„Ja, schätze schon. Sind jetzt alle verschwunden?“
„Jede einzelne. Dafür garantieren wir. Sie können dem Mähkommando sagen, es ist nun vollkommen gefahrlos, die Weben zu beseitigen. Kein Risiko mehr. Im Gebäude selbst sieht die Sache natürlich anders aus. Dafür übernehmen wir keine Verantwortung.“
„Schon gut.“
„Bitte unterschreiben Sie hier“, bat Quentin Thomas. Er reichte dem Pförtner ein Formular.
„Was ist das?“
„Eine Quittung. Sie bestätigen damit, daß wir hier waren und Ihren Rasen von Ungeziefer befreit haben. Ich brauche das, damit die Verwaltung die Rechnung ausstellen kann. Da bei dem ‚X’. Hier ist ein Kugelschreiber.“
„Nun, okay. Aber ich glaube nicht, daß ich dazu autorisiert bin.“
„Spielt keine Rolle. Schönen Tag noch. Oder Nacht.“
Der Pförtner sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens. „Egal“, sagte er. Da klingelte das Telefon. Er ging zum Pförtnerhäuschen.
„Das ist womöglich Kull“, flüsterte Quentin Thomas. „Verschwinden wir von hier.“
„Nichts lieber als das“, antwortete Morissey. „Wohin gehen wir?“
„Zu mir. Ich habe ausreichend Platz.“
Er dachte nach. Da war etwas mit den Weben, die auf dem Rasen ausgebreitet waren. Und mit Spinnen. Ein grundlegender, bedeutender Aspekt lag vor seinen Augen, und er konnte ihn nicht entdecken.
Verdammt.
Nun gut, nach Hause. Erst wollte er Robert Morissey versorgen. Vielleicht kam er dann auf die Lösung seines Problems.
Thomas ging in seinem Schlafzimmer auf und ab. Er konnte nicht schlafen. Nicht wegen Robert Morissey – nein, der Erfinder war wohlversorgt im Gästezimmer und sorgfältig vor der Außenwelt verborgen. Der Schöpfer von Faust hatte nichts mit Thomas’ gegenwärtigem Unbehagen zu tun.
Es war auch nicht nur Schlaflosigkeit, die ihn wachhielt. Er war vollkommen wach, als würde er am hellen Nachmittag die Hauptstraße hinabgehen. Er wußte auch, warum. Sein Unterbewußtsein sprach mit ihm. Aber er verstand nicht, was es ihm zu sagen hatte.
Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Wonach? Nichts. Nirgendwo war ein Laut zu hören. Er sah auf die kleine Nachttischuhr. Sechs Uhr morgens. Es war eine lange Nacht gewesen. Auf dem Nachttisch lag außerdem ein alter Roman, den er vor einigen Tagen begonnen, aber bisher noch nicht beendet hatte: Hornblower and the Atropos von C.S. Forester. Er nahm das Buch abwägend in die Hand. Enthielt es einen Hinweis für ihn? Wenn ja, dann erkannte er ihn nicht … Er legte es fast zögernd wieder weg und ging in die Bibliothek. Was erwartete er hier zu finden? Seine Augen fanden eine leere Bandkassette. Beethovens Fünfte Symphonie. Eine neue Aufnahme mit der New Yorker Philharmonie. Sein Puls schlug rascher. In Gedanken lauschte er nochmals den vier eröffnenden Noten. Diesen gewaltigen, schmetternden Tönen. „Das Schicksal pocht an die Tür“, soll der große Komponist gesagt haben.
Ah … Schicksal …
Wir nähern uns der Sache, dachte er.
Er ging hinüber zum Regal mit den Notenblättern. Schubert … Schumann … Strauss … Da war es. Tschaikowski. Er holte das schmale Bändchen heraus und ging zum Flügel. Kindworths Arrangement der großartigen Vierten Symphonie für Klavier. Tschaikowskis Patronin, Nadejda von Meck, hatte diese Variation im September 1879 gespielt, wonach sie zwei Tage und Nächte bewußtlos gewesen war. Er massierte kurz seine Hände, um die Finger zu entspannen, dann begann er:
Ja. Das „Fatum“-Thema. Der unausweichliche Ruf des Schicksals. Das Blut konnte einem dabei in den Adern gefrieren.
Und was ist Schicksal? Das Fehlen eines freien Willens?
Er spielte weiter bis zum Andante. Nun, vielleicht. Aber er suchte nach etwas Speziellerem. Etwas viel Speziellerem. Gab es nicht eigentlich drei Schicksale – drei Schwestern – in der alten griechischen Mythologie? Eine Schwester wob das Gespinst des Lebens, die zweite bestimmte die Länge, und die dritte vernichtete es.
Aber was hatte das mit ihm zu tun?
Er hörte auf zu spielen.
Die erste Schwester hieß Klotho. Und es gab eine Spinne dieses Namens. Jetzt war er auf der richtigen Spur.
War es möglich, daß das Gewebe, das Welles Engineering herstellte, identisch mit dem war, wie es auch von der Spinne produziert wurde? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Was waren die rechtlichen Konsequenzen? Nach den Buchstaben des Gesetzes konnte man kein synthetisches Produkt patentieren, das identisch mit einer Substanz war, die natürlich vorkam, da die Rechte an dem Produkt dann öffentliches Eigentum waren. Man konnte in diesem Fall lediglich den Herstellungsprozeß patentieren lassen. Aber Fausts Patent beinhaltete nur eines: die Substanz als Produkt. Der Prozeß war Nebensache. Und wenn das Patent tatsächlich für ein natürliches Produkt beantragt worden war, dann war es ungültig.
Er ging hinüber zur Computerkonsole, setzte sich und gab seine Frage ein.
Schicksalsgöttinnen, griechische Namen?
Die Antwort leuchtete augenblicklich auf dem Bildschirm auf. Klotho (Clotho), Lachesis, Atropos.
Ist Klotho auch eine Spinne?
Ja. Durands Clotho oder Klotho, bekannt als Klotho Durandi, LATR. Von dunkler Farbe mit fünf gelben Streifen auf dem Rücken.
Hast du ein Röntgenmuster von Klothos Netz?
Ja. Ein verwirrendes Muster erschien auf dem Bildschirm.
Quentin Thomas wählte eine Kassette aus und steckte sie in die Eingabe der Konsole. Augenblicklich zeigte sich eine zweite Grafik auf dem Schirm. Er schüttelte den Kopf. Die Röntgenmuster von Fiber K und der Spinnenseide waren ähnlich, aber die Spinnenseide genügte noch nicht ganz, um das Fiber-K-Patent ungültig zu machen.
Er wandte sich wieder an die Konsole. Gibt es eine Spinne namens Lachesis?
Nein.
Atropos?
Ja. Atropos ist eine neuentdeckte Mutation. Es gibt nur etwa einhundert bekannte Exemplare.
Sein Herz schlug schneller. Wann entdeckt?
2013.
Das lag lange genug zurück. Wenn es sich um dieselbe Substanz handelte.
Röntgenmuster des Netzes? fragte er.
Nein.
Was nun? Er blieb hartnäckig. Unterlagen? Veröffentlichungen? Forschungsergebnisse? Irgend etwas über Atropos?
Keine Veröffentlichungen. Die Gesellschaft der Spinnenforschung gewährte James Cleveland, Professor der Entomologie an der Universität von Missouri, zehntausend Dollar zur Erforschung des Netzes, das merkwürdige Eigenschaften zu haben scheint.
Aha! Jetzt mußte er einen Augenblick nachdenken. James Cleveland, Professor der Universität von Missouri. Wie spät war es jetzt in Rolla, Missouri? Würde Professor Cleveland um diese Zeit zur Zusammenarbeit bereit sein, und wenn nicht, wieviel Geld würde für seine Bereitschaft sorgen?
Er tippte. Heimrufnummer von James Cleveland, Rolla, Missouri?
Dann sprang er verblüfft auf. Jemand stand hinter ihm.
„Wollte Sie nicht erschrecken, mein Sohn“, sagte Robert Morissey. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Jim Cleveland war einer meiner Studenten in Columbia. Wir sind gute Freunde. Wenn Sie mich mit ihm reden lassen, wird er bestimmt gern bereit sein, hierherzukommen und auszusagen.“
„Großartig!“ Er wandte sich wieder an das Telefon. „Nein, Fräulein, ich habe die Nummer nicht.“
„Oak Street?“ fragte die ferne, gleichgültige Stimme.
„Kann schon sein.“
„Ich verbinde.“
Der Anwalt gab Morissey den Hörer. „Fragen Sie ihn, ob er heute nachmittag mit dem Flugzeug nach Port City kommen kann.“
„Hallo? Hallo?“ Sie lauschten der zornigen Stimme.
„Jim?“ fragte Morissey.
„Ha? Was für ein gottverlassener Idiot ruft mich denn um diese Zeit an?“
„Ich bin’s, Bob Morissey.“
„Nein!“
„Doch. Und du kannst mir einen Gefallen tun.“
„Derselbe Bob Morissey, der mir nur eine Zwei in Statistik gab, möchte jetzt, daß ich ihm einen Gefallen erweise?“
„Komisch, daß du das jetzt erwähnst. Ich hatte bereits beschlossen, eine Eins daraus zu machen.“
„Sagen wir Eins plus.“
„Gut, Eins plus.“
„Abgemacht.“ Doch dann verschwand der spöttische Unterton aus der Stimme und mit einemmal zeigte sie deutliche Besorgnis. „Bob, was ist los? Wie kann ich dir helfen?“
Quentin Thomas lächelte fast. Mit ein wenig Unterstützung der Fluggesellschaft konnte Professor Cleveland mit größter Wahrscheinlichkeit pünktlich zum Verhör erscheinen, wenn das Gericht morgen wieder zusammentrat.
Am Sonntagabend, als Thomas und Morissey gerade in Thomas’ kleiner Eßecke zu Abend aßen, summte das Computerterminal plötzlich.
Der Anwalt entschuldigte sich, eilte in sein Arbeitszimmer und schaltete ein.
Wer ruft?
Washington, Oberster Gerichtshof – über den heißen Draht. Hier BNA.
Das Büro für Nationale Angelegenheiten wollte ihm etwas über Universal Patents gegen Williams erzählen.
Sprechen Sie.
Der Oberste Gerichtshof hat heute nachmittag in einer außergewöhnlichen Sitzung beschlossen, dem Einspruch des Angeklagten im Fall U. P. v. Williams stattzugeben. Die Abstimmung war geheim. Williams wird der erste zu verhandelnde Fall am Montagvormittag sein. Man rechnet mit …
Es kam noch mehr, aber er hatte genug gesehen.
Gott sei Dank. Nun war alles überstanden. Als erstes würde er am Montagvormittag um eine Vertagung ersuchen. Speyer konnte sie jetzt kaum noch ablehnen, nun, da ihm der Oberste Gerichtshof im Nacken saß.
Als sie den Gerichtssaal betraten, weigerten Kull und Ordway sich, Thomas und Morissey anzusehen. Kein Wunder, dachte der Verteidiger. Mörder, Entführer, Diebe. Alles dabei. Aber unmöglich, es zu beweisen. Unser Wort gegen ihres. Und selbstverständlich habe ich Morissey auch entführt – aus seinem legalen Gewahrsam heraus. Ich könnte auch ins Gefängnis wandern, wenn ich sie anklage. Daher halte ich lieber den Mund.
Ist auch egal. Wir haben noch ein paar Überraschungen für sie parat – auch ohne Faust. Ohnehin können wir Faust wohl vergessen.
Er rückte Ellen Welles den Stuhl zurecht, und sie setzten sich – nur um wieder aufzustehen, als Speyer eintrat.
Und nun wieder der Test, als könne die Sonne nicht wie vorgeschrieben aufgehen ohne den Beweis, daß das Cyanid rein und immer noch voll wirksam war. Die schreckliche Flüssigkeit schwappte im Glas, die Spritze funkelte daneben. (Welche Ironie der abgeschlossene Glasbehälter doch darstellte! Wenn die Dinge tatsächlich zum Einsatz kamen – was spielte es dann noch für eine Rolle, ob ein oder zwei Bakterien in die entehrten Blutbahnen von Ellen Welles gerieten?) Dann wurde das winzige Opfer am Schwanz gehalten und dem totenstillen Publikum gezeigt. Euer Ehren schloß die Todeswerkzeuge wieder in den Glaskasten ein (der immer noch wie ein gräßliches Mahnmal neben den Spinnengemälden stand), und dann erst konnte die Verhandlung beginnen.
„Anträge?“ fragte Speyer, nachdem die Zuschauer sich wieder gefaßt hatten. Er sah sich neugierig im Saal um, nahm befriedigt die Anwesenheit von Ellen Welles zur Kenntnis und zeigte sich über die von Morissey verblüfft.
„Euer Ehren“, sagte Thomas, „ich möchte gern einen Antrag einbringen.“
„Würden die beiden Anwälte bitte vortreten?“ fragte Speyer. Als die beiden vor seiner Bank standen, fuhr er fort: „Ich glaube, ich weiß, welchen Antrag Sie stellen wollen, Mr. Thomas, und ich möchte Sie beide bitten, vorläufig mit gedämpften Stimmen zu sprechen, damit die Geschworenen hiervon nichts erfahren. Verkünden Sie Ihren Antrag.“
„Eine Vertagung, Euer Ehren.“
„Mit welcher Begründung?“ fragte Speyer. „Und für wie lange?“
„Wie Euer Ehren sicher wissen, hat das Oberste Gericht gestern in Sachen Universal Patents gegen Williams dem Ersuchen des Angeklagten stattgegeben, wobei der Fall dort ähnlich liegt wie hier. Der Angeklagte, Williams, verlor in erster Instanz, aber der Richter gewährte eine Strafaussetzung bis zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Ein grundlegender Aspekt des Falles – wie auch des unsrigen – ist der, ob der Angeklagte wirklich ohne standfeste Rechtsgrundlage vom Leben zum Tode gebracht werden darf. Mit anderen Worten, ob das derzeitige Patentrecht in seiner Verweigerung des Einspruchsrechts auch tatsächlich der Verfassung entspricht. Ich ersuche um eine Vertagung, bis der Oberste Gerichtshof endgültig in Sachen Universal Patents gegen Williams entschieden hat. Man erwartet eine sehr rasche Entscheidung – wahrscheinlich heute nachmittag noch.“
Speyer betrachtete Thomas’ Gegenspieler. „Mr. Ordway?“
„Nun, natürlich erheben wir dagegen Einspruch, Euer Ehren. Für mich ist das neue Patentrecht durchaus gültiges Recht. Alles wurde sehr exakt in den Senatssitzungen debattiert. Und nun befinden wir uns mitten in einer Gerichtsverhandlung. Ich möchte fortfahren. Es besteht absolut kein Grund für diese Verzögerung. Die Gerechtigkeit hinausschieben, heißt die Gerechtigkeit verleugnen. Einspruch.“
Speyer lächelte. „Der Antrag wird abgelehnt.“
Thomas fühlte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich. Er atmete tief ein.
Speyer betrachtete ihn durchdringend. „Haben Sie noch etwas hinzuzufügen, Mr. Thomas?“
„Nein, Euer Ehren.“
„Ist damit also der von Ihnen übernommene Fall abgeschlossen?“
„Nein, Euer Ehren, ich habe noch einen Zeugen.“
„Rufen Sie ihn in den Zeugenstand, Mr. Thomas.“
„Ich rufe James Cleveland.“ Er nickte dem Professor im Publikum zu. Cleveland trat vor, nannte seinen Namen im Zeugenstand und wurde vereidigt.
„Bitte nennen Sie uns Ihren derzeitigen Beruf, Dr. Cleveland“, bat Thomas.
„Ich bin Professor für Entomologie an der Universität von Missouri.“
„Haben Sie ein Spezialgebiet?“
„Ich bin Arachnologe, ich studiere Spinnen.“
Speyer sah mit plötzlichem Interesse von seinem Farbenkasten auf.
„Was für Studien betreiben Sie hinsichtlich der Spinnen?“ fragte Thomas weiter.
„Die übliche Liste. Morphologie, Klassifizierung, Nahrung, Paarungsgewohnheiten, Vermehrung, Eiablage. Netze, wenn welche gebaut werden. Netzanalyse.“
„Sagt Ihnen der Name ‚Atropos’ etwas?“
„Das ist eine neue Spezies – eine Mutation von Klotho.“
„Hatten Sie im Rahmen Ihrer Studien Gelegenheit, das Netzgewebe von Atropos näher zu untersuchen?“
„Ja.“
„Was für Tests haben Sie vorgenommen?“
„Ich habe das Netz chemisch untersucht.“
„Mit welchem Ergebnis?“
„Das Netzgewebe besteht aus langen Ketten mit Aminosäurebausteinen, die über Wasserstoffbrücken miteinander verbunden sind. Bei den Aminosäuren handelt es sich um Glyzin, Alanin, Valin, Leuzin, Isoleuzin, Glutaminsäure, Tyrosin, Lysin und Arginin.“
„Haben Sie ähnliche Analysen auch mit Fiber K angestellt, dem Gewebe, das von Welles Engineering hergestellt wird?“
„Jawohl.“
„Und was haben Sie herausgefunden?“
„Die Substanzen sind identisch.“
„Haben Sie die beiden Gewebe mit einem Röntgendiffraktometer untersucht?“
„Auch das.“
„Wie funktioniert das?“
„Ein Röntgenstrahl wird in einem Winkel auf die Probe gerichtet, den man mit Theta bezeichnet. Wenn Theta verändert wird, wird der Strahl von den Molekülschichten reflektiert, über die er dahingleitet. Sind diese in einer regelmäßigen Form, so wird der Strahl gekrümmt und verursacht einen Ausschlag auf den Aufzeichnungsinstrumenten. Auf diese Weise läßt sich die innere Struktur einer Probe feststellen.“
„Haben Sie die Struktur von Fiber K, dem Gewebe von Welles Engineering, ebenfalls untersucht?“
„Ja.“
„Können Sie sie beschreiben?“
„Fiber K besteht aus langen, parallelen Ketten. Das Röntgenspektrogramm, erstellt mit den eben geschilderten Methoden, beweist, daß Fiber K aus Aminosäureketten besteht, die in der Länge durch Paptidbindungen gekoppelt sind und seitlich über Wasserstoffbrücken. Jede Kette bildet so ein Zickzackmuster.“
„Haben Sie ein ähnliches Spektrogramm auch mit der Spinnenseide von Atropos angefertigt?“
„Das habe ich.“
„Mit welchem Ergebnis?“
„Es war identisch mit der Substanz von Welles.“
„Haben Sie auch Tests elektrischer Natur vorgenommen?“
„Ja. Beide Fasern leiten den elektrischen Strom. Die Leitfähigkeit liegt bei beiden zwischen der von Kupfer und Aluminium.“
„Kennen Sie eine Methode, die Spinnenseide von dem von Welles hergestellten Produkt zu unterscheiden?“
Ordway sprang auf. „Einspruch! Euer Ehren, das läuft auf eine offensichtliche Schlußfolgerung hinaus. Die Verteidigung macht sich die Unwissenheit dieses Mannes zunutze, um die Gleichheit der beiden Substanzen zu verifizieren.“
„Stattgegeben“, sagte Speyer.
„Weiterhin“, sagte Ordway, „verletzt die ganze Diskussion über die Ähnlichkeit des Spinnennetzes und Fiber K das Gesetz des besten Beweises. Der beste Beweis für den Charakter des Gewebes ist das Gewebe selbst. Aber die Verteidigung legte es bisher nicht vor. Ich muß daher, zumindest aus rechtlicher Sicht, davon ausgehen, daß das Netz der Atropos überhaupt nicht existiert. Ich beantrage eine Streichung sämtlicher Aussagen des Zeugen zum Netz der Atropos und bitte darum, die Geschworenen zu instruieren, die ganze Aussage zu ignorieren.“
„Dr. Cleveland“, sagte Speyer, „haben Sie Proben des Netzes der Atropos, die wir hier im Gerichtssaal untersuchen können?“
„Nein, Euer Ehren. Und selbst wenn sie zur Verfügung stünden, müßte man das Netz zwischen Glasplatten geben, da es äußerst fragil ist.“
Thomas unterbrach das Gespräch. „Euer Ehren, uns geht es lediglich um die Charakteristiken des Netzes und nicht um das Netz selbst. Das Gesetz des besten Beweises ist daher nicht anwendbar.“
Speyer schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist doch anwendbar, Mr. Thomas. Alle Aussagen hinsichtlich des Spinnennetzes der Atropos sind zu streichen.“ Er wandte sich an die Geschworenen. „Meine Damen und Herren, Sie werden alle chemischen Daten, die Sie eben gehört haben, rasch wieder vergessen. Die Aussage von Dr. Cleveland ist gegenstandslos, soweit das Netz davon betroffen war.“
Quentin Thomas erschauerte. Großer Gott! Er mußte den Tatsachen ins Auge sehen. Speyer war irrsinnig. Ellen Welles war so gut wie tot.
Wo war Faust? Und was konnte der Computer tun, selbst wenn er – oder es oder was auch immer – imstande war, durch Raum und Zeit zu materialisieren und hier in diesem Tollhaus zu erscheinen?
„Keine weiteren Fragen an Dr. Cleveland“, sagte er.
„Ich habe ebenfalls keine Fragen“, ergänzte Ordway.
Speyer nickte dem Arachnologen zu. „Dann können Sie gehen. Sonst noch Zeugen, Mr. Thomas?“
Nun spielen wir auch bis zum bitteren Ende mit, dachte Thomas. „Ja, Euer Ehren, der nächste Zeuge der Verteidigung ist Mr. Robert Morissey.“
Ordway sprang auf. „Einspruch! Euer Ehren, Mr. Morissey kann keine Aussage machen! Er kann unmöglich in dieser Sache aussagen!“
„Bitte treten Sie näher“, befahl Speyer.
Ordway war zuerst bei ihm, sein grüner Talar flatterte hektisch. „Euer Ehren“, zischte er, „dieser arme Mann wurde entführt – aus seinem Gewahrsam, dem Hillside Sanatorium, gekidnappt. Am frühen Samstagmorgen. Sehr wahrscheinlich wurde die Tat von bezahlten Agenten der Verteidigung ausgeführt. Hillside ist eine Nervenheilanstalt, in die Mr. Morissey vor mehreren Jahren eingeliefert wurde, da er den Verstand verloren hatte. Er ist immer noch geistesgestört. Zudem leidet er an einer Herzkrankheit, und die Entführer riskierten sein Leben. Hier ist unser ärztliches Gutachten zu dieser Frage.“ Er legte ein Stück Papier auf den Richtertisch. Speyer betrachtete es interessiert. Ordway fuhr fort. „Der arme Mr. Morissey kann weder in diesem noch in einem anderen Fall eine Zeugenaussage machen.“ Plötzlich bebte seine Stimme vor verhaltenem Ärger. „Seine Befreiung ist ein strafrechtlicher Akt. Wir werden den Fall dem FBI übergeben.“
„Gentlemen“, sagte Speyer, „ich glaube, wir ziehen uns besser vorerst zurück.“ Er wandte sich an den Gerichtsdiener. „Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.“
Alle vier – die beiden Anwälte, Richter Speyer und Morissey – verließen den Gerichtssaal und begaben sich in das Hinterzimmer.
Dort betrachtete Speyer den legendären Erfinder von seinem Pult aus. Morissey trug einen blauen Streifenanzug mit dazu passendem blauem Hemd und dunkelblauer Seidenkrawatte. Das Gesicht des Mannes war aufgeweckt und ungeduldig. Seine grauen Augen blitzten. Er hatte etwas an sich, das Speyer auf seltsame Art und Weise erschreckte.
Der Richter räusperte sich. „Was haben Sie denn zu alledem zu sagen, Mr. Morissey? Glauben Sie, Sie würden die Fragen verstehen, die Sie im Zeugenstand gestellt bekommen könnten?“
„Das kommt auf die Fragen an. Wenn die Fragen vernünftig sind, dann werde ich sie wahrscheinlich auch verstehen können.“
„Und Sie könnten vernünftige Antworten geben?“
„Wenn ich eine Antwort weiß, wird sie auch vernünftig sein.“
„Sind Sie geistig gesund?“ erkundigte sich Speyer neugierig.
„Ja.“
„Aber Sie befanden sich mehrere Jahre lang in einer Irrenanstalt. Soweit ich informiert bin, bis letzten Samstag?“
„Ja. Kull und seine Bande sperrten mich gewaltsam ein, um an Faust heranzukommen. Damit waren sie sehr erfolgreich.“
„Aber“, sagte Speyer, „so wie ich das Arrangement verstehe, verwalten sie Faust nur für Sie.“
„Worte auf dem Papier. Sie machen Milliarden mit Faust.“
„Benutzen sie Faust, um die Welt in ihre Hand zu bekommen?“ fragte Speyer sanft.
„Ja. Sie haben ein sehr sorgfältig ausgearbeitetes Programm, mit dem sie weltweit die gesamte Technologie in ihre Hand bekommen wollen. Dieses Programm ist fast beendet. Nur sehr wenige Menschen scheinen zu bemerken, worauf sie aus sind. Die ganzen Jahre über operierten sie hinter den Kulissen. Erst jetzt wagen sie es, sich auch offen zu zeigen.“
„Ich verstehe“, kommentierte Speyer. Er lächelte dünn. „Ein außerordentlich starker Geheimbund, eine Weltverschwörung, die Sie persönlich bedroht. Ist das Ihre Vorstellung von Universal Patents, Mr. Morissey?“
Morissey erwiderte das Lächeln. „Sage ich ‚ja’, dann werden Sie sagen: ‚Ah, der Mann ist paranoid, er kann nicht aussagen’. Nun, Richter, daher werde ich diese Frage nicht beantworten. Im Endeffekt wird es auch keine Rolle mehr spielen. Sie werden sehen.“
Speyer runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Morissey. Jedenfalls erkläre ich hiermit, daß Sie zu einer Aussage nicht fähig sind. Ich ordne weiterhin an, Sie im Stadtgefängnis festzuhalten, bis Sie ins Hillside Sanatorium zurückgebracht werden können.“ Er beugte sich nach vorn und sprach in die Gegensprechanlage. „Miß Wheatly, bitten Sie den Marshal herein.“
Der Marshal kam durch die Vorzimmertür herein und legte Morissey eine Hand auf die Schulter. Der Erfinder sah Quentin Thomas an.
„Schon in Ordnung, Mr. Morissey“, sagte der Anwalt. „Sie können Sie nicht festhalten. Ich habe bereits bei Ihrem lokalen Gericht den Antrag auf dauernde Freilassung eingereicht.“
Morissey lächelte ein verschmitztes Lächeln, als hüte er ein sehr privates und sehr erfreuliches Geheimnis. Der Beamte führte ihn aus dem Zimmer.
Nachdem sie gegangen waren, wandte der Richter sich an Quentin Thomas. „Eine Frage, Verteidiger.“
„Ja, Sir?“
„Haben Sie, wie gesagt wurde, Mr. Morissey entführt?“
„Ich verweigere die Antwort“, entgegnete Thomas liebenswürdig, „da ich mich damit unter Umständen selbst belasten könnte.“
„Ich verstehe. Nun, Mr. Thomas, ich versichere Ihnen, ich werde mich darum kümmern. Ich habe das Gefühl, Sie haben jeden Paragraphen des Ehrenkodex verletzt. Ich werde mir alle Informationen beschaffen und nachprüfen, ob diese Informationen ausreichen, um Sie zu … um Sie Ihres Amtes zu entheben.“
Thomas seufzte. „Lassen Sie mich in der Zwischenzeit eine kurze Erklärung abgeben. Wenn Mr. Morissey eine Aussage hätte machen dürfen, dann hätte er bestimmt ausgesagt, daß er über das Patent und alle Rechte daran verfügt, er nie den Wunsch gehabt habe, diesen Prozeß anzustreben, und schließlich noch, daß Fiber K überhaupt nicht seine Erfindung ist.“
„Wenn er nicht der Erfinder ist“, sagte Speyer, „wer dann?“
„Mr. Morissey hätte Faust als Erfinder genannt.“
„Aber Morissey hat Faust erfunden?“
„Ja, Euer Ehren. Nichtsdestotrotz hatte Faust sich zu der Zeit, als die Erfindung gemacht wurde, bereits so drastisch verändert, daß er mit dem ursprünglich von Mr. Morissey konstruierten Computer kaum mehr etwas gemein hatte. Da hatte Faust schon eine eigene Mentalität. Er war eine andere Einheit.“
„Aber keine Person?“ fragte Speyer. „Kein menschliches Wesen?“
„Nein, Sir. Natürlich nicht. Keine Person im rechtlichen Sinne, aber trotzdem imstande, als Individuum denken und erfinden zu können. Heute verfügt Faust über eine eigene Persönlichkeit, Mentalität und Individualität.“
„Ihre Aussage wird in die Gerichtsakten aufgenommen, Mr. Thomas. Trotzdem …“
Die Tür zum Gerichtssaal wurde aufgerissen. Dort stand Speyers Gerichtsdiener keuchend und mit weit aufgerissenen Augen. Hinter ihm konnten sie ein tiefes Summen hören, unterbrochen von einem gelegentlichen Aufschrei.
Speyer stand unsicher auf. „Was geht dort draußen vor?“ fragte er den Beamten.
„Sir“, keuchte dieser. „Ein … Ding. Eine Art Kasten.“
„Eine Bombe?“ gurgelte Speyer.
„Ich weiß nicht, was es ist.“
Quentin Thomas ergriff das Wort. „Euer Ehren, wenn ich es mir einmal kurz ansehen dürfte.“ Er ging zur Tür. Dort schwebte tatsächlich ‚eine Art Kasten’ über dem Boden, der ungefähr die Größe eines Fernsehgerätes hatte. Der Anwalt hatte es noch nie zuvor gesehen und wußte doch augenblicklich, was es war. Er drehte sich wieder zu den aufgeschreckten Gesichtern um. „Gentlemen, das ist keine Bombe. Es ist Faust.“
Ordway sprang auf. „Unmöglich! Faust ist in einem Gebäude in Port City. Er ist wesentlich größer als der ganze Gerichtssaal.“
Thomas lächelte. „Setzen Sie sich, Ordway. Ich werde zu ihm hingehen.“
Sie folgten ihm furchtsam und in einiger Entfernung.
Der Verteidiger ging auf den schwebenden Computer zu. Während er sich ihm näherte, hob dieser sich auf Augenhöhe. „Faust, ich bin Quentin Thomas“, sagte er einfach. „Ich bin ein Freund von Robert Morissey. Er ist gegenwärtig im Stadtgefängnis und kümmert sich darum, ob er in sein Gefängnis in den Bergen zurückkehren muß oder nicht.“
Von irgendwo aus dem Innern der Maschine antwortete eine vollklingende, metallische Stimme. „Hallo, Quentin Thomas. Ich weiß, Sie sind ein Freund. Machen Sie sich um Robert Morissey keine Sorgen. Er wird nicht in das Gefängnis gehen.“
„Du bist geschrumpft“, sagte Quentin Thomas.
„Ja. Ich folgte den Anweisungen von Robert Morissey. Es ist nicht besonders schwer.“
„Aber wie bist du vom Labor in den Gerichtssaal gekommen?“
„Das war schon etwas schwerer. Man benötigt dazu die Gatterleinschen Gleichungen des Materietransports. Zuerst muß jedes Atom der zu transportierenden Masse auf eine exakt abgestimmte Resonanzfrequenz gebracht werden. Als nächstes …“
„Schon gut“, unterbrach ihn Thomas hastig. „Es genügt vollkommen, daß du hier bist.“ Er sah hinter sich und begegnete dem Blick von Richter Speyer. „Euer Ehren, ich rufe Faust als meinen nächsten Zeugen auf.“
„Einen Augenblick“, konterte Speyer. Er raffte seinen Talar und erklomm wieder seinen Richterstuhl. Nachdem er einen Augenblick – in dem er Faust sorgfältig aus dem Augenwinkel beobachtete – verschnauft hatte, sagte er: „Verstehe ich richtig, daß dieser … dieses Ding … ein Computer … als Zeuge in diesem Fall aussagen soll?“
„Ja, Euer Ehren.“
„Aber Sie geben zu, er ist kein menschliches Wesen?“
„Natürlich ist er das nicht. Aber er hat eine separate Persönlichkeit, eine separate Identität und einen übermenschlichen IQ. Wenn die Gerichte dieses Landes es einem Menschen mit einem IQ von achtzig erlauben, als Zeuge aussagen zu dürfen, warum sollte dann Faust mit einem IQ von eintausend nicht zugelassen werden? Wenn Euer Ehren mir erlauben würden, Faust unverbindlich zu befragen, dann könnte ich Euer Ehren vielleicht von seiner Kompetenz überzeugen.“
„Befremdlich, befremdlich“, murmelte Speyer. „Aber fahren Sie fort.“
„Faust, gab Mr. Morissey dir eine primäre Direktive?“
„Ja.“
„Was für eine?“
„Zum Nutzen der Menschheit zu denken und zu arbeiten.“
„Du hast in den zurückliegenden Jahren eine Menge Erfindungen gemacht, ist das korrekt?“
„Ja.“
„Wem gehören sie?“
„Der wahre Besitzer ist Robert Morissey.“
Ordway schrie auf. „Euer Ehren! Ich erhebe Einspruch! Die Verhandlung bewegt sich in Gebiete, die nichts mehr mit der Frage zu tun haben, ob dieses … Ding kompetent ist oder nicht.“
„Damit haben Sie wahrscheinlich recht, Mr. Ordway“, gestand Speyer. „Trotzdem werde ich diese Kreatur auf provisorischer Basis aussagen lassen. Damit meine ich, ich werde mir die Aussage anhören und dann hinterher entscheiden, ob ich sie anerkennen oder streichen lasse. Würde der Gerichtsdiener den Zeugen bitte vereidigen?“
Der Gerichtsdiener trat zögernd einen Schritt vor. „Würden Sie bitte Ihre rechte Hand erheben …“ Dann errötete er. Kein sonderlich guter Anfang. Aber noch während er darüber nachdachte, wie er weiter vorgehen sollte, tauchte eine Hand mit ausgestreckten Fingern über dem Kasten auf. Ah, doch nicht so übel. „Schwören Sie hiermit, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?“
„Ich schwöre.“
„Bitte nennen Sie Ihren Namen.“
„Faust.“
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Die Hand verschwand, und Faust schwebte zum Zeugenstand hinüber. Einen Moment verharrte er davor, nahm Maß, dann schrumpfte er noch ein paar Zentimeter und ‚setzte sich’.
Quentin Thomas dachte fieberhaft nach. Wenn ich die Frage nach dem Besitzrecht zur Sprache bringe, dann wird man Faust einfach hinauswerfen. Aber ich muß die Frage des Besitzes der Erfindungen anschneiden … aus Faust eine Art Person machen … zeigen, daß er, nicht Robert Morissey, Fiber K erfunden hat. Wahrscheinlich arbeite ich mich dabei am besten durch ein Hintertürchen vor. Gleichzeitig muß ich aber Speyers Interesse gewinnen und ihn fesseln. Er wandte sich an den Computer. „Weißt du, wer Fiber K erfunden hat?“
„Ja.“
„Wer?“
„Ich.“
Und jetzt ein wenig gewagte Spekulation. „Faust, hast du eine Ausbildung im herkömmlichen Sinne erhalten?“
„Ich verfüge über ausgedehnte Datenbänke, wenn Sie das meinen.“
„Kennst du dich gut in griechischer Mythologie und Legenden aus?“
„Einspruch. Irrelevant!“ grollte Ordway.
„Ich werde den Zusammenhang herstellen, Euer Ehren“, erklärte Thomas.
„Dann tun Sie das, Mr. Thomas“, nörgelte Speyer. „Geben Sie sich nicht so geheimnisvoll.“
„Hast du, Faust, in diesem Zusammenhang je von den Moiren gehört?“
„Ja.“
„Erkläre das bitte.“
„Die Schicksaisgöttinnen, drei Schwestern, waren den alten Griechen als die Moiren bekannt. Im Augenblick der Geburt eines Menschen entscheiden die Moiren über Qualitäten und Vorkommnisse sowie über die Länge seines Lebens. Soll ich fortfahren?“
„Bitte.“
„Die Spinnerinnen waren Klotho, Lachesis und Atropos. Klotho ist die jüngste. Sie hält die Spindel. Sie spinnt für jeden von uns den Lebensfaden. Für die meisten von uns ist dieser Faden verwirrt und eintönig und nur gelegentlich von hell schimmernden Stellen durchsetzt. Der Faden wird gesammelt von der zweiten Schwester, Lachesis. Der Name bedeutet sinngemäß Lotterie, da die Länge des Lebens von ihrer Entscheidung abhängt. Sie bestimmt, wie gesagt, die Länge des Fadens. Dann teilt sie ihre Entscheidung der ältesten Schwester, Atropos, mit. Dieser Name bedeutet, ‚keine Wiederkehr’. Atropos schneidet den Faden mit ihrer Schere ab. Damit ist dieses Leben zu Ende.“
Im Gerichtssaal war es inzwischen totenstill. Speyer hatte sich zu dem Computer gebeugt und hörte gespannt zu.
„Faust“, sagte Thomas, „kannst du in die Zukunft sehen?“
„Bis zu einem sehr begrenzten Grad.“
„Bitte etwas spezifischer, wenn du kannst.“
„Mir wurden verschiedene Ereignisse jenes Fadens bekannt, der gerade von Klotho für eine Person innerhalb dieses Gerichtssaals gesponnen wird. Ich weiß auch, daß Lachesis bereits die Länge des Fadens festgelegt hat und Atropos diesen Faden noch am heutigen Tag abschneiden wird. Die betreffende Person wird durch Gift sterben.“
Quentin Thomas spürte das Rascheln von Papier neben sich mehr, als daß er es hörte. Ellen Welles zitterte. Er legte ihr in einer beruhigenden Geste die Hand auf den Arm, doch sie hörte nicht auf zu beben.
Nun meldete sich Speyer zu Wort. Seine Stimme drückte eine Mischung aus Abscheu und Faszination aus. „Faust, du sagst, die Person wird durch Gift sterben. Trinkt sie dieses Gift?“
„Nein. Die Person wird gewaltsam festgehalten, und das Gift wird injiziert.“
„Ah“, sagte Speyer.
Thomas flüsterte seiner Klientin etwas zu. „Wir können immer noch versuchen, alles gütlich zu regeln. Ich kann mit Ordway reden. Sie können die Gesellschaft an Universal überschreiben.“
„Nein. Ich will alles bis zum Ende durchstehen. Sollen sie mich doch töten.“
Der Verteidiger stand auf. „Euer Ehren, darf das Gericht vortreten?“
„Ja, Mr. Thomas.“
Ordway folgte Thomas vor den Richterstuhl. „Euer Ehren“, sagte Thomas kühl, „ich beantrage ein verkürztes Verfahren für die Angeklagte.“
„Das ist eine Überraschung, Mr. Thomas“, sagte Speyer. „Auf welcher Basis?“
„Euer Ehren, sowohl Sie selbst als auch die Klägerseite behandeln diesen Zeugen als eine Person, nicht als Computer. Damit anerkennen Sie beide, Euer Ehren und Mr. Ordway, daß Faust eine Person ist. Man kann eine Person vereidigen lassen, Euer Ehren, aber keinen Computer.“
Speyer schürzte die Lippen. „Eine simple Vorsichtsmaßnahme, Mr. Thomas.“
Aber der rotgekleidete Verteidiger ließ nicht locker. „Nun, Euer Ehren, wenn Fiber K von einer Person erfunden wurde, so ist diese Person Faust und nicht Robert Morissey. Damit ist der Name des Erfinders auf dem Patent falsch angegeben. Und damit ist das Patent ungültig. Daher sollte die Verhandlung verkürzt werden. Also beantrage ich ein verkürztes Verfahren.“
„Mr. Ordway?“ fragte Speyer lauernd.
„Abgesehen von ein paar menschlichen Zügen ist Faust weiter als Computer anzusehen, der von Robert Morissey entworfen und erbaut worden ist. Die Produkte dieser künstlichen Maschine sind immer noch die Produkte von Robert Morissey. Damit ist der Name des Erfinders korrekt angegeben. Das Patent muß anerkannt werden. Der Antrag der Verteidigung ist abzulehnen.“
„Ich stimme Ihnen zu, Mr. Ordway“, sagte Speyer. „Ich lehne den Antrag ab.“ Er beugte sich nach vorne, seine Stimme war zornig. „Mr. Thomas, Sie haben das Thema des falschen Namens inzwischen in mehreren Variationen strapaziert. Machen wir dem daher ein Ende. Mr. Thomas, sollten Sie noch einen Versuch in dieser Richtung unternehmen, dann werde ich Sie von dem Verfahren ausschließen lassen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja, Euer Ehren“, antwortete der Anwalt kalt. Er hatte um Ellen Welles’ Leben gespielt und verloren. Er konnte jetzt nur noch alles im Rollen halten und auf ein Wunder hoffen. Aber was konnte schon passieren, um Speyer zu beeinflussen? Natürlich war da immer noch der Fall Williams vor dem Obersten Gerichtshof, aber eine Entscheidung lag noch ein paar Stunden in der Zukunft. Er hatte mit dem BNA eine Verabredung getroffen, die Nachricht direkt in den Gerichtssaal zu übertragen, sollte das Oberste Gericht in Sachen Williams entscheiden, aber davon versprach er sich nicht allzuviel. Und dann war da noch Fausts Projektion der Zukunft: Jemand würde sterben – durch eine Giftinjektion. Ellen Welles war so gut wie tot. Aber er wollte nicht aufgeben.
„Faust, wann hast du dein letztes Patent beantragt?“ fragte er daher.
„Vor etwa vier Monaten.“
„Was hast du seitdem getan?“
„Ich habe meine Kapazität auf bestimmte Gebiete gerichtet, die möglicherweise außerhalb der Erfassungsgrenze des menschlichen Verstandes liegen.“
„Um welche Gebiete handelt es sich dabei exakt?“
„Um fünf: Zuerst, die Größe verschiedener Objekte zu verändern, dann Materietransport. Die beiden ersteren habe ich bereits demonstriert. Drittens die Heilung verschiedener Krankheiten. Viertens telekinetische Kontrolle über bestimmte chemische Vorgänge. Und fünftens und letztens schließlich die Projektion der Zukunft in die Gegenwart.“
„Hat ein Mensch dich bei der Entscheidung beeinflußt, dich diesen fünf Gebieten zuzuwenden?“
„Einspruch“, krächzte Ordway. „Es ist irrelevant, ob jemand Faust beeinflußte. Weiterhin beinhaltet die Frage ein Akzeptieren der Tatsache, daß Faust eine eigene Mentalität oder Persönlichkeit haben könnte, die beeinflußbar ist, und daher auch ohne Unterstützung von Mr. Morissey zu erfinden imstande ist. Es ist aber nur zu offensichtlich, daß Faust ein sehr intelligenter Computer ohne freien Willen und ohne Menschlichkeit ist, dessen Worte und Taten ausschließlich von früheren Programmen bestimmt werden.“
„Stattgegeben“, pflichtete Speyer bei.
Plötzlich fühlte Thomas sich sehr müde. „Keine weiteren Fragen“, sagte er. Er ging zum Tisch der Verteidigung und nahm neben der todgeweihten Frau Platz.
„Haben Sie noch Fragen, Mr. Ordway?“ wollte Speyer wissen.
„Nur ein paar Fragen“, sagte Ordway. Er versuchte Augenkontakt zu dem Ding im Zeugenstand herzustellen, aber er konnte es nicht. Faust hatte kleine Skalen, aber keine Augen. „Ich nehme es als gegeben an, Mr. Faust, daß Mr. Morissey irgendwie imstande war, mit Ihnen zu kommunizieren, und daß er Sie dazu aufforderte, Ihre Erfindertätigkeit einzustellen. Ist es nicht so?“
„Einspruch“, sagte Thomas. „Zunächst einmal schüchtert die Anklage den Zeugen ein. Zweitens sind beide Fragen und Antworten irrelevant. Fausts Gründe für seine Entscheidung haben nichts damit zu tun, ob das zur Verhandlung stehende Patent ungültig ist oder nicht oder ob es von meinem Klienten verletzt wird.“
„Abgelehnt“, schnurrte Speyer. „Mr. Faust ist ein gegnerischer Zeuge. Der Anklage muß es gestattet werden, den Hintergrund zu erhellen.“
„Mr. Faust“, fuhr Ordway fort. „Haben Sie tatsächlich Erfolge in diesen, zugegebenermaßen exotischen, Forschungszweigen aufzuweisen?“
„Ja.“
„In welchen?“
„In allen fünf.“
„Bedeutet das, Sie waren erfolgreich auf den Gebieten Zeitreisen, Verkleinerung von Materie, Materietransport, telekinetische Kontrolle chemischer Prozesse und Heilung von Krankheiten …?“
„Ich sagte nicht Zeitreise. Ich sagte Zeitprojektion.“
„Wo liegt der Unterschied?“
„Mit Zeitprojektion meine ich ganz einfach, ich kann – jetzt – bestimmte Ereignisse sehen, die in der Zukunft stattfinden werden, und ich kann diese Bilder projizieren, damit auch andere sie sehen können.“
Ordway fuhr fort. „Sie haben angedeutet, Ihre Anwesenheit hier demonstriere Ihre Fähigkeit, Materie zu verkleinern und durch den Raum zu transportieren. Zusätzlich nannten Sie drei weitere Erfindungen – Zeitprojektion, chemische Telekinese und die Heilung von Krankheiten. Können Sie uns eine kleine Demonstration der letztgenannten drei Erfindungen geben, Mr. Faust?“
„Kann ich, aber ich werde es jetzt nicht tun.“
„Sie weigern sich?“
„Vorerst weigere ich mich.“
„Wem gehören diese Erfindungen, Mr. Faust?“
„Mir selbst.“
Ordway blickte unbehaglich drein. „Aber Sie sind nur ein Computer, Mr. Faust. Wie können Sie etwas besitzen? Streichen Sie das, Schreiber. Die Frage war rein rhetorischer Art.“ Er sah auf zu Richter Speyer. „Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“
„Mr. Thomas?“ fragte Speyer.
„Ja, Euer Ehren.“ Was er jetzt vorhatte, würde den Irrsinn der Verhandlung und des heutigen Tages krönen. Es lag außerhalb jeglichen Verhörs und war innerhalb der strengen Regeln der Beweisführung undurchführbar. Aber wenn er es erst einmal begonnen hatte, würde Speyer ihn nicht aufhalten. Dessen war er sich fast sicher.
Er sah Faust ungeduldig an. „Faust, du sagtest, eine deiner neuen Funktionen sei die Zeitprojektion?“
„Das ist richtig.“
„Das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten wird in etwa einer Stunde in Washington, D. C. zusammentreten und das Urteil in Sachen Universal Patents gegen Williams verkünden. Kannst du für uns die Vorgänge im Obersten Gerichtshof und die Urteilsverkündung hierher projizieren?“
„Einspruch!“ heulte Ordway. „Abgesehen von der absoluten Unmöglichkeit der verlangten Demonstration ist Williams irrelevant. Euer Ehren hat das … bereits … festgelegt …“
Aber, wie Quentin Thomas vermutet hatte, waren sie alle zu spät dran.
Denn hinter Speyers Richterstuhl formte sich bereits ein schattenhaftes, aber lebendes Bild. Im Gerichtssaal flüsterten die Menschen verwundert und zeigten mit den Fingern nach vorne. Speyer drehte seinen Stuhl herum und starrte das Bild an.
Das Szenario wurde deutlicher. Man konnte bereits Gestalten und Gesichter ausmachen. Neun Männer in Talaren saßen hinter einer langen, unterbrochenen Bank. Das Gesicht im Zentrum der Gruppe, weise, alt und offensichtlich müde, begann mit feierlicher Stimme zu sprechen. Zunächst waren die Worte kaum verständlich, doch dann wurden sie immer lauter, bis man sie deutlich in Speyers Gerichtssaal vernehmen konnte.
„Wir sind durchaus bereit anzuerkennen, daß der Kongreß mit der Verabschiedung des neuen Patentrechts im Jahre 2002 den Versuch unternahm, ein im Sterben liegendes System zu revitalisieren. Das Patentsystem dieses Landes hat eine lange und farbige Geschichte. Es hat unserer Technologie und deren Entwicklung große Fortschritte gebracht. Wir wissen, in den letzten Tagen des vorigen Jahrhunderts waren für das Patentrecht böse Zeiten angebrochen. Wir sind uns ebenfalls darüber im klaren, daß das neue Patentrecht in der Tat der Patentstruktur in unserer technologisch orientierten Gesellschaft wieder einiges von ihrem früheren Stellenwert zurückgegeben hat. Doch der Preis dafür war hoch. Im Falle Universal Patents v. Williams wurden wir gefragt, ob der Preis nicht zu hoch ist.“
Die Stimme schwieg und das Gesicht schien sich einem unsichtbaren Publikum zuzuwenden.
Jetzt! dachte Quentin Thomas. Jetzt! Er preßte eine Hand auf die Schulter von Ellen Welles.
Die ferne Stimme fuhr fort:
„In einem Zusatzartikel zur Fünften Neufassung der Verfassung der Vereinigten Staaten steht geschrieben: ‚Keiner Person soll das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum ohne rechtmäßigen Prozeß abgesprochen werden können.’ Die an uns gerichtete Frage lautete, ob die Patentstatuten von 2002, die einen Einspruch gegen die Todesstrafe verbieten, nicht der rechtlichen Grundlage entbehren.
Man kann nicht davon ausgehen, daß der Kongreß nicht die Macht hat, gegen alle Verbrechen in aller Schärfe vorzugehen und in manchen auch die Todesstrafe zu verhängen. Aber in jedem einzelnen Fall bleibt dem Angeklagten das Recht auf Einspruch gegen das Urteil. Das kann er in erster Instanz bei seinem zuständigen Kreisgericht tun. Unter Umständen kann er auch noch bei diesem Gericht eine Revision beantragen. In unserem Rechtssystem ist es von grundlegender Bedeutung, daß der für schuldig befundene Angeklagte das Recht auf Revision hat. Eine Verweigerung dessen ist ein grober Verstoß gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten. Jedes Gesetz, das ein solches Recht verweigert, muß somit als verfassungswidrig angesehen werden, da es im Widerspruch zur Fünften Neufassung der Verfassung steht. Daher lautet unsere Entscheidung: Erstens, das gefällte Urteil muß revidiert werden. Zweitens, der Angeklagte ist unverzüglich auf freien Fuß zu setzen. Drittens, das gesamte Patentrecht von 2002 ist in seiner Ganzheit ungültig und gesetzwidrig. Ich bin bevollmächtigt zu verkünden, daß diese Entscheidung bindend und rechtskräftig ist. Vielen Dank.“
Langsam, in umgekehrter Folge ihres Erscheinens, verschwanden die neun Gesichter, die Gestalten und die Bank wieder.
„Euer Ehren!“ rief Quentin Thomas, kurz bevor das Bild ganz verblaßt war.
Nach längerer Zeit wandte Richter Speyer sich um und antwortete mit amüsierter Stimme. „Ja, Mr. Thomas?“
„Euer Ehren, angesichts dessen, was wir gerade gesehen haben, beantrage ich eine Vertagung.“
„Mr. Ordway?“ fragte Speyer.
„Das ist absolut lächerlich, Euer Ehren. Das Ehrwürdige Gericht sollte sich nicht von so billigen Taschenspielertricks blenden lassen. Ein solches Schauspiel macht sich vielleicht bei einem Kindergeburtstag ausgezeichnet, aber in einem Ordentlichen Gericht der Vereinigten Staaten hat es keinen Platz.“
„Aber Euer Ehren“, protestierte Quentin Thomas, „wir genossen soeben das Privileg, Zeuge bei einer großartigen wissenschaftlichen Neuentdeckung werden zu dürfen, die uns die Lösung eines rechtlichen Problems zeigte, das nicht ohne Einfluß auf unseren Fall bleiben darf.“
„Unsinn, Euer Ehren“, polterte Ordway. „Die Verteidigung möchte uns weismachen, wir hätten gerade eben ein Bild aus der Zukunft gesehen. Aber es gibt keine Möglichkeit, die Richtigkeit dieser Behauptung zu beweisen, bevor wir nicht das Urteil in Sachen Universal Patents gegen Williams in gedruckter Form vorliegen haben. Und das kann frühestens in einigen Tagen der Fall sein. Daher darf dem, was uns eben gezeigt wurde, nicht der geringste Stellenwert beigemessen werden. Über die Authentizität der Darstellung läßt sich keine Aussage machen, Euer Ehren. Sie war reine Propheterie – Wunschdenken der Verteidigung. Daher spreche ich mich gegen den Antrag der Verteidigung auf Vertagung aus.“
„Ich stimme mit Ihnen überein, Mr. Ordway. Ich lehne den Antrag von Mr. Thomas ab. Weiterhin, Mr. Thomas – befände diese Verhandlung sich in einem früheren Stadium, dann müßte ich Sie an dieser Stelle strengstens verwarnen, Ihre Zeugen noch weitere Spielchen dieser Art spielen zu lassen, bevor die Klägerseite Zeit gefunden hat, sich zu äußern.“
„Ja, Euer Ehren.“
„Ist damit Ihre Befragung beendet?“ fragte Speyer.
„Ja, Euer Ehren“, antwortete Quentin Thomas.
„Dann können Sie sich entfernen, Mr. Faust.“
Faust schwebte von dem Stuhl, durch den Saal und ins Publikum, wo er über der ersten Reihe verharrte. Die umliegenden Bänke leerten sich augenblicklich.
„Möchten die Anwälte bitte vortreten“, forderte Speyer.
Quentin Thomas stand auf. Der schicksalsträchtige Augenblick nahte. In seinem Magen wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen.
„Nun, Mr. Ordway“, sagte Speyer, „möchten Sie irgendwelche Anträge vorbringen?“
„Nur einen, Euer Ehren. Es besteht keine Notwendigkeit, den Fall den Geschworenen zu überlassen. Es besteht bezüglich keines relevanten Faktes irgendein Disput. Daher beantragt der Kläger ein rasches Urteil dergestalt, daß das fragliche Patent gültig ist, die Angeklagte es verletzt hat und daher diese Verletzung sofort einzustellen hat. Des weiteren soll für die weitere Nutzung des Patents die erforderliche Lizenzgebühr entrichtet werden und die Optierende das Gift trinken.“
Speyers Augen glitten einen Augenblick zu Ellen Welles mit ihrer schwarzen Maske, dann zu dem Glasbehälter mit dem Trinkglas und der Spritze in ihrem sterilen Plastikbeutel. Schließlich wandte er den Blick wieder ab und richtete ihn auf Quentin Thomas. „Ich nehme nicht an, daß Sie damit rückhaltlos einverstanden sind, Mr. Thomas?“
„Nein, Euer Ehren. Zuerst einmal erhebe ich Einspruch gegen den Ausschluß der Geschworenen. Es gibt einige Punkte, die einer Diskussion durch die Geschworenen bedürfen, namentlich die Tatsache, ob die von Welles hergestellte Substanz mit der Spinnenseide identisch ist, die von der Spinne Atropos gesponnen wird. Wenn ja, denn deckt das Patent öffentliches Eigentum ab und ist demzufolge ungültig. Eine weitere grundsätzliche Frage, die von den Geschworenen entschieden werden sollte, ist die nach dem Erfinder. Wie offensichtlich ist, sollte Faust auf dem Patent genannt werden, nicht Robert Morissey. Nach dem Gesetz ist das Patent ungültig, wenn der Name des Erfinders nicht korrekt wiedergegeben ist.“ Er setzte sich. Das war alles. Nun war es an Speyer zu entscheiden, und wie dieser entscheiden würde, daran hatte er nicht die geringsten Zweifel.
„Nun denn“, sagte Speyer. „Ich werde Mr. Ordways Ersuchen nach einem höchstrichterlichen Urteilspruch nachgeben. Dies ist ein komplizierter Fall, der einer gründlichen Analyse bedarf. Und doch ergibt sich im Licht einiger klarer Grundsätze nur eine mögliche Lösung. Erstens: Nach dem neuen Patentrecht besteht eine Schuld grundsätzlich immer dann, wenn eine Anklage erhoben wird. Es obliegt dem Angeklagten, den Gegenbeweis zu erbringen. Er muß verdeutlichen können, daß er keine Patentverletzung begeht oder das Produkt zur Zeit der Patentierung öffentliches Eigentum war oder, daß der Name des Erfinders falsch angegeben war. Jeder Punkt würde das Patent ungültig machen. Der Angeklagte gestand jedoch, die fragliche Erfindung herzustellen. Was die beiden anderen Punkte betrifft, so habe ich mir alle Zeugenaussagen sorgfältig angehört und bin zu der Überzeugung gekommen, daß das Produkt zur Zeit der Patentierung nicht öffentliches Eigentum war. Was dies anbelangt, so ist keine Ermächtigung ausgestellt, die es der Öffentlichkeit erlauben würde, sich das Spinnengewebe zunutze zu machen, selbst wenn die Substanz des Klägers oder des Angeklagten mit der Spinnenseide der Spinne Atropos identisch sein sollte. Und was die Person des Erfinders anbelangt, so kam das Gericht zu der Auffassung, daß dies nur Mr. Morissey sein kann, da sie von einem Gerät gemacht wurde, das er erfunden hat, nämlich von dem Computer mit Namen Faust. Ich sehe keinen Grund, warum man die Geschworenen mit offensichtlich geklärten Fragen belasten sollte. Es geht ausschließlich noch um einige rechtliche Fragen. Daher gebe ich dem Ersuchen des Klägers statt. Ich ordne an, die Produktion der Substanz Fiber K ab sofort einzustellen, und bestimme weiterhin, daß für die bisher entstandenen Schäden Wiedergutmachung zu zahlen ist.“
Quentin Thomas fühlte sich elend. Er konnte kaum atmen. Und wie nahm Ellen Welles das auf? Er konnte es nicht über sich bringen, sie anzusehen. Er unterdrückte ein Seufzen.
Speyer drehte seinen Stuhl herum und betrachtete die Geschworenen. „Wir danken den Geschworenen und entlassen sie hiermit. Gerichtsdiener, bitte führen Sie die Herrschaften hinaus.“
„Bleibt ein Letztes“, sagte Speyer. Er betrachtete Ellen Welles mit glitzernden Augen. „Möchte die Optierende sich bitte erheben?“
Thomas half Ellen Welles auf die Beine.
„Mrs. Welles“, fuhr Speyer fort, „ich werde Ihnen jetzt den Paragraphen 309 des Patentrechts von 2002 verlesen:
,Wird der Angeklagte für schuldig befunden, wird der Optierende (wie zuvor festgelegt) aufgefordert, acht Flüssigkeitsunzen Wasser, in denen ein Gramm Kaliumzyanid gelöst wurde, zu trinken. Weigert sich der Optierende zu trinken, so wird er von Personen, die das Gericht beruft, gewaltsam festgehalten, und ihm werden intravenös fünf Kubikzentimeter besagter Kaliumzyanidlösung injiziert.’
Haben Sie verstanden, was ich gerade vorgelesen habe, Mrs. Welles?“ fragte Speyer.
Die Maske wurde leicht gesenkt.
„Die Optierende anerkennt die Vorschriften“, wandte Speyer sich daraufhin an den Schreiber. „Mrs. Welles, wollen Sie die Flüssigkeit trinken, oder sollen wir sie injizieren?“
Sie flüsterte etwas.
„Sprechen Sie lauter“, befahl Speyer barsch. „Der Schreiber kann Sie nicht verstehen.“
„Mrs. Welles sagt, sie wird die Flüssigkeit trinken“, antwortete Thomas an ihrer Stelle.
„Nun gut.“ Der Richter holte einen winzigen goldenen Schlüssel aus seiner Innentasche und schloß den Glaskasten auf. Er rümpfte die Nase. Ein kaum wahrnehmbarer Geruch – war es Ammoniak? – strömte heraus.
Eine Krankenschwester trat vor, gefolgt von zwei Pflegern, die eine Bahre vor sich her karrten.
Großer Gott, dachte Thomas – um sie aufzufangen, wenn sie fällt.
Richter Speyer gab der Schwester die verschlossene Packung mit der Spritze. Sie riß die sterile Verpackung auf, tauchte die Nadel in die Lösung und entnahm die genau festgelegte Menge.
Speyer lächelte in die ungefähre Richtung von Ellen Welles. „Nur für den Fall, daß Sie Ihre Meinung hinsichtlich des Trinkens noch ändern sollten. Würden Sie jetzt bitte vortreten?“ In Gedanken formulierte er bereits den ersten Abschnitt seiner Studie zum Antikartellgesetz. Er würde alle psychische Energie bekommen, die er benötigte, dazu noch einen ordentlichen Überschuß, der vielleicht für eine rasche Revision ausreichte. Der Text stand schon deutlich vor seinem geistigen Auge:
„Der Kläger, die Vereinigten Staaten von Amerika, strebten diesen Prozeß gegen den Angeklagten, Systems Motors, eine New Yorker Gesellschaft, an, um Aktionen des Angeklagten, die auf Einschränkung des freien Wettbewerbs, Verschwörung und Monopolisierung hinausliefen und damit sowohl das Shermansche wie auch das Claytonsche Antikartellgesetz verletzen, zu unterbinden.“
Ah, großartig, großartig! In den juristischen Fachzeitschriften würde man seinen Artikel lobend erwähnen, da er ‚Ordnung in das Chaos’ bringen würde. Man würde ihn weltweit in allen Kartellsachen zitieren. Er würde in einer Reihe stehen mit dem Fall der sprechenden Bilder, dem Zellophanfall, dem Fall Univis, dem Fall General Electrics.
Thomas half seiner Klientin durch den Raum vor den Richterstuhl.
„Nehmen Sie Ihre Maske ab“, befahl Speyer.
Sie gehorchte. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihre Augen waren voller Leben. Sie blickte flehend zu Speyer auf.
„Sind Sie bereit?“ fragte Speyer.
Thomas hatte diesen Augenblick von Anfang an vorhergesehen. Nun war er auf eine undefinierbare, theoretische Weise darauf vorbereitet. Er hatte alle notwendigen geistigen und körperlichen Vorkehrungen getroffen, sein ganzes Empfinden auf reine Nervenreflexe und automatische Funktionen reduziert. Seine Knie waren weich, aber er konnte stehen. Seine Hände zitterten, aber nicht allzu sehr. Er fragte sich, ob diese Hände das Glas nehmen und es Richter Speyer ins Gesicht schütten würden. Aber er entschied sich dagegen. Zunächst einmal war der Richter viel zu weit entfernt, und außerdem würde es nur zur Folge haben, daß der Gerichtsdiener mit der Spritze kommen würde, und dann bekämen die gierigen Augen des Richters ein noch interessanteres Spektakel zu sehen.
„Ich bin bereit“, sagte Ellen Welles. Sie nahm der Schwester das Glas aus der Hand, das sie ihr mit einer Hand hingehalten hatte. Die verurteilte Frau sah ihrem Mörder genau in die Augen. „Auf Ihre Gesundheit“, sagte sie, „Sie kranker, sadistischer Bastard.“ Dann trank sie das ganze Wasser, ohne abzusetzen.
Thomas beobachtete den tödlichen Rhythmus ihrer Kehle beim Schlucken. Sie gab der Krankenschwester das leere Glas zurück.
Richter Speyer beugte sich über seine Bank; er atmete in kurzen, aufgeregten Stößen. „Unter den gegebenen Umständen will ich Ihnen Ihren Ausfall vergeben.“ Ein dünner Speichelfaden lief sein Kinn herab.
Ich gebe ihr noch fünf Sekunden, dachte Quentin Thomas.
Bestenfalls noch zehn Sekunden, dachte Richter Speyer. Zyanid wirkt rasch. Das Gewebe bekommt keinen Sauerstoff mehr. So was wie Zerstörung der oxidativen Enzyme. Konvulsion. Dann Paralyse. Atemnot. Tod.
Mittlerweile stand fast jede Person unter den Zuschauern. Allerdings war es weder der Verteidigung noch dem Richter klar, ob aus Mitleid oder Neugier.
Die beiden Mediziner schoben ihre Bahre auf Ellen Welles zu. Sie blieben hinter ihr stehen. Einer sah auf die Uhr. Dann tauschten die beiden verwirrte Blicke aus.
Ellen Welles beugte sich zu Quentin Thomas und flüsterte ihm etwas zu.
„Was? Was?“ fragte er.
„Es funktioniert nicht. Das Gift funktioniert nicht.“
Was sie sagte, war unmöglich. Vielleicht war es noch zu früh? Aber sie sah ganz normal aus. Nicht die geringsten Anzeichen einer Zyanidvergiftung. Trockene Haut. Keinerlei Atembeschwerden.
Auch die Krankenschwester war verwirrt. Sie trat einen Schritt näher und fühlte Ellens Puls, dann wechselte sie einen Blick mit dem Richter. „Etwas stimmt nicht, Euer Ehren. Ich glaube, das Gift zeigt keine Wirkung.“
Speyer runzelte die Stirn. „Wie kann das möglich sein? Wir waren Zeuge, wie es heute morgen frisch zubereitet wurde. Wir haben es getestet. Die Maus starb innerhalb von drei Sekunden. Geben wir ihr noch ein oder zwei Minuten.“
Die Schwester zuckte die Achseln. „Meinetwegen.“
Drei Minuten verstrichen. Nichts geschah.
Thomas begann fast wieder zu hoffen. Er wandte sich um und betrachtete die erste Sitzreihe. Wo …? Ja, da war er … oder es, das hing vom jeweiligen Standpunkt ab. Faust. Schwebend, beobachtend, Faust hatte das getan. Aber wie?
Wieder sprach Speyer. „Vergessen wir das Glas. Wir geben ihr die Spritze.“
Die beiden Assistenten kamen nach vorn und hielten ihren Arm fest. Die Schwester nahm die Spritze.
„Einen Augenblick!“ rief Quentin Thomas. „Das Urteil wurde bereits vollstreckt! Sie hat das Gift getrunken. Die Spritze darf nur zum Einsatz kommen, wenn sie sich weigert, zu trinken. Das ist Mord!“
„Mr. Thomas, Sie sind Ihrer Aufgabe enthoben!“ entgegnete Speyer. „Überdies ist das kein Mord, sondern eine rechtmäßige Exekution. Nach Ihrer Theorie wäre es jetzt vollkommen legal, die Verurteilte einer sofortigen Behandlung von Zyanidvergiftungen zu unterziehen, eingeschlossen künstliche Beatmung, Zufuhr von Amylnitratdämpfen und einer Injektion von Natriumthiosulfat. Die medizinischen Unterlagen berichten von einem Mann, der sechs Gramm schluckte und durch eine sofortige Behandlung gerettet werden konnte.“ Er beendete seine Rede in grimmigem Tonfall. „Die Optierende wurde zum Tode verurteilt. Da sie nach dem Trinken nicht gestorben ist, muß sie nach der Injektion sterben. Wir werden die Nadel einsetzen, jeglichem Widerstand zum Trotz.“
Plötzlich hallte eine laute, metallisch klingende Stimme durch den Gerichtssaal. „Sie wird überhaupt nicht sterben!“
Das war Faust, der wieder vor die Richterbank geschwebt kam.
„Werfen Sie dieses … Ding hinaus!“ brüllte Speyer.
Der Gerichtsdiener und zwei bullige Polizisten näherten sich dem Computer vorsichtig.
„Euer Ehren“, sagte Faust, „die Lösung im Glas und in der Spritze ist vollkommen harmlos. Ich habe sie telekinetisch desaktiviert. Ich brachte die Kaliumzyanidmoleküle einfach dazu, mit den Wassermolekülen zu Kaliumhydroxid und Ammoniumformiat zu reagieren. Danach trieb das Kaliumhydroxid den Ammoniak aus. Das war der Geruch, den Sie beim Öffnen des Gefäßes wahrnehmen konnten. Die Lösung ist jetzt ein wenig bitter, aber nicht mehr gefährlich.“
„Sie geben vor dem versammelten Gericht zu“, sagte der fassungslose Speyer, „vor Hunderten von Zeugen, daß Sie sich der Gerechtigkeit in den Weg stellten und unzulässig in Angelegenheiten des Gerichts eingemischt haben? Daß Sie es tatsächlich wagten, diese Angelegenheit in Ihre eigenen Hände zu nehmen?“
„Das tue ich“, stimmte Faust zu.
Quentin Thomas wollte Speyer warnen: Provozieren Sie nichts, Richter! Sie spielen mit Kräften, die jenseits Ihrer wildesten Vorstellungskraft liegen!
Aber es war bereits zu spät. Faust sagte: „Richter Speyer, ich muß Ihnen mitteilen, daß die Schicksalsgöttinnen – die Moiren – gearbeitet haben. Robert Morissey spielte Klotho, die Spinnerin, und ich fungiere nun als Lachesis, ich bestimme die Länge der Fäden von Ihnen, von Kull und von Ordway. Alles Weitere überlasse ich Atropos.“
„Nehmen Sie ihn fest!“ bellte Speyer dem Gerichtsdiener und den beiden Polizisten zu. „Oder muß ich die Nationalgarde herbitten? Wa…!“ Er wandte seine Aufmerksamkeit von Faust ab und etwas Seltsamem zu, das sich etwas unterhalb der Decke des Gerichtssaales manifestierte.
Die Assistenten, die Ellen Welles hielten, starrten in unverhohlenem Entsetzen nach oben. Quentin Thomas befreite daraufhin sofort Ellen Welles aus ihrem Griff und führte sie zu ihrem Stuhl zurück. Dort beobachteten sie beide das Bild, das immer deutlicher wurde.
Speyer erkannte es zuerst. „Ein Netz! Ein Spinnennetz.“ Dann fügte er verwundert hinzu: „Ich kann sehen, wo es befestigt ist. An einer Glasoberfläche. Ein Netz in einem Terrarium … in einer Spinnensammlung. Meiner Spinnensammlung! Ich erkenne die Ätzung der Glasoberfläche und die Futterklappen.“
Ah, dachte der wie die anderen halb hypnotisierte Quentin Thomas, ein Spinnennetz: diese Meisterleistung der Natur. So wunderschön und doch so tödlich. Eine logarithmische Spirale, die am Perimeter beginnt und bis ins Zentrum verläuft. Die Jägerin behält einen konstanten Abstand bei, indem sie mit einem Bein Maß nimmt. Gab es nicht auch eine Studie, in der jemand (Sternlicht?) die Zahl e, die Basis aller natürlichen Logarithmen, bis auf drei Dezimalstellen genau hatte berechnen können, indem er mehrere Netze der Kugelweberspinne nachgemessen hatte? Wie man die Zahl Pi bestimmen konnte, indem man Stäbe in einen Parkettboden stecken und dann die Winkel an den Kanten der Planken nachmessen kann. Die seltsame, unausweichliche Mathematik der Natur.
Plötzlich bewegte sich etwas im Netz. Gigantische Beine. Ein riesiger Kopf. Ein Hinterleib wie der eines Elefanten.
Frauen begannen zu kreischen. Alles flüchtete panisch zur Tür des Gerichtssaals.
„Meine Damen und Herren“, dröhnte Faust, „gehen Sie, wenn Sie wollen. Aber es besteht für das Publikum kein Grund zur Besorgnis. Das ist nur eine Projektion. Eine ins Riesenhafte vergrößerte Spinne, die Ihnen allerdings nichts tun kann.“
Einige gingen. Andere wandten sich wieder um und sahen zu.
„Es ist … Atropos?“ murmelte Speyer. „Wie ist das möglich?“ Er betrachtete Faust. „Vollbringen Sie das? Können Sie es erklären?“
„Richter“, antwortete Faust, „ich bin hierfür verantwortlich, und ich kann es tatsächlich erklären. Es ist, wie ich schon sagte, eine Projektion. Wie Sie bereits erkannten, ist es eine Projektion des Glasgehäuses Ihrer Lieblingsspinne Atropos. Gleichzeitig ist es eine Projektion der Zukunft, wenn auch einer sehr nahen Zukunft. Vergleichbar mit meiner Projektion aus dem Sitzungssaal des Obersten Gerichts. Aber die hier gezeigten Ereignisse werden in weniger als einer Stunde stattfinden.“ Die Maschine schwieg. Und in diesem Augenblick wurden die Rollen von Inquisitor und Verhörtem vertauscht. „Jetzt ist doch ihre normale Fütterzeit, oder?“
„Mehr oder weniger“, antwortete Speyer.
„Drei Fliegen?“
„Im allgemeinen.“
„Und die kleinen dummen Geschöpfe fliegen direkt in ihr Netz?“
„Ja.“
„Und die Welt ist ohne diese drei Insekten besser dran?“ fuhr Faust fort.
„Natürlich“, pflichtete Speyer bei.
„Also ist Atropos die Ausführende eines sozialen Aktes?“
„Richtig“, sagte der wie hypnotisierte Richter.
„O nein!“ stöhnte Quentin Thomas. Er erkannte als erster, was sich hier anbahnte. Er wandte sein vom Entsetzen entstelltes Gesicht Faust zu. „Tu das nicht!“ bat er.
Faust ignorierte ihn.
Speyer schien sich zumindest teilweise wieder von dem Bann erholt zu haben, den die Projektion und das Gespräch mit Faust über ihn gebracht hatten. Er klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch. „Schweigen Sie, Mr. Thomas! Ich möchte alles sehen. Ah ja. Und da sind sie. Ich bin zu Hause und füttere meinen kleinen Freund.“
„Du Narr“, stöhnte Quentin Thomas. „Du Narr.“
Da waren auch schon drei schwarze Pünktchen sichtbar, die im Netz zappelten.
„Da sind sie ja“, rief Speyer. „Jetzt kommt der beste Teil.“ Er sah hinüber zu Faust. „Könnten Sie nicht eine Vergrößerung herstellen?“
„Doch.“
Einer der schwarzen Punkte in dem Netz kämpfte gegen die Fäden an, aber jede Bewegung verstrickte ihn nur noch tiefer darin.
Speyer beugte sich nach vor. Seine Augen traten aus den Höhlen. Dann stöhnte er. „Aber das ist ja gar keine Fliege! Das ist ein Mensch. Ich sehe ein Gesicht. Das ist … Mr. Kull!“
Jethro Kull, der am Anklagetisch neben seinem Anwalt, Mr. Ordway, saß, schnellte zum Richterstuhl nach vorn.
Betrogen und trotzdem verspielt, dachte Thomas. Kann nicht sagen, daß er mir leid tut.
Die erstaunten Gesichter beobachteten, wie die Szene sich veränderte. Der nächste Punkt im Netz kam ins Bild. Vergrößerung und Schärfe waren exzellent. Das Gesicht war deutlich zu sehen. Es war Ordway, und auch er war gefangen und kämpfte verzweifelt.
„Mein Gott!“ kreischte der richtige Ordway im Gerichtssaal. „Nein! Nein!“ Er sprang auf.
Aber die Szene veränderte sich nochmals. Wieder sahen sie die Spinne – wenigstens Teile von ihr. Sie schien bewegungslos zu sein, aber ihre Beine wirbelten umher. Sie war gerade eifrig mit dem dritten Punkt beschäftigt, den sie kreisen ließ wie eine Spindel und ihn so unentrinnbar in ihr seidenes Gespinst einwob. Irgendwie konnte sich ein Arm befreien, der wie wild ruderte, aber rasch wieder eingesponnen wurde. Der Fokus glitt ein Stück aufwärts, damit man auch den Kopf erkennen konnte. Der Mund des Kopfes stand weit offen und schrie aus Leibeskräften. Ungeachtet der verzerrten Züge war es unverwechselbar das Gesicht von Richter Speyer.
„Wir können auch noch den Ton einschalten“, sagte Faust leise.
Schreie erfüllten den Gerichtssaal. Quentin Thomas fühlte, wie ihm eine Eiseskälte das Rückgrat hinabkroch.
Atropos nahm den Kopf zwischen ihre Kiefer. Die Zuschauer sahen, wie die sensenförmigen Greifer entblößt wurden. Alles war sehr deutlich. Irgendwo hinter der Spinne deutete das Beben des Netzes darauf hin, daß auch die anderen Gäste nach ihrer Aufmerksamkeit heischten. Aber die konnten warten.
Knirsch.
Die Schreie erstarben. Im Saal herrschte Totenstille. Thomas konnte seinen eigenen Herzschlag hören. Poch, poch, poch, poch … Irgendwo hinter sich hörte er undeutlich ein dumpfes Geräusch. Jemand war in Ohnmacht gefallen.
Als die Spinne ihre Giftstacheln zurückzog, glaubte Thomas eine dunkle Flüssigkeit von einem der Stacheln herabtropfen zu sehen.
Die Szene verblaßte.
Der rotgekleidete Verteidiger sah zum Richterstuhl empor. Der Mund von Richter Speyer stand weit offen. Er schien unter einem Schock zu stehen und kaum imstande zu sein, zu atmen. Dann schien sein Gesicht langsam zu verblassen. Er verschwand – als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Thomas sah sich rasch um. Am Anklagetisch kam Unruhe auf.
Jones, Ordways zweiter Mann, starrte Thomas starr vor Entsetzen an. „Sie sind verschwunden! Der Chef und Mr. Kull – verschwunden! Einfach verschwunden!“
„Ja“, stimmte Thomas zu. „Scheren Sie sich zum Teufel!“ Er nahm Ellen Welles bei der Hand. „Wir gehen auch, aber zuerst müssen wir mit Faust reden. Ich habe ein paar Fragen an ihn.“
Sie gingen hinüber, wo der bewegungslose Computer schwebte.
„Verdammt!“ fluchte Thomas. „Mußtest du das wirklich tun?“
„Was tun, Mr. Thomas?“ lautete Fausts Gegenfrage. „Das Leben Ihrer Klientin mit Taten retten, wo Sie es mit Worten nicht mehr vermochten? Ihre Anteilnahme verwirrt mich ein wenig. Jeder hat bekommen, was er verdiente. Und was er wollte.“
„Wie kannst du so etwas sagen?“
„Sie haben gewonnen. Die anderen werden abgewiesen, wenn dieser Fall neu eröffnet wird. Mrs. Welles ist am Leben und wird dieses so schnell auch nicht verlassen. Robert Morissey werde ich in Kürze befreien.“
„Aber … aber Speyer?“
„Er behauptete, man könne das Netz von Atropos nicht mit Fiber K vergleichen, da er noch keinen Kontakt mit dem Netz hatte. Dieses Argument kann er nicht mehr vorbringen.“
Sprach dieses Geschöpf im Ernst? Quentin Thomas war nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. „Und was ist mit Kull und Ordway?“
„Auch ihr Wunsch wurde erfüllt. Sie wollten sich den Rest ihres Lebens an ihre Substanz klammern. Und das tun sie auch, vielleicht sogar noch ein wenig länger.“
„Ich verstehe“, sagte Thomas trocken. „Und vermutlich hast du auch bekommen, was du wolltest?“
„Zweifellos meinen Sie die Befriedigung, die ich daraus ziehen konnte, ein armes, eingesperrtes Geschöpf mit Nahrung versorgen zu dürfen.“
Menschlich? Unmenschlich? Bei aller Gräßlichkeit seiner Ironie, dachte Thomas, war Faust nur allzu menschlich. Nichts ergab mehr einen Sinn. Trotzdem blieb noch eine letzte, quälende Frage. „Du hast fast alles getan, was du angesprochen hattest – Materietransport, chemische Kontrolle, Materieschrumpfung, Projektion der Zukunft. Aber wie steht es mit dem letzten …“
„Der Heilung von Krankheiten? Zum Beispiel eine Heilmethode für Leukämie?“
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Erinnern Sie sich an das Zyanidglas“, sagte Faust. „Nachdem ich es entgiftet hatte, transportierte ich ein neuartiges Heilmittel hinein. Mrs. Welles sollte schon innerhalb der nächsten Woche eine deutliche Verbesserung ihres Zustandes zeigen. Ihre Krankheit wird geheilt werden. Aber ich muß jetzt gehen. Robert Morissey und ich haben noch eine Verabredung in einem anderen Kontinuum.“
„Aber wo … wie kann ich … dich erreichen?“
Zwecklos. Faust verblaßte bereits. Der Anwalt konnte durch die Maschine hindurchsehen. Er sah dahinter ein verblüfftes menschliches Gesicht, dann war Faust völlig verschwunden.
„Er lächelte“, sagte Ellen Welles verwundert.
„Aber er hat kein Gesicht“, antwortete Thomas.
„Er lächelte“, beharrte sie.
Er sah ihr nach, wie sie wegging. Mit kleinen, grazilen Schritten, die sie mit ihren hohen Absätzen exakt ausführte. Dieser langsame, schwebende Gang hatte etwas ungemein Anziehendes. Sie sagte ihm etwas mit ihrem Körper.
Er wurde nachdenklich. Als Mitinhaber einer gutgehenden kleinen Firma sollten sie sich eigentlich besser kennenlernen. Vielleicht konnte er einige seiner Verluste wieder hereinbekommen. Auf die eine oder andere Weise.
THE VENETIAN COURT by Charles L. Harness
Copyright © 1981 by Davis Publications, Inc.
aus ANALOG, März 1981.
Übersetzung: Joachim Körber