ich bin nicht in sie verliebt. Ich bin in niemanden verliebt.«
Gwen spürte, wie ihr bei Locks Worten das Herz schwer wurde, aber sie würde ihm keinen Strick daraus drehen, dass er ehrlich war. Besser, sie erfuhr es jetzt als später.
Nickend griff Gwen wieder nach ihrer Eiscreme und sagte: »Ich verstehe.«
»Ich meine«, fuhr er fort, »in niemanden verliebt als dich.« Er dachte kurz nach und fügte hinzu: »Gott, ich bin wahnsinnig verliebt in dich. Aber ja, ich liebe Jess. Warte … was ist los?«
Das fragte er wahrscheinlich, weil ihre Hand auf dem Weg zum Eisbecher in der Luft erstarrt war, aber sie war so verblüfft, dass sie sie einfach da hängen ließ. Den Blick fest auf ihre Nägel gerichtet, fragte sie: »Du bist in mich verliebt?«
»Wahnsinnig. Du weißt schon, die ganze Sache mit dem ›So verliebt, dass ich mir mein Leben nicht mehr ohne dich vorstellen kann‹.«
Sie ließ die Hand wieder zurück in ihren Schoß sinken und sah verwundert zu ihm auf. »Und so etwas wirfst du einfach so mitten im Gespräch ein?«
»Ich werfe es nicht ein, ich stelle es klar.«
»Siehst du, das habe ich gemeint. Es ist wie das Schnitzen …«
»Ich habe nie gesagt, dass ich schnitze. Ich sagte, es sei ein Hobby. Du dachtest, ich schnitze und es wären Vogelhäuschen im Spiel.«
»Aber so, wie du es mir beschrieben hast – auf deine ruhige, untertriebene Art – klang es nach Schnitzen. Und dabei bist du in Wirklichkeit so was wie der Ansel Adams des Holzes!«
»Und das ist ein Problem?«
»Nein. Das ist nicht das Problem, sondern deine Art, mir Dinge zu sagen. Das machst du ständig!«
»Was mache ich ständig?«
Mit ihrer ruhigsten, entspanntesten cooler-Surfer-Stimme antwortete Gwen: »Hey, ich wollte nur sagen … der Himmel stürzt ein. Hey, kein Grund zur Sorge, aber … äh … Tsunami.«
»Ach, komm schon!«
»Hey«, sprach sie beiläufig weiter, obwohl ihr Herz hämmerte, weil ihr bewusst wurde, dass der Grizzly sie liebte, »ich hab einen alten Kumpel zum Abendessen eingeladen. Er ist der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und er bringt ungefähr dreihundert Leute mit, aber kein Problem, ich bin mir sicher, wir haben etwas im Gefrierschrank.«
Lock zog einen Schmollmund. »So schlimm bin ich nicht!«
»Doch, bist du. Du hast Glück, dass ich darüber hinwegsehen kann.«
Dann sah sie in sein schönes Gesicht und streichelte über seine Wange.
»Es ist okay, Gwen.« Er schenkte ihr sein liebenswertes Lächeln. »Sag es, wenn du so weit bist.«
»Okay. Mache ich.« Sie schob die Hände in seine Haare und zog ihn dicht an sich. Sie richtete sich auf seinem Schoß auf und hob den Mund in seine Richtung. Kurz, bevor ihre Lippen sich berührten, sagte sie: »Ich liebe dich.« Sie lächelte achselzuckend. »Ich war so weit.«
Lock umschloss ihr Gesicht mit den Händen; lange Finger strichen über ihre Haut. Er studierte sie, als wolle er jeden Teil von ihr aufsaugen, jedes Detail aufnehmen. Keiner hatte sie je so angesehen, und wenn, dann hatte es eindeutig nicht so viel bedeutet.
Locks Lippen berührten ihre, und als seine Zunge in ihren Mund glitt, ließ sie sich rückwärts auf den Küchenboden sinken und zog Lock mit sich.
»Tisch sechs«, rief Ric, als er zwei große und meisterhaft angerichtete gegrillte Scheiben Wild auf die Theke stellte. Der Kellner nahm beide Platten und ging damit hinaus.
Ric schnappte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und sagte zu seinem Sous-Chef: »Bin gleich wieder da. Kurze Pause.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er in die Gasse hinter dem Restaurant hinaus. Er trank von seinem Wasser und schaute in den Himmel. Es war ein schöner Abend. Sehr schön.
»Na, willst du durchbrennen?«, fragte eine Stimme.
Rics Lächeln war breit und echt, als er den Mann herzlich umarmte. »Onkel Van! Ich freue mich so, dich zu sehen.«
»Hallo, Cousin.« Niles Van Holtz, für die jüngeren Cousins der Meute »Onkel Van«, trat zurück und sah ihn prüfend an. »Viel los heute Abend?«
Ric seufzte erschöpft auf. »Du hast ja keine Ahnung.« Er gestikulierte mit seiner Wasserflasche. »Und, was führt dich an diese Küste?« Er ließ die Schultern hängen. »Muss ich meinen Vater anrufen?«
»O Gott, nein. Ich habe mich immer noch nicht von dem Memorial-Day-Wochenende erholt!«
Ric verzog das Gesicht beim Gedanken an die Familienfeier, die ziemlich schnell ausgeartet war. »Ich habe Tante Irene Blumen geschickt.« Inklusive kriecherischer Entschuldigung. »Sie sagt, sie hätten ihr gefallen.«
»Sie fand sie wunderbar. Auch wenn ich mir wieder einmal anhören musste, dass es meine Schuld ist, dass wir dich diesem – ich zitiere – Barbaren nicht weggenommen haben, als du fünf warst und wir merkten, dass dein IQ höher ist als der deiner Eltern und Brüder zusammen.«
Lachend und stolz auf so ein Kompliment von einem echten Genie wie Dr. Irene Conridge-Van Holtz, zuckte Ric die Achseln. »Also, was brauchst du?«
»Du hast mir vor ein paar Tagen eine Information geschickt?«
»Ja?«
Van hielt ihm etwas hin, und Ric nahm es. Es war aus beschlagenem Leder, und als er die Riemen entwirrte, erkannte er, dass es ein sehr großer Maulkorb war. Ein sehr großer, blutverkrusteter Maulkorb.
»Ich glaube, es ist Zeit, Cousin«, sagte der ältere Wolf, und mit einem traurigen Blick auf die Vorrichtung in seinen Händen musste Ric ihm zustimmen.