Verträumte Augen
(Rudy
Rucker)
„Schau dir das an“, sagte mein Partner, das Genie. Er schwenkte eine Seifenblase.
Ich blickte zurück zu dem Programm, das auf dem Bildschirm meines Terminals Gestalt annahm. Geordnete grüne Linien von PL/II-Befehlen. „Hör auf, Harry. Ich bin nicht daran interessiert.“
Harry ignorierte derlei Bemerkungen … wahrscheinlich hörte er sie nicht einmal. Er beugte sich schwerfällig über mich. Ein dicker Tropfen Seifenlösung zerplatzte auf der Tastatur. Ich seufzte, drückte auf SPEICHERN und hörte auf.
„Paß auf“, sagte Harry. Er hatte einen dieser Riesenblasenrahmen, einen großen Plastikreifen. Darüber spannte sich ein Seifenfilm von zehn Zentimetern Durchmesser. Harry blies einen sanften Luftstrom auf die Mitte. Der große Film zuckte, beulte sich aus, und dann löste sich eine Prozession kleiner Blasen und schwebte davon.
„Radioaktivität, Harry“, sagte ich und versuchte nicht zu keifen. „Müllbeseitigung. Erinnerst du dich an den NRC-Vertrag?“
Er starrte die hüpfende Seifenschicht an, die dicken Lippen vor Erstaunen geöffnet. Eine Blase setzte sich auf den Film und verschmolz erneut mit ihm.
Im Vorzimmer schrie jemand. Jemand aus New Jersey. Rosie kam trippelnd durchs Vorzimmer gelaufen. Ich ging an Harry vorbei und schaute zur Tür hinaus. „Was gibt’s?“
Rosie trug das Haar über das Gesicht fallend, mit einem durchsichtig eingefärbten Guckloch. Ihr Kleid war so hologrammiert, daß es wie ein Baumstumpf wirkte. Ein nettes Mädchen. Manchmal fragte ich mich, wie sie aussah.
„Draußen ist ein Mann mit einer Schubkarre, der Sie sprechen will, Mr. Fletcher. Ein gewisser Mr. Kreementz.“
Ich erinnerte mich an Kreementz. Er war Leiter der Schadstoffkontrolle der Firma Murden Chemical in Newark. Harry und ich hatten vor fünf Jahren für ihn einen neuartigen Schornsteinreiniger entwickelt. Bislang hatte es keine Reklamationen gegeben.
„Was ist in der Schubkarre?“
Rosie blickte verstohlen zu Harry hinüber und kicherte. „Das ist das Lustige daran. Die Schubkarre ist leer. Und er sagt immer wieder, er möchte sie auf Ihr … entleeren …“
Die Tür zum Vorzimmer wurde krachend aufgestoßen, und Kreementz kam hereingestürmt, vor sich eine große, eiserne Schubkarre. Ohne die Krawatte hätte man ihn für einen wütenden alten Bauarbeiter halten können. Rosie und ich machten einen Schritt ins Büro zurück und stießen mit Harry zusammen.
„Garden-State-Degeneration – wir liefern“, meinte Harry dumpf.
Und dann ließ Kreementz seinen Zorn an uns aus. „Das Spiel ist aus, Burschen. Auf dem Weg hierher habe ich die Klage eingebracht. Wißt ihr, was das Stillstehen der Anlage pro Stunde kostet? Ihr werdet euch nicht aus dem Staube machen und mich als Sündenbock zurücklassen.“
Er stellte die Schubkarre krachend nieder. Sein Anzug war von Schweiß fleckig, und er atmete schwer. Ich fragte mich, wie eine leere Schubkarre so schwer sein konnte.
„Setzen Sie sich, Mr. Kreementz.“ Ich deutete auf meinen Stuhl. „Ich verstehe gar nicht, warum Sie glauben, Fletcher & Co würden für ihre Produkte nicht garantieren. Wenn Murden Chemical ein Problem mit unserem Schadstoffbegrenzer hat, kann ich Ihnen versichern …“
Harry hatte Kreementz in gewohnt fischäugiger Manier angeglotzt. Er überzeugte sich, daß er Rosies Aufmerksamkeit hatte, streckte den Daumen aus der Faust hervor und tat so, als nähme er einen Zug aus einer Flasche. Es überraschte mich, daß er solche Scherze machte. Kreementz bemerkte die Geste und ging in die Luft.
„Dieser blöde Nullstrahl eurer Firma funktioniert nicht. Jedesmal, wenn wir ihn einschalten, schaltet er sich wieder ab. Und man gibt mir die Schuld!“ Er glotzte Harry an. „An meiner Stelle würden Sie auch trinken! Halten Sie es für lustig? Dann probieren Sie das mal!“
Mit einem Grunzen kippte er die Schubkarre nach vorn. Ein Etwas, das zu klein war, als daß man es hätte sehen können, krachte auf den Beton-Estrich. Staub und Steinsplitter flogen auf. Ein schreckliches Grollen ertönte, wie von einem Bierfaß aus Blei. Das Ding rollte auf Harry zu.
Mit der Gelenkigkeit eines Schwergewichtigen trat Harry beiseite und kniete nieder. Auf dem Fußboden war eine Rille zu sehen, die langsam länger wurde. Am Ende der Rille war etwas Winziges, das rumpelnd dahinrollte.
Rosie stand in der Tür und wirkte wie ein Zaunpfahl mit Haaren. Wenn ihr Guckloch nicht zu sehen war, konnte man unmöglich feststellen, in welcher Richtung sie dastand. Ich nahm an, daß sie Harry zusah. Er schien sie zu faszinieren.
„Wunderschön“, sagte Harry und kroch auf Händen und Knien auf dem Fußboden umher. „Komm, schau dir das an, Fletch.“
Ich blickte Kreementz fragend an. „Ich lade Sie ein“, sagte er. „Dort, von wo das Zeug herkommt, haben wir noch viel mehr davon. Der Bodensatz von Schlot sieben. Das ist der, den ihr …“
Plötzlich wurde mir alles klar.
Das Rumpeln dauerte noch immer an. Es klang, um alles in der Welt, als hätte Kreementz angefangen, eine schwere kleine Kugel über unseren Boden zu rollen. Ich ließ mich neben Harry nieder und blickte angestrengt.
Es war winzig, der Durchmesser betrug nur Bruchteile von Millimetern. Eine kleine Kugel, die wie ein Quecksilbertropfen glänzte. Nach der Rille zu schließen, die sie in unseren Boden fraß, mußte sie über hundert Kilogramm schwer sein. Harry streckte seinen dicken Daumen in die Bahn der Kugel. Die Kugel rollte unter seinem Daumen hindurch, ohne langsamer zu werden. Bald mußte sie gegen die Wand schlagen.
Rosie stand hinter mir, sie beugte sich über mich, um auch etwas zu sehen. Ich warf einen Blick zu ihr hinauf. Da ihr Haar nach vorn hing, konnte ich ihr Gesicht sehen. Sie hatte einen Schmollmund und verträumte Augen. Als sie bemerkte, daß ich sie beobachtete, richtete sie sich kerzengerade auf.
Ich erhob mich, entschlossen, Kreementz zu zeigen, wer hier der Chef war. „Mr. Kreementz, der Nullstrahl wurde so konzipiert, daß er die Materie in Ihrem Schornstein verdichtet. Wir haben nicht behauptet, daß das Material dann verschwindet. Ich glaube, ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß Sie den Schlot ausräumen müßten.“
„Aber ich habe doch nicht bemerkt, daß sich etwas angesammelt hat!“ platzte Kreementz heraus. „Im ersten Monat habe ich ihn jeden Tag gesäubert, aber eines Tages habe ich es vergessen, und das Zeug war trotzdem fort. Ich kam zu dem Schluß, daß euer Strahl alles verschwinden läßt, wenn es seiner Wirkung nur hinlänglich lange ausgesetzt ist.“
„Mit anderen Worten, Sie haben den Schornstein in nahezu fünf Jahren ununterbrochenen Betriebes nicht gereinigt!“
Kreementz fing zu nicken an, erstarrte dann aber. Er hatte bereits zuviel zugegeben.
„Ich glaube, du hattest recht“, sagte Harry zu mir, als er sich erhob.
„Was die automatische Abschaltung angeht?“
„Wollen Sie damit sagen, daß Sie den Nullstrahl so geplant haben, daß er zu arbeiten aufhörte?“ wollte Kreementz zornig wissen.
Es gab ein plötzliches Knirschen. Die kleine Kugel bohrte sich durch unsere Wand in den nächsten Raum hinein. Als der Lärm abgeklungen war, antwortete ich.
„Man wollte von uns, daß die Sache … narrensicher sei.“
„Sehen Sie“, fügte Harry hinzu, „wenn man etwas lange genug den Nullstrahlen aussetzt … sagen wir fünf Jahre … dann wird es zu einem Schwarzen Loch.“
Kreementz zog die Augenbrauen hoch. „Was wäre passiert, wenn in Schlot sieben ein Schwarzes Loch entstanden wäre?“
„Ich sage Ihnen zunächst die gute Nachricht“, meinte Harry, und seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Quanteneffekte würden das Loch zwingen, sich in reine Energie aufzulösen. Durch Messung der beim Verdampfen frei werdenden Energie wären die Wissenschaftler imstande zu entscheiden, ob die Quarktheorie der Materie bis in alle Einzelheiten stimmt oder nicht. Fletch, teil du ihm die schlechte Nachricht mit.“
„Nach Stephen Hawkings’ Berechnungen hätte das ‚Verdampfen’ eines Schwarzen Loches von hundert Kilogramm dieselbe Wirkung wie eine Atomexplosion von zehn Megatonnen. Wenn die Quarks natürlich nicht wirklich grundlegend sind, wäre die Explosion an die zehntausendmal stärker.“
„Ihr Burschen würdet bei Verstehen Sie Spaß? eine ausgezeichnete Figur machen“, meinte Kreementz sauer.
„Was ist Verstehen Sie Spaß?“ fragte Rosie.
„In den Tagen, da Mr. Kreementz noch klein war, war das eine Fernsehshow“, erwiderte ich. „Er kommt mir wie jemand vor, der als Kind sehr viel ferngesehen hat, nicht wahr?“
„Zumindest hatte ich eine Kindheit“, gab Kreementz zurück. „Ihr Burschen seht aus, als wäret ihr aus Eiern ausgebrütet worden. Besonders er!“
Harry starrte die Wand an, die Schultern nach vorn gebeugt, die Fäuste in den ungeheuren Taschen seiner verdrückten grauen Polyesterhosen. Ein gedämpftes Krachen ertönte, als der kleine Ball den nächsten Raum verließ.
Harry wandte sich langsam Kreementz zu. „Wie viele Tonnen?“
„Er meint, wie viele Tonnen im Schlot sind“, erklärte ich.
„Ich hab’s nicht gewogen“, erwiderte Kreementz mürrisch. „Der Rauch von fünf Jahren. Vielleicht an die zweihunderttausend Tonnen.“
„Aber Rauch ist doch leicht“, protestierte Rosie verwirrt.
„Nicht der von Murden Chemical“, sagte ich.
„Nicht wenn diese Burschen mit ihm fertig sind“, fügte Kreementz hinzu. „Sie haben für uns einen Strahl konstruiert, der alle Atome in Schlot sieben umbringt. Sie hören zu schwingen auf und schrumpfen zusammen. Wir haben einen Deckel auf dem Schlot. Alle paar Minuten füllt er sich mit Rauch, so dicht es nur geht, dann wird der Nullstrahl ausgelöst, und alles im Rauchfang verschwindet.“
„Sie vergessen ständig, daß das Zeug nicht verschwindet“, verbesserte ich ihn. „Es fällt bloß auf eine sehr kleine Größe zusammen.“
„Wie ein Müllverdichter?“ warf Rosie schüchtern ein.
Ich nickte. „Das schwebte uns vor. Ein Schlot voller Dreck sollte einen Hundert-Kilogramm-Barren von Ziegelformat ergeben. Mr. Kreementz jedoch ließ das Zeug drinnen, damit es bei jedem Pulsieren des Nullstrahls ein wenig mehr zusammenfiel. Wir haben ihn davor gewarnt, aber er hat es trotzdem getan. Wenn ich keinen mit einer Abschaltung gekoppelten Massendetektor eingebaut hätte, dann wäre von Central Jersey dank Mr. Kreementz bloß eine schöne Erinnerung übriggeblieben.“
Das Rumpeln hatte nach dem letzten Krachen aufgehört. Das glänzende Stäubchen degenerierter Materie war wahrscheinlich im Blumenbeet verschwunden. „Wie dicht ist das Zeug?“ fragte ich Harry.
Er hatte auf der Tafel herumgekritzelt, seit ihm Kreementz die Zahl zweihunderttausend genannt hatte. „Ich erhalte 1011 Gramm pro Kubikzentimeter. Das ist Neutronium. Nackte Neutronen, gerade mit soviel degenerierten Elektronen und Protonen zusammengepackt, daß es stabil bleibt. Ehrlich gesagt wundere ich mich, daß es funktioniert hat.“
„Ist Neutronium wertvoll?“ wollte Kreementz wissen.
Harry öffnete den Mund, um zu antworten. Ich trat dazwischen. Ich mache es mir zur Richtschnur, Harry nie auf Fragen antworten zu lassen, die mit Geld zu tun haben.
„Soll das ein Witz sein?“ fragte ich Kreementz mit einem spöttischen Lachen. „Ist Abwasser wertvoll? Lieben die Menschen den Krebs? Sind Ölrückstände gut für die Fische? Ist der Papst ein Jude? Sie haben ein großes, schmutziges Reinemachen vor sich, Kreementz. Eine falsche Bewegung, und die Fabrik fliegt in die Luft. Ich beneide Sie nicht.“ Eine Hand hielt ich hinter dem Rücken versteckt und gab Harry damit ein Zeichen.
Kreementz seufzte tief. „Sie haben nicht zufällig was zum Trinken da?“
Rosie brachte ihm ein Coke und ein paar Kubikzentimeter Weingeist. Er nahm einen langen, durstigen Schluck. Geschickt warf ich den Köder aus. „Wir könnten die Beseitigung organisieren, aber es würde …“
„Nein, Fletch“, sagte Harry. „Es ist zu gefährlich. Ich glaube nicht, daß wir es riskieren sollten.“ Er hatte mich verstanden.
„Ich bin ermächtigt, Ihnen ein Angebot zu machen“, sagte Kreementz und nannte eine annehmbare Summe. „Es ist eine Menge, und ich glaube trotzdem, daß wir den Prozeß gewinnen könnten … aber das Management möchte den Schlot wieder in Betrieb nehmen.“
„Verdreifachen Sie das Angebot, und wir haben ihn in zwei Tagen gesäubert.“
„Das Doppelte.“
„Gemacht.“
In Wahrheit war das Ausräumen ein Kinderspiel. Wir machten eine Seite des Schornsteins auf und fuhren mit Schürfraupen hinein. Das Zeug oben ähnelte hochwertigem Eisenerz. Die unteren Schichten waren länger den Nullstrahlen ausgesetzt gewesen. Wir mußten es Kubikzentimeter um Kubikzentimeter mit Lastwagen wegschaffen. Unsere Laster konnten bloß hundert Tonnen laden. Wir hatten jedoch eine ganze Flotte gemietet.
Harry hatte im Keller einen Estrich aus Titaniplast gegossen. Das Zeug war eine Verbindung, die auf der neuen Quarkchemie basierte. Niemand wußte, was es aushielt, denn bislang war noch niemand imstande gewesen, nach seiner Erhärtung ein Stück davon zu zertrümmern.
Wir kippten das Neutronium zum Kellerfenster hinein. Harry war glücklich, das Zeug zu bekommen; er behauptete, es komme ihm gerade recht. Er brachte dort unten ein paar Waldoes an und machte sich an die Arbeit. Ich war froh, ihn und seine Seifenblasen aus meinem Büro los zu sein.
Ich hatte damals gerade den Auftrag, für die Atomenergieleute ein paar Computersimulationen durchzuführen. Wie viele Tote würde es geben, wenn wir den radioaktiven Abfall in einem Diamantenbergwerk vergruben? Was würde geschehen, wenn man ihn in den Polareiskappen ablagerte? Was würde es kosten, ihn mit Raketen in die Sonne zu schießen? Jetzt hatten sie den Müll schon seit vierzig Jahren angesammelt. Jedesmal, wenn es danach aussah, daß sie sich für eine Lösung entschieden hätten, kam jemand mit einem neuen „Aber was wäre wenn?“ Fletcher & Co. hatten von der NRC einen Vertrag erhalten, die Simulationen zu verbessern und bei Gott zu einer Entscheidung zu kommen.
Harry hatte versprochen, sich des Problems anzunehmen und womöglich eine brandneue Lösung auszutüfteln, aber ich verließ mich nicht darauf. Ich konzentrierte mich bloß darauf, die Würmer in meinen Programmen auszumerzen. Die Finanzspritze von der Murden Chemical war eine Hilfe, aber wenn ich die NRC nicht so zufriedenstellen konnte, daß sie das große Geld ausspuckte, würde die Leasing Gesellschaft meine zentralen Computereinheiten wieder zurückverlangen. Lieber hätte ich mein eigenes Rückgrat hergegeben.
Eine Woche verstrich. Rosie brachte mir wie gewöhnlich das Mittagessen, Milch und ein Thunfischsalatsandwich. Ich hatte es nicht gerne, das Programmieren zu unterbrechen, wenn ich gerade im schönsten Schwung war. Aber anstatt sich ruhig zu entfernen, blieb Rosie neben mir stehen. Ihr heutiges Kleid war so hologrammiert, daß sie zu einem Brunnen wurde. Das lenkte ab.
„Gibt es was, Rosie?“
„Es handelt sich um Dr. Gerber. Er führt sich merkwürdig auf.“
„Wenn Harry aufhört, sich merkwürdig aufzuführen, fang ich an, mir den Kopf zu zerbrechen. Holen Sie mir inzwischen noch etwas Milch?“
Ich aß und arbeitete eine Zeitlang weiter, drückte verschiedene Tasten, aber dann dämmerte mir, daß sie noch immer neben mir stand. „Na gut“, sagte ich schließlich und blickte auf. „Sagen Sie mir, was los ist.“
„Ich nehme an, Sie wissen, daß Dr. Gerber und ich … sind …“
Ich hatte es nicht gewußt. Diese Möglichkeit war mir nie eingefallen. Harry? Rosie? Sie waren mein Genie und meine Vorzimmerdame. Es fiel mir schwer, sie mir als etwas anderes vorzustellen.
„Ich hielt es nicht für schicklich, mich einzumischen“, sagte ich schließlich.
„Er ist vor zwei Monaten zu mir gezogen“, sagte sie und warf den Kopf zurück. Eine Sekunde lang erhaschte ich einen Blick auf ihre Vogelnase. „Ich habe ihn bedrängt, mich irgendwohin, irgendwohin weit weg, mitzunehmen. Aber jetzt ist er schon eine Woche lang nicht mehr heimgekommen. Er bleibt bloß in dem Keller hier und rührt sich nicht hervor.“
Na und, wollte ich sagen, das macht er doch immer, wenn er einer Sache auf der Spur ist. Laß ihn in Frieden! Statt dessen sagte ich: „Vielleicht ist es besser, ich sehe mich dort mal um.“ Ich erhob mich und ging zur Tür.
„Und sagen Sie ihm, ich werde ihn, wenn er zurückkehrt, nicht mehr mit der Reise bedrängen“, fügte Rosie hinzu.
Harry bemerkte mich zunächst gar nicht. Er schlief. Der Keller sah aus wie das Atelier eines minimalistischen Bildhauers. Das Hauptstück war eine gebogene Rampe aus Titaniplast, die aus dem Boden zu wachsen schien. Die Rampe führte von einer Wand hinunter und dann die andere hinauf. Oben auf der Bahn befand sich eine halbrunde Rille, und am tiefsten Punkt war eine schwarze Titaniplastkugel. Die Anordnung erinnerte mich an die Rinne für den Rücklauf der Kugeln in einer unirdischen Kegelbahn. Die Kugel hatte einen Durchmesser von eineinhalb Metern und sah sehr schwer aus.
Ich ging an der schmierigen Vinylcouch vorbei, auf der Harry lag, und schaute mir die Kugel an. Im Schein der elektrischen Beleuchtung glänzte das harte schwarze Material dumpf. Auf einer Seite gab es ein Loch, eine fünfeckige Öffnung, die groß genug war, daß man hindurchkriechen konnte. Der Innenraum hatte etwas Spaßiges an sich. Es war, als blicke man in eine Linse.
Als ich mich näher beugte, spürte ich einen unangenehmen Druck auf den Schläfen. Ich richtete mich auf, aber die Kugel kam immer näher. Ich rutschte über den Boden. Ich zuckte vor Furcht zurück und fiel nach hinten. Wie eine Krabbe kroch ich durch den Raum zurück.
„Die einzige Methode hineinzugehen ist die, es schnell zu machen“, sagte Harry hinter mir. „Drinnen ist es nicht so schlimm, glaube ich. Positive Krümmung anstelle von negativer.“
Ich setzte mich auf und blickte mich um. Harry lag auf dem Rücken, Arme und Beine gerade nach oben gestreckt. Es mußte sich um eine Übung handeln, aber es sah furchtbar aus.
„Rosie schickt mich“, sagte ich, bevor ich vergaß, weshalb ich gekommen war.
„Warum?“
„Sie fragt sich, warum du diese Woche nicht bei ihr warst.“
„Ich hatte zu tun.“
Ich kam zu dem Entschluß, daß ich für Rosie genug getan hatte. „Wozu dient diese Kugel?“
„Man rollt sie hin und her. Es handelt sich um ein dodekaedrisches Skelett aus Neutroniumstangen in einer Umhüllung aus Titaniplast. Ein gepolsterter Dschungelturnsaal für Gravitronen. Was hat Rosie sonst noch gesagt?“
„Sie hat gesagt, wenn du zurückkämest, würde sie nicht mehr wegen der Reise herumnörgeln. Was passiert, wenn man die Kugel hin und her rollt?“
„Ich hatte gehofft, sie würde das sagen. Ich hasse das Reisen. Ich sollte hinaufgehen und mit ihr reden …“
Er wollte los, aber ich bekam ihn an der Schulter zu fassen. „Bitte, Harry, sag mir, was du da gebaut hast.“
Er blickte mich verwirrt an. „Siehst du das nicht?“
„Ich sehe eine schwarze Hohlkugel auf einer Schaukelbahn. Warum gehen wir nicht davon aus?“ deutete ich zurückhaltend an.
„Erinnerst du dich an meinen Riesenblasenring? Das ist ungefähr dasselbe. Es dient dazu, den Atommüll loszuwerden. Alles, was sich in der Kugel befindet, verschwindet, wenn die Kugel auf und ab rollt.“
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. „Hast du es erprobt?“
„Nein. Warte eine Minute. Ich hole Rosie.“ Er legte einen Schalter um und ging nach oben.
Während er fort war, besah ich mir das Ding noch einmal. Harry hatte ein System von Winden und Rollen in Betrieb gesetzt. Beinahe unmerklich kroch die Kugel die Rampe empor. Ich hoffte, sie würde nicht herunterfallen. Diese degenerierte Materie war ganz schön schwer. Ich setzte mich auf der Couch nieder und entwarf im Geiste meinen Brief an die NRC. Alles in allem schien eine halbe Milliarde pro Jahr nicht zuviel verlangt zu sein.
Als Harry und Rosie schließlich herunterkamen, erkannte ich, daß noch nicht alles in Butter war. Harry hatte kein Verständnis für Ausreden, für Notlügen. Ich fragte mich, was sie an ihm fand.
Mit uns beiden zum Beeindrucken wurde Harry gesprächiger. Seine Seifenlösung und der Riesenblasenring befanden sich unter der Couch, und er zog sie hervor. Er ließ einen großen Film entstehen und blies in seinen Mittelpunkt. Der Film erzitterte und beulte sich aus.
„So verhält es sich auch mit dem Raum innerhalb eines massiven Körpers“, sagte Harry. „Er beult sich in Richtung der vierten Dimension aus. Wenn ich jetzt stärker blase …“
Er tat es, und eine kleine Blase löste sich vom Film und schwebte davon. „Auf diese Weise entsteht ein Schwarzes Loch. Aber wir können damit nichts anfangen. Statt dessen …“
Er blies wieder eine kleine Beule in den Seifenfilm. Diesmal jedoch rüttelte er, anstatt stärker zu blasen, den Film hin und her. Über die Oberfläche des Films liefen Wellen, und plötzlich trafen zwei in der Nähe der Ausbeulung zusammen. Der Film erbebte, und wieder schwebte eine kleine Blase davon.
„Das soll das Neutroniumskelett für uns tun. Der Raum darin beult sich weit in Richtung auf die vierte Dimension aus. Und wenn die Kugel die Rampe hinunterrollt, lösen diese sich bewegenden Stangen wie ein Mixer Raumwellen aus. Früher oder später treffen zwei Wellen aufeinander, und die Beule in der Kugel wird abgenabelt und bildet eine kleine Hyperkugel außerhalb unseres Raumes.“
Die Windenmotoren schalteten sich mit einem Klicken aus. Die Kugel ruhte oben auf der Rampe.
„Was passiert dann?“ fragte Rosie.
„Die Hyperkugel schwebt davon. Vielleicht landet sie in einem anderen Raum, vielleicht kommt sie irgendwo an anderer Stelle in unseren zurück.“
„Einem anderen Raum …“, sagte Rosie langsam. „Ähnlich dem Astralraum?“
Harry zuckte die Achseln. „Wenn du es so nennen willst.“
Die Kugel war oben auf der Bahn zur Ruhe gekommen, das Loch in der Seite war uns zugeneigt. Harry hatte dort neben der Bahn eine kleine Rutsche aufgestellt. Sie war so eingerichtet, daß alles, was auf ihr hinunterglitt, geradewegs durch die Öffnung in die Kugel fallen mußte.
„Was möchtest du hineintun?“ fragte Harry.
„Wäre es … wäre es für einen Menschen gefährlich?“ wollte Rosie wissen.
„Welch eine Frage!“ entfuhr es mir. „Sie würden zu Tode gequetscht! Und dann würden Sie die Gravitationswellen in die Mache nehmen. Und falls Sie durch einen außergewöhnlichen Zufall alles überlebten, wo, glauben Sie, daß Sie landen würden? Selbst wenn sich Ihre Raumblase je wieder mit dem normalen Raum vereinen würde – wie groß sind Ihrer Meinung nach die Chancen, daß Sie auf der Oberfläche eines erdähnlichen Planeten landen würden?“
„Vielleicht würde man in eine andere Art von Raum befördert“, warf Rosie schüchtern ein. „Wo man keine Planeten braucht.“
„Rosie hat immer den Verstand einer Sekretärin“, sagte Harry verletzend. „Was meinst du, soll ich das eingeben?“ Er hob einen leeren Pappkarton vom Boden auf.
„Fein“, sagte ich. „Aber versuchen wir es auch mit etwas Massivem. Einem Sandsack.“
Harry stellte den Pappkarton oben auf die kleine Rutsche und ließ ihn los. Das Feld der Kugel beschleunigte die Schachtel die Rutsche hinunter, und sie schoß durch die Öffnung, wobei sie unterwegs durch die Gezeitenkräfte etwas zerdrückt wurde.
Einmal drinnen, schoß sie eine Minute lang herum, bevor sie am Boden liegenblieb. Durch das Herumgestoßen werden hatte sie ihre frühere Gestalt wieder zurückgewonnen. Wenn man davon absieht, daß die rechten Winkel der Schachtel etwas zu groß waren, sah sie prächtig aus.
„Warum wird sie drinnen vom Gravitationsfeld nicht zerdrückt?“
„Alles im Inneren wird in alle Richtungen zugleich gestoßen und gezogen“, sagte Harry. „Das ergibt überhaupt nichts. Natürlich gibt es da drinnen noch immer eine starke positive Raumkrümmung. Und wenn sich die Stangen zu bewegen anfangen … Aber ich möchte Rosie nicht langweilen.“ Er warf ihr einen bösen Blick zu, aber sie stand bloß da, steif und allein.
Harry und ich gingen dann nach oben, um einen Sandsack aus dem Strahlenlabor zu holen. Er wog gut fünfzig Kilo, und es bedurfte unser beider Anstrengungen, ihn die Treppe hinunterzuschaffen. Keiner von uns wird eben jünger.
Als wir unten ankamen, war Rosie nicht mehr da. „Du hättest das über den Verstand einer Sekretärin nicht sagen sollen.“
Er seufzte. „Ach, sie schwätzt immer von Ländern ihrer Sehnsucht. Wenn ich sie nur dazu bringen könnte, einen Abendschulkurs in Physik zu besuchen. Die reine Wissenschaft bietet genug Wunderbares, daß man nicht auf diesen Käse angewiesen ist. Und sie hört noch immer nicht auf mit dieser Urlaubsreise.“
Wir stürzten den Sandsack auf die Rutsche, er glitt hinunter und kam neben dem Pappkarton zu liegen. Dann warf Harry einen mützenähnlichen Titaniplastdeckel über die Öffnung. Das Gravitationsfeld preßte ihn fest. Wir traten zurück, und er betätigte den Schalthebel.
Die ungeheuer schwere Kugel polterte die Steigung hinunter, passierte den tiefsten Punkt und lief die andere Wand hinauf. Dann kehrte sie zurück. Ich dachte an eine hin und her zuckende Seifenblasenschicht. Ich spürte die Gravitationswellen in der Magengrube.
„Sie bewegt sich nicht sehr schnell, Harry.“
„Muß sie auch nicht. Die dodekaedrische Feldkonstellation ist an sich instabil, besonders wenn dieser Raummixer in Betrieb ist. Ich möchte wetten, daß bereits fünf Hyperkugeln abgenabelt worden sind. Hörst du, wie die Luft hereinströmt?“
In der Tat wurde das Rumpeln auf der Bahn von einem Zischen übertönt. Da in der Neutroniumkugel der Raum weggeblasen wurde, mußten neuer Raum und neue Luft einsickern. Ich fühlte mich tatsächlich wieder zur Kugel hingezogen, aber diesmal über den Raum hinweg.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis die Schwingungen schwächer wurden und die Kugel aufhörte, hin und her zu rollen. Als wir den Deckel mit einem langen Stock beiseite schoben, war nichts mehr darin.
„Beim nächsten Mal sollten wir eine Funkbake aussenden“, bemerkte Harry. „Dann hören wir, wenn sie irgendwo in unserem Raum auftaucht.“
„Morgen“, sagte ich. „Jetzt möchte ich feiern. Was sagst du dazu, wenn ich dich und Rosie zum besten Essen eures Lebens einlade?“
Rosie war jedoch nirgends zu finden. Tatsächlich zeigte sie sich nie mehr im Büro.
Wie merkwürdig, so ein Mädchen. Ich habe ihr nie viel Beachtung geschenkt, solange sie für mich arbeitete, jetzt aber … jetzt träume ich jede Nacht von ihr. Und Harry auch.
FARAWAY EYES
by Rudy Rucker
Copyright © 1980 by Davis Publications, Inc.
aus ANALOG, September 1980.
Übersetzung: Irene Lansky