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Ein Psychodrama, selbst in seiner übersteigerten Form, zu verdammen, würde bedeuten, die menschliche Natur zu verdammen. Es beginnt in der Kindheit. Das Spiel ist für alle noch nicht voll entwickelten Säugetiere äußerst notwendig. Es ist ein Mittel für die Ausbildung des Körpers, der Wahrnehmungsorgane und der Erfahrung der Außenwelt. Kinder spielen, ja müssen auch mit ihren geistigen Möglichkeiten spielen. Je intelligenter das Kind ist, desto stärker muß es sich in seiner Vorstellungskraft üben. Es gibt in dieser Hinsicht verschiedene Stufen der Aktivität. Sie geht von dem passiven Anschauen einer Show auf dem Bildschirm aufwärts über Lesen, Tagträumen, Geschichtenerzählen bis zum Psychodrama … für das ein Kind noch keine derart exklusive Bezeichnung hat.

Wir können jedoch diesem Verhalten keinen einzelnen Ausdruck zuschreiben, denn es hängt in Form und Verlauf ab von einer endlosen Anzahl von veränderlichen Möglichkeiten. Geschlecht, Alter, Milieu und persönlicher Umgang sind hier nur die augenfälligsten Faktoren. Im vorelektronischen Nordamerika zum Beispiel spielten kleine Mädchen oft „Mutter und Kind“, während die Jungen oft „Cowboy und Indianer“ oder „Räuber und Gendarm“ spielten. Heutzutage spielen deren Abkömmlinge in gemischten Gruppen Spiele wie „Delphin“ oder „Astronaut und Extraterrestrier“. In allen Fällen bilden sich bei solchen Spielen kleine Gruppen, wobei jede einzelne Person in eine Rolle schlüpft, die aus der Vorstellung stammt. Dabei werden oft einfache Requisiten verwandt wie zum Beispiel Spielzeugwaffen oder ein mehr oder weniger zufällig aufgegriffener Gegenstand – etwa ein Stock –, der dann als etwas anderes angenommen wird, zum Beispiel als Metalldetektor. Aber oft existieren selbst diese einfachen Requisiten nur in der Vorstellung, und dies gilt in den meisten Fällen auch für die gesamte Szenerie. Dann spielen die Kinder eine Art Theaterstück, das erst beim Spielen entsteht. Wenn eine Handlung physisch nicht ausgeführt werden kann, wird sie beschrieben. („Ich springe jetzt so hoch, wie man auf dem Mars springen kann, fliege über diesen Kraterrand und überrasche den Banditen.“) Eine große Anzahl verschiedener Charaktere, besonders Bösewichte, tauchen in dem Spiel auf, hauptsächlich infolge einer einfachen Erklärung.

Derjenige mit der größten Vorstellungskraft dominiert in dem Spiel und entscheidet über dessen Fortgang. Jedoch tut er dies auf eine sehr subtile Art und Weise. Er bietet die lebendigsten, buntesten Möglichkeiten an. Die anderen sind allerdings ebenfalls intelligenter als der Durchschnitt. Ein Psychodrama in dieser entwickelten Form ist nicht jedermanns Geschmack.

Diejenigen, die daran Geschmack finden, ziehen großen und lang andauernden Nutzen aus diesen Spielen. Ganz davon abgesehen, daß Kreativität dadurch entfaltet wird, werden durch das Spiel auch vorläufige Rollenerfahrungen gemacht. Die Kinder fangen an, einen Einblick in die Erwachsenenwelt zu gewinnen.

Diese Art der Rollenspiele endet spätestens im jugendlichen Alter – aber auch nur in dieser Form und nicht notwendigerweise endgültig. Erwachsene pflegen oft eine Art von Traum-Spielen.

An den Anredeformen, Aufmachungen und Zeremonien innerhalb von Logen und Geheimverbindungen läßt sich dies gut beobachten. Liegt diese Tatsache nicht allen Festspielen und Ritualen zugrunde? Inwieweit kann man all unsere Tapferkeit, unseren Opfermut oder unsere Selbsterhöhung und das Vermögen, über uns selbst hinauszuwachsen, auf den Wunsch zurückführen, in eine andere Rolle zu schlüpfen? Einige Denker haben versucht, alle Seiten der Gesellschaft auf diesen Aspekt hin zu untersuchen.

Wir wollen uns hier jedoch mit den unter Erwachsenen bewußt gespielten Psychodramen beschäftigen. In der westlichen Zivilisation werden diese Spiele seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in feststellbarem Ausmaß gepflegt. Psychiater erkannten in ihnen die außerordentlich wirksamen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Aber auch unter den einfacheren Leuten fanden Kriegs- oder Phantasiespiele, in denen sich die Darsteller mit erdachten oder historischen Persönlichkeiten identifizieren konnten, wachsende Beliebtheit. Zweifellos war dies zum Teil als Abkehr von den Beschränkungen und Bedrohungen des unglücklichen Zeitalters zu verstehen. Zum größeren Teil war es jedoch die Auflehnung des Geistes gegen inaktive Unterhaltung, hauptsächlich durch das Fernsehen, das mehr und mehr die Freizeit ausfüllte.

Das große Chaos beendete jedoch diese frühen Aktivitäten. Jedermann weiß von ihrem erneuten Aufleben in jüngster Zeit – aus vernünftigeren Gründen, so ist zu hoffen. Mit Hilfe der Datenbank – oder besser, mit Hilfe eines Kreativität erfordernden Computers – konnten dreidimensionale Szenenbilder projiziert und eine entsprechende Geräuschkulisse produziert werden. Dadurch gewannen die Spieler einen Bezug zur Wirklichkeit, der ihre geistige und emotionale Bereitschaft intensivierte. Diese Spiele führten über Jahre hinweg von Episode zu Episode. Bald erkannte man, daß man auf die technischen Hilfsmittel nicht mehr angewiesen war. Es schien, daß die Spieler durch ihre Übung die lebendige Vorstellungskraft ihrer Kindheit zurückgewonnen hatten. Sie konnten sich durch einfache Phantasie wieder in alle möglichen Szenen und Welten hineinversetzen.

Ich hielt es für notwendig, diesen allen bekannten historischen Hintergrund zu wiederholen, da er wichtig für das Verstehen der weiteren Entwicklung ist. Die Neuigkeiten, die vom Saturn übermittelt wurden, bewirkten eine weitverbreitete Abneigung gegen diese Spiele. (Warum? Welche verborgenen Ängste wurden dadurch geweckt? Dies ist im Augenblick Thema einer ausführlichen wissenschaftlichen Untersuchung.) Das von den Erwachsenen praktizierte Psychodrama wurde über Nacht unpopulär. Vielleicht wird es sogar ganz in der Versenkung verschwinden. Das würde in vielerlei Hinsicht ein tragischeres Ereignis sein als die Vorkommnisse, die dazu geführt haben. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß dieses Spiel irgendeinem geistig gesunden Menschen auf der Erde geschadet hat, im Gegenteil. Ohne Zweifel hat es den Astronauten auf ihren langen, schwierigen Missionen geholfen, geistig gesund zu bleiben. Wenn es keine medizinische Bedeutung mehr hat, so nur aus dem Grunde, weil die Psychotherapie zu einem Zweig der angewandten Biochemie geworden ist.

Diese zuletzt genannte Tatsache, der in der modernen Welt bestehende Mangel an Erfahrung mit psychischen Krankheiten, ist als die Wurzel dieser verhängnisvollen Entwicklung anzusehen. Obwohl er die Wirkungen nicht exakt voraussehen konnte, hätte ein Psychiater des zwanzigsten Jahrhunderts doch davor warnen müssen, acht Jahre lang in einer so fremden Umgebung wie jener der Chronos zu verbringen – übrigens eine vorher nie erprobte Zeitspanne. Fremd war diese Umgebung in der Tat, trotz aller Anstrengungen – nach außen hin begrenzt, vollständig kontrolliert durch den Menschen, in zahllosen entscheidenden Dingen der menschlichen Natur vollkommen unangemessen. Den Kolonisten standen jedoch bis zu diesem Zeitpunkt Mittel zur Verfügung, die diesen Mangel wieder aufhoben oder kompensierten. Die entscheidendsten Mittel waren enge Kontakte mit der Heimat und die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit dort hinzufahren. Die Segelzeit zum Jupiter war zwar ebenfalls lang, aber nur halb so lang wie die zum Saturn. Dazu kam, daß die Wissenschaftler in der damaligen Zeus auf ihrer Reise mit zahllosen Forschungen beschäftigt waren. Somit war für später Reisende ein Beschäftigungsfeld verlorengegangen, denn die meisten wissenschaftlichen Rätsel im interplanetaren Raum zwischen Jupiter und Saturn waren gelöst.

Die zeitgenössischen Psychologen waren sich dieser Tatsache bewußt. Sie wußten, daß die Personen, die dadurch am schlimmsten betroffen würden, die intelligentesten, kreativsten und dynamischen Menschen sind – gerade jene, die Entdeckungen auf dem Saturn machen sollten, was schließlich der Sinn des Unternehmens war. Weniger vertraut mit dem minotaurosbewachten Labyrinth des menschlichen Unterbewußtseins als ihre Vorgänger, erhofften sich die Psychologen nur positive Konsequenzen aus den Psychodramen der Raumfahrer.

 

Minamoto

 

Vor dem Abflug erhob man keine speziellen Anforderungen an die Mitglieder der Mannschaft. Es war sinnvoller, der Entwicklung der beruflichen Fähigkeiten freien Lauf zu lassen. Man erwartete zu Recht, daß sie sich zusammen mit den persönlichen Beziehungen während der Reise entfalten würden. Diese Vorgehensweise konnte die Entscheidung erleichtern, welche Person für welche Aufgabe vorbereitet werden sollte. Die andauernde Teilnahme an einer Theatergruppe führte normalerweise auch zu engeren Freundschaften zwischen Mitgliedern, was man sich neben der fachlichen Qualifikation in einem Team wünschte.

Im alltäglichen Leben verhielt sich Scobie Broberg gegenüber stets mit der Zurückhaltung, die man von ihm erwarten konnte. Sie war sehr attraktiv, hielt jedoch treu zu ihrem Mann. Scobie respektierte das, außerdem war er ein Freund von ihm. (Tom machte in den Spielen nicht mit. Als Astronom hatte er genug zu tun, um sich nicht auch noch in seiner Freizeit beschäftigen zu wollen.) Bevor sich Scobie und Broberg überhaupt näherkamen, spielten sie bereits mehrere Jahre zusammen in der Gruppe. Es war wohl nicht bloßer Zufall, daß sie sich während einiger Mußestunden trafen. Sie waren in ihrem Theaterstück an einer Stelle angelangt, an der ihre Rollen sie zu ähnlicher Vertrautheit führten. Sie trafen sich in dem Erholungszentrum, das sich auf der Rotationsachse des Raumschiffes befand. Daher war hier die künstlich erzeugte Schwerkraft ohne Auswirkung. Sie tummelten sich durch den Raum, lachten vor Vergnügen, gingen, als sie müde geworden waren, in das Clubhaus, legten ihre Kleidung ab und duschten gemeinsam. Es war das erste Mal, daß sie sich nackt sahen. Keiner sagte ein Wort, aber Scobie verheimlichte nicht seine Freude an ihrem Anblick. Sie errötete und schaute verlegen in eine andere Richtung. Wieder angezogen, beschlossen sie, noch einen Drink zu sich zu nehmen.

Sie fanden eine Bar, in der sie ganz für sich allein waren. Er bestellte sich per Knopfdruck einen Scotch, sie einen Pinot Chardonnay. Die Maschine bediente sie, und sie trugen ihre Erfrischungen hinaus auf den Balkon. Sie setzten sich an einen Tisch und genossen die gigantische Aussicht, die sich ihnen von hier aus bot. Das Clubhaus hing in einem Stützgerüst und bot lunare Schwerkraftverhältnisse. Über ihnen sahen die beiden den Himmel, durch den sie noch vor wenigen Minuten als Vögel geflogen waren. Seine Ausdehnung schien durch die weit entfernten, spinnenartigen Traversen so wenig eingeschränkt zu sein wie durch ein paar vorbeiziehende Wolken. Dahinter wurden die gegenüberliegenden Decks, ein Wirrwarr von Linien und Formen, zu dieser Stunde in ein mysteriöses Licht getaucht. Zwischen den Schatten auf der anderen Seite konnten die beiden Wälder, Flüsse und Teiche erkennen, die im weißlichen Licht der Sterne aufleuchteten. Nach rechts und links erstreckte sich der Schiffsrumpf über Sichtweite hinaus ins Dunkel, in dem nur noch die Positionslichter, scheinbar verlorengegangen, aufleuchteten.

Die Luft war kühl und duftete ein wenig nach Jasmin. Es herrschte tiefe Stille. Nach allen Seiten hin spürte man unterschwellig den unermüdlichen Pulsschlag des Schiffes.

„Großartig“, flüsterte Broberg und starrte hinaus. „Welch eine Überraschung.“

„Wie bitte?“ fragte Scobie.

„Ich war erst einmal während der Tageswache hier. Ich konnte nicht ahnen, daß eine einfache Drehung der Sonnenlichtreflektoren eine so wunderbare Wirkung hat.“

„Oh, ich habe nichts gegen die Aussicht bei Tage. Sie ist ebenso eindrucksvoll.“

„Ja, aber … aber dann sieht man zu deutlich, daß alles menschengemacht ist, nichts ist dann so wild, so unerklärlich und so frei wie jetzt. Die Sonne überstrahlt die Sterne. Es scheint dann, als seien wir allein, als gäbe es kein Universum hinter der Schale, in der wir uns befinden. Heute nacht ist es wie in Maranoa“, dem Königreich, in dem Ricia Prinzessin ist, einem Königreich wie vor uralten Zeiten, voller Wildheit, voller Zauber.

„Hmmm, ja, manchmal empfinde ich genauso“, gab Scobie zu. „Ich dachte, ich hätte auf dieser Reise genug mit meinem geologischen Datenmaterial zu tun. Aber mein Projekt ist nicht besonders aufregend.“

„Mir geht’s ebenso.“ Broberg richtete sich in ihrem Sitz auf und wandte sich ihm zu. Sie lächelte ein wenig. Das dämmrige Licht ließ ihre Gesichtszüge noch weicher erscheinen, es machte sie jünger. „Nicht, daß wir Grund zum Selbstmitleid hätten. Wir sind sicher und haben es bequem, bis wir den Saturn erreichen. Dort werden wir keinen Mangel an Aufregungen mehr haben, und für den Weg zurück nach Hause werden wir genug Arbeit mitnehmen können.“

„Stimmt.“ Scobie hob sein Glas. „Also, Skoal. Ich hoffe, das war richtig ausgesprochen.“

„Woher soll ich das wissen?“ lachte sie. „Mein Mädchenname war Almyer.“

„Ja, richtig. Du hast Toms Familiennamen angenommen. Habe ich gar nicht mehr bedacht. Das ist aber heute auch sehr ungewöhnlich geworden, oder?“

Sie hob ihre Schultern. „Meine Familie war sehr wohlhabend, aber sie war – ist – katholisch, und da legt man auf einige Dinge besonderen Wert. Du kannst es altmodisch nennen.“ Sie führte ihr Glas an den Mund und nahm einen kleinen Schluck Wein. „Ich bin zwar aus der Kirche ausgetreten, aber ein paar Dinge werde ich mein ganzes Leben nicht abschütteln können.“

„Das verstehe ich. Nicht, daß ich indiskret sein will, aber … äh … das erklärt einige Züge an dir, über die ich mich schon seit langem wundere.“

Sie musterte ihn über den Glasrand hinweg. „Zum Beispiel?“

„Also, du hast eine Menge Leben in dir, Energie, Humor, aber auf der anderen Seite bist du so – wie soll ich sagen – ungewöhnlich ruhig, zurückhaltend. Du hast mir erzählt, daß du vor deiner Heirat Fakultätsmitglied an der Yukon-Universität warst.“ Scobie lächelte. „Da Tom und du so freundlich wart, mich zu eurem Hochzeitstag einzuladen, weiß ich, wie alt du bist. Es ist nicht schwer nachzurechnen, daß du damals dreißig gewesen sein mußt.“ Dabei ließ er seine berechtigte Vermutung unerwähnt, daß sie zu der Zeit wohl noch Jungfrau gewesen war. „Aber … oh, vergiß es. Ich will wie gesagt nicht indiskret sein.“

„Sprich weiter, Colin“, bat sie ihn. „Du hast mir die Gedichte von Burns nahegebracht. Seither muß ich immer an eine bestimmte Zeile von ihm denken. ‚Sich selbst zu seh’n wie durch die ander’n?’ Da es nun schon einmal so aussieht, als ob wir denselben Mond besuchen sollten …“

Scobie nahm einen großen Schluck von seinem Scotch. „Ach, da ist nichts weiter“, sagte er mit einer unbeabsichtigt unsicheren Stimme. „Wenn du es unbedingt wissen möchtest, gut; ich habe den Eindruck, daß deine Liebe zu Tom nicht der einzig gute Grund für dich war, ihn zu heiraten. Er war als Teilnehmer für diese Expedition bereits benannt. Das war für dich die Chance, ebenfalls mitzukommen; außerdem hattest du die geeigneten Qualifikationen. Kurz, du fandest keine Freude mehr an deinem zwar respektablen, aber zur Routine gewordenen Job. Hier war die Gelegenheit gekommen, dem festgefahrenen Alltag zu entkommen. Habe ich recht?“

„Ja.“ Ihr Blick ruhte auf ihm. „Du bist feinfühliger, als ich gedacht habe.“

„Nein. Nicht wirklich. Ich bin im Grunde sehr dickhäutig. Aber durch Ricia habe ich ganz deutlich erfahren, daß du mehr bist als eine schüchterne Frau, Mutter und Wissenschaftlerin …“ Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt. Er wehrte mit seiner erhobenen Hand ab. „Nein, bitte laß mich aussprechen. Ich will damit nicht sagen, daß du dich in deiner Theaterrolle glücklicher fühlst als in Wirklichkeit. Natürlich willst du genausowenig eine herumvagabundierende, männerbetörende Frau sein wie ich ein gefürchteter Haudegen, der all seine Feinde niedermacht. Aber dennoch – wärest du in der Welt unseres Spiels geboren und aufgezogen worden, glaube ich, daß du Ricia sehr geglichen hättest. In dir steckt eine Menge von ihr, Jean.“ Er trank in einem Zug sein Glas leer. „Falls ich zuviel Unsinn erzählt habe, entschuldige mich bitte. Soll ich dir nachschenken?“

„Mir besser nicht mehr. Aber laß dich nicht durch mich abhalten.“

„Nein.“ Er stand auf und ging an die Bar.

Während er zurückging, bemerkte er, daß sie ihn die ganze Zeit über durch die Glastür hindurch beobachtete. Sie lächelte, als er sich setzte, lehnte sich ein wenig über den Tisch und sagte flüsternd: „Ich bin froh über das, was du gesagt hast. Jetzt kann ich endlich aussprechen, daß du dich durch Kendrick als außerordentlich komplizierte Persönlichkeit offenbarst.“

„Was?“ Scobie machte ein ehrlich überraschtes Gesicht. „Jetzt hör aber auf! Er ist ein grober Kerl. Einer, der gern herumzieht, so wie ich. In meiner Jugend war ich ein streitsüchtiger Mensch, genauso wie er.“

„Er mag zwar eine etwas rauhe Schale haben, aber er ist ein edler Ritter, ein milder Herrscher, ein traditionsbewußter Freund von Sagen, Poesie und Musik, er hat etwas von einem Barden an sich … Ricia vermißt ihn. Wann wird er von seinem letzten Kampf zurückkommen?“

„N’Kuma und ich haben die Piraten vernichtend geschlagen und vor zwei Tagen bei Haverness angelegt. Nachdem wir die Segel eingeholt hatten, wollte er Bela und Karina aufsuchen, um mit ihnen eine Weile weiterzuziehen. So verabschiedeten wir uns.“ Scobie und Harding hatten vor kurzer Zeit ein paar Stunden für sich in Anspruch genommen, um dieses Abenteuer beenden zu können. Der Rest der Gruppe war eine Zeitlang mit beruflichen Dingen beschäftigt.

Brobergs Augen weiteten sich. „Von Haverness zu den Inseln? Aber ich bin doch in der Burg von Devaranda – eingesperrt.“

„Das hoffte ich auch.“

„Ich brenne darauf, deine Geschichte zu hören.“

„Nach Einbruch der Dunkelheit ziehe ich weiter. Der Mond scheint hell. Ich habe für ein paar Goldstücke zwei frische Pferde gekauft.“ Unter den trommelnden Hufen wirbelt weißer Staub auf. Funken sprühen, wenn die Eisen gegen Kieselsteine stoßen. Kendrick ruft wutentbrannt: „Du bist doch nicht mit … wie ist sein Name? … Joran dem Roten zusammen? Ich verabscheue ihn.“

„Ich habe ihn schon vor einem Monat fortgeschickt. Er glaubte, Macht über mich zu haben, nur weil er das Bett mit mir teilte. Aber es war nur ein Zeitvertreib. Ich stehe allein auf dem Gerfalkenturm und schaue über mondbeschienene Felder nach Süden. Ich frage mich, wie weit fort du wohl bist. Die Straße unter mir fließt wie ein grauer Fluß in meine Richtung. Galoppiert dort nicht ein Reiter, weit, sehr weit entfernt?“

Nach den vielen Monaten des Spiels war keine Kulisse mehr notwendig. Fahnen flattern im Nachtwind vor den Sternen. „Ich komme. Mein Horn meldet mich den Torwächtern.“

„Wie sehr ich mich nach diesem Klang gesehnt habe …“

In derselben Nacht noch wurden Kendrick und Ricia zu Geliebten. Scobie und Broberg ließen die Details dieser Nacht aus, auch berührten sie sich nicht gegenseitig. Nur ihre Augen begegneten sich flüchtig. Als sie sich schließlich eine gute Nacht wünschten, geschah dies sehr förmlich. Ihre Geschichte handelte ja doch nur von zwei erdachten Gestalten in einer Welt, die niemals existierte.

 

Die unteren Hänge des Gletschers erhoben sich in einzelnen Stufen, von denen jede tief ausgehöhlt war. Die Menschen gingen an deren Rand entlang und bewunderten die extravaganten Formationen unter sich. Sie versuchten das, was sie sahen, zu benennen: Frostgarten, Geisterbrücke, Thron der Schneekönigin, während Kendrick die Stadt betritt, wo Ricia ihn im Tanzsaal erwartet. Der Geist von Alvarlan trägt ihnen gegenseitig ihre Worte zu, und es ist, als weile sie bereits an der Seite ihres Ritters. Aber sie verhielten sich weiter vorsichtig, brachten sich nicht mutwillig in Gefahr und beobachteten aufmerksam jede Veränderung des Untergrundes, auf dem sie sich bewegten, sowohl was Aussehen als auch Beschaffenheit betraf.

Über den höchsten Absatz erhob sich eine Klippe, die zu steil war, um bezwungen werden zu können – die Festungsmauer. Von der Umlaufbahn aus hatte die Mannschaft jedoch in dieser Gegend einen Einschnitt entdecken können, der zweifellos von einem kleinen Meteoriten herbeigeführt worden war – während des Krieges zwischen den Göttern und Zauberern. Steine prasselten vom Himmel und richteten eine so verheerende Verwüstung an, daß sich niemand mehr an das Wiederaufrichten heranwagte. Es war ein angsteinflößender Aufstieg zwischen zwei schroff aufstrebenden Wänden, die in blauem Licht schimmerten und durch deren schmalen Spalt die Sterne doppelt hell aufglänzten.

„Es müssen wohl Wächter an den Pforten stehen“, sagt Kendrick.

„Nur ein einziger Wächter“, wird ihm von Alvarlan eingeflüstert, „aber der ist ein Drache. Würdest du mit ihm kämpfen, kämen alle Wächter herbei, durch den Lärm und das Feuer aufgeschreckt. Habe keine Angst. Ich werde in seinen feurigen Kopf fahren und ihn in einen Traum versetzen, so daß er dich nicht sehen wird.“

„Vielleicht wird der König deinen Zauber bemerken“, läßt Ricia ihn wissen. „Während du fort sein wirst, um die Seele dieser Bestie zu bezwingen, Alvarlan, werde ich den König aufsuchen, um ihn abzulenken.“

Kendrick verzieht das Gesicht. Er weiß nur zu gut, welche Mittel sie dabei anwenden wird. Sie sagte zwar, daß sie sich nach Freiheit und ihrem Ritter sehnt, aber sie hat auch angedeutet, daß Elfen den Menschen in der Liebe überlegen sind. Will sie diese noch ein letztes Mal vor ihrer Rettung auskosten? … Ricia und Kendrick haben sich schließlich weder Treue geschworen noch Treue gehalten. Dasselbe galt für Colin Scobie. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, während die drei schweigend wieder aufbrachen.

Sie erreichten die höchste Stelle der Getschermasse und schauten sich um. Scobie stieß einen Pfiff aus. Garcilaso stammelte: „Du lieber Himmel“. Broberg klatschte vor Entzücken in die Hände.

Unter ihnen fiel die Wand steil auf den Gletscherrand hinab, dessen bizarre Formen ein vollkommen neues, geisterhaftes, aus Licht und Schatten bestehendes Aussehen annahmen. Von hier oben aus sah die Mondkrümmung furchterregend aus. Man war geneigt, sich irgendwo festzuhalten, um nicht in die Sternenwelt über, neben und unter sich hinausgeschleudert zu werden. Unten lag das Raumschiff, winzig zwischen dunklen Steinen, wie ein längst vergessenes Denkmal.

Im Osten erstreckte sich das Eis zum Horizont, der zum Greifen nahe schien. („Dahinter liegt vielleicht das Ende der Welt“, sagte Garcilaso, und Ricia antwortet: „Ja, von dort aus ist die Eisstadt nicht mehr fern.“) Aushöhlungen, Hügel und Risse in unzähligen Ausformungen verwandelten dieses Hochplateau in ein unwirkliches Labyrinth. Den Horizont bildete ein Riff, ein arabeskes, netzartiges Gebilde, das Ziel der drei Entdecker. Alles, was beleuchtet wurde, lag in einem weichen Glanz. Die Strahlung der Sonne war lediglich so stark wie vergleichsweise das Licht, das von etwa fünftausend Vollmonden auf die Erde scheinen würde. Die riesige halbe Scheibe des Saturns im Süden spendete noch ungefähr das Licht eines Vollmondes dazu. In dieser Richtung lag die Wildnis in einem matten Gelb.

Scobie raffte sich wieder auf. „Sollen wir weitergehen?“ Seine nüchterne Frage verwunderte die beiden anderen. Garcilaso runzelte die Stirn, Broberg blickte ihn nur fragend an.

„Ja, ich will eilen“, sagt Ricia. „Ich bin wieder allein. Hast du den Drachen verlassen, Alvarlan?“

„Jawohl“, informiert sie der Zauberer. „Kendrick ist wohlauf, er ist hinter einem verfallenen Palast. Berichte uns, wie wir dich am besten erreichen können.“

„Du bist am Kronenhaus. Bevor du in die Straße der Waffenschmiede kommst … .“

Scobies Brauen zogen sich zusammen. „Es ist Mittag. Zu dieser Zeit bleiben die Elfen in ihren Wohnungen“, erinnert Kendrick auffordernd. „Ich möchte keinen von ihnen antreffen. Es darf nicht zu einem Kampf oder zu Komplikationen kommen. Wir werden dich holen und ohne Aufsehen entfliehen.“

Broberg und Garcilaso zeigten Enttäuschung in ihren Gesichtern, verstanden aber, was er damit sagen wollte. Ein Spiel wurde abgebrochen, wenn ein Spieler mit dem Handlungsverlauf nicht mehr einverstanden war. Oft konnte der Faden der Erzählung mehrere Tage lang nicht mehr aufgenommen werden. Broberg seufzte.

 

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„Folge der Straße bis an ihr Ende. Dort ist ein Platz, auf dem ein Schneebrunnen entspringt“, erklärt Ricia. „Überquere diesen Platz und gehe weiter durch die Aleph-Zain-Allee. Du erkennst sie an der Toreinfahrt, deren Anblick dem eines Schädels mit geöffneten Kieferknochen gleicht. Falls du einen Regenbogen in der Luft flattern siehst, so bleibe bewegungslos bis zu seinem Verschwinden stehen, denn es wird ein Lichtwolf sein … .“

Die drei hatten noch etwa einen Weg von dreißig Minuten vor sich. Auf dem letzteren Teil wurden sie durch riesige Eisbänke zu einem Umweg gezwungen. Das Eis war so feinkörnig, daß es unter ihren Füßen weggeglitten wäre, es hätte sie verschluckt. Diese Eisbänke lagen in unregelmäßigen Abständen vor ihrem Ziel verstreut.

Eine Zeitlang blieben die Entdecker wieder vor Erstaunen gebannt stehen.

Vor ihren Füßen fiel ein Kessel fast hundert Meter tief senkrecht ab und war etwa doppelt so breit. An seinem Rand erhob sich die Wand, die sie von der Klippe aus sehen konnten. Es war ein Bogen, fünfzig Meter weit und hoch, an keiner Stelle dicker als fünf Meter, durchlöchert wie von feiner Ziselierarbeit, grünlich aufleuchtend dort, wo kein Licht hindurchscheinen konnte. Die obersten Ränder einer Schicht fielen, einer den anderen überlappend, in den Krater ab. Andere Abbruche und Schluchten sahen noch traumhafter aus … War dies der Kopf eines Einhorns, war es eine Reihe von Karyatiden, eine Laube aus Eiszapfen …? Die Tiefen waren ein See aus kalten blauen Schatten.

„Du bist gekommen, Kendrick, Geliebter!“ ruft Ricia aus und wirft sich in seine Arme.

„Ruhig“, warnt sie die Stimme des weisen Alvarlan. „Wecke nicht unsere unsterblichen Feinde auf.“

„Ja, wir müssen zurück.“ Scobie blinzelte durch seine Augen. „Was, um Himmels willen, ist bloß in uns gefahren? Der Spaß sollte Spaß bleiben. Wir gehen allerdings etwas zu weit damit, nicht wahr?“

„Laß uns noch eine Weile bleiben“, bat Broberg. „Dies ist so ein großes Wunder – die Tanzhalle des Elfenkönigs, für ihn gebaut von dem Herrn des Tanzes …“

„Denke daran, wenn wir bleiben, werden wir gefangengenommen. Deine Gefangenschaft wird dann vielleicht für immer sein.“ Scobie betätigte den Hauptschalter seines Funkgerätes. „Hallo, Mark? Hörst du mich?“

Weder Broberg noch Garcilaso schalteten sich in den Hauptkreis mit ein. Sie hörten nicht Danzigs Stimme: „Ja! Ich hocke hier über dem Apparat und ängstige mich zu Tode. Wie geht es euch?“

„Gut. Wir sind bei dem großen Loch und kehren wieder um, sobald ich ein paar Bilder geschossen habe.“

„Man kennt noch keine Worte, um auszudrücken, wie erleichtert ich bin. Hat sich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus das Risiko gelohnt?“

Scobie schnappte nach Luft. Er starrte nach vorne.

„Colin?“ rief Danzig. „Bist du noch da?“

„Ja. Ja.“

„Ich fragte, ob ihr irgendwelche wichtigen Beobachtungen gemacht habt.“

„Ich weiß nicht.“ Scobies Stimme war kaum mehr zu hören. „Ich kann mich nicht erinnern. Seitdem wir hier herumklettern, scheint nichts mehr wirklich zu sein.“

„Ihr kehrt am besten sofort zurück“, sagte Danzig streng. „Laß das mit den Fotografien.“

„Du hast recht.“ Scobie rief seinen Begleitern zu: „Vorwärts marsch!“

„Ich kann nicht“, antwortet Alvarlan. „Ein Fluch hält meinen Geist in Raucharmen gefangen.“

„Ich weiß, wo ein Feuerdolch aufbewahrt wird“, sagt Ricia. „Ich werde versuchen, ihn zu stehlen.“

Broberg schritt nach vorn, als wolle sie den Krater hinabsteigen. Kleine Eiskörner vor ihren Stiefeln rieselten über den Rand des Abhangs. Es fehlte nicht viel, und sie würde den Halt verlieren.

„Nein, warte“, ruft ihr Kendrick zu. „Das ist nicht nötig. Die Spitze meines Speeres hat eine Mondlegierung; sie schneidet …“

Der Gletscher erzitterte. Der Überhang brach. Das Eis, auf dem die Menschen gerade noch standen, löste sich und stürzte in den Krater, gefolgt von einer Lawine. Hoch aufwirbelnde Kristalle glitzerten im Sonnenlicht; in Prismen gebrochene Lichtblitze wetteiferten mit den Sternen, senkten sich langsam und erloschen.

Außer dem dumpfen Beben durch das Eis geschah dies in der absoluten Stille des Alls.

 

Herzschlag für Herzschlag kam Scobie wieder langsam zu Bewußtsein. Er lag da, in Dunkelheit und Schmerzen, zu keiner Bewegung fähig. Sein Raumanzug hatte ihn am Leben gehalten und schützte ihn auch weiter. Er war zwar tief gestürzt, schien aber nicht hart aufgeprallt zu sein. Jeder Atemzug schmerzte enorm. Auf seiner linken Seite schienen eine oder zwei Rippen gebrochen zu sein. Der Aufschlag mußte immerhin so stark gewesen sein, daß die Eisenarmierung seines Raumanzuges eingedrückt wurde. Er lag unter einer Eismasse begraben, die so schwer auf ihm lastete, daß er sich nicht bewegen konnte.

„Hallo“, keuchte er. „Kann mich jemand hören?“ Aber alles, was er zu hören bekam, war sein eigener, wild schlagender Puls. Das Funkgerät mußte eigentlich noch funktionieren, denn es war in seinem Anzug eingebaut. Also schienen wohl die Eismassen um ihn herum die Radiowellen abzuschirmen.

Das Eis absorbierte ebenso seine Wärme, und zwar in einer beängstigenden Schnelligkeit. Er empfand keine Kälte, da das elektrische System Energie aus seinen Treibstoffzellen zog, soviel, um ihn warm zu halten und ihn mit chemisch wiederaufgearbeiteter Atemluft zu versorgen. Durch das zuletzt Genannte wurde natürlich die meiste Energie verpufft. Der Wärmestrahlenaustausch durch seinen Anzug ging nur langsam vonstatten. Seine mit Kerosinschaum beschichteten Stiefelsohlen ließen nur ein sehr kleines Quantum an Wärme durch. Und dennoch leitete jeder Quadratzentimeter seines Anzuges Wärmeenergie ab. Eine Reserveeinheit befand sich in der Versorgungsausrüstung auf seinem Rücken, aber er hatte keine Möglichkeit, an sie heranzukommen.

Es sei denn … Er spürte, die Hoffnung war noch nicht verloren. Die Eismassen, die ihn verborgen hielten, gaben ein wenig unter dem Druck seiner Arme und Beine nach. Durch seinen Helm vernahm er leise Kratz- und Reibungsgeräusche: Er konnte seinen Kopf bewegen. Das war kein Wassereis, was ihn gefangenhielt, sondern ein Stoff mit einem sehr viel tieferen Gefrierpunkt. Er brachte ihn zum Schmelzen, zum Verdampfen. Er schuf sich mehr Bewegungsraum.

Bewegte er sich nicht, würde er unweigerlich einsinken, während die gefrorenen Massen über ihm weiter abrutschen und ihn immer tiefer begraben würden. Er hätte dadurch vielleicht neue, wundervolle Formationen hervorgerufen, aber er hätte sie niemals zu Gesicht bekommen. Er mußte seine beschränkten Möglichkeiten aufwenden, um sich einen Weg nach oben zu bahnen, zu kratzen, um seine einzige Chance zu wahren, wieder ans Licht der Sterne zu gelangen.

Er machte sich daran.

Seine Schmerzen quälten ihn. Der Atem flog durch seine Lungen. Seine Kraft ließ nach und machte einem Zittern Platz. Er wußte nicht einmal, ob er sich nach oben oder nach unten bewegte. Blind und halb erstickt formte Scobie seine Hände zu Schaufeln und grub.

Die Anstrengungen waren kaum mehr zu ertragen. Er versuchte, ihnen zu entfliehen …

Sein Zauber war gebrochen. Seine Macht war zerfallen. Würde der Geist von Alvarlan in seinen Körper zurückschlüpfen, so könnte er über das nachgrübeln, was er gesehen hatte. Er würde hinter dessen Bedeutung gelangen. Dieses Wissen verhülfe den Sterblichen zu einer schrecklichen Macht über die Fehen. Der König erwachte aus seinem Schlaf und versuchte, Kendrick und die Entführte aufzuhalten. Er mußte schnell handeln. Ihm blieb nur noch so viel Zeit, um den Bann zu lösen, der die Tanzhalle aufrecht hielt. Sie war ein riesiges Bauwerk, aus Dunst und Sternenstrahlen erbaut. Aber darin hineingemauert waren große Blöcke aus den Eisbrüchen von Ginnungagap. Stürzten sie herab, würden sie den Ritter töten. Aber auch Ricia müßte den Tod erleiden, und das dauerte den König. Aber dennoch sprach er den Fluch aus.

Er wußte nicht, daß Fleisch und Blut oft größte Hindernisse unbeschadet überwinden kann. Sir Kendrick bahnt seinen Weg durch die Ruinen, um seine Ricia zu suchen und zu retten. Um nicht den Mut zu verlieren, denkt er an vergangene und zukünftige Abenteuer …

und plötzlich riß die Dunkelheit auf. Vor ihm stand der Saturn im sanften Licht.

Scobie zog sich an die Oberfläche und blieb erschöpft und zitternd liegen.

Er mußte schnell aufstehen, egal wie sehr es auch schmerzte. Sonst hätte er sich von neuem ein Grab geschmolzen. Er erhob sich unter größten Anstrengungen und blickte sich um.

Von der Skulptur waren nur noch ein paar Vorsprünge und Abbruche übriggeblieben. Der Krater war zum größten Teil ein tafelglattes Weiß unter dem Himmel geworden. Die schattenlose Fläche erschwerte es, Entfernungen zu bestimmen, aber Scobie schätzte die neue Tiefe auf etwa fünfundsiebzig Meter. Alles um ihn herum war leer, vollkommen leer.

„Mark, kannst du mich hören?“ schrie er.

„Bist du es, Colin?“ meldete es sich in seinen Kopfhörern. „Was, in aller Welt, ist bloß passiert? Ich habe dich aufschreien hören. Dann sah ich, wie sich eine Wolke erhob und wieder senkte … und darauf war nichts als eine Stunde langen Wartens. Ist mit dir alles in Ordnung?“

„Ja, so ziemlich. Ich kann Jean und Luis nicht sehen. Ein Eisbruch ist mit uns abgestürzt und hat uns begraben. Bleib auf Empfang. Ich werde mich auf die Suche machen.“

Wenn er sich gerade aufrichtete, schmerzten seine Rippen weniger stark. Er konnte sich wieder recht gut, wenn auch nur vorsichtig, bewegen. Die beiden Schmerzmittel, die er in seinem Notgepäck mit sich führte, waren unnütz. Das eine war zu schwach und würde zu keiner spürbaren Linderung verhelfen; das andere war zu stark, es hätte ihn zu sehr benommen gemacht. Aber Scobie brauchte seine vollen Kräfte, um die Gegend abzusuchen. Bald fand er, wonach er Ausschau gehalten hatte: eine etwas abgesackte Stelle in dem aufgeworfenen schneeartigen Material.

Zu seiner Standardausrüstung gehörte auch ein Werkzeug zum Graben. Scobie biß seine Zähne zusammen und begann zu graben. Ein Helm erschien – hinter dem Visier war Brobergs Gesicht zu erkennen. Sie war gerade dabei, sich einen Weg nach draußen zu bahnen.

„Jean!“

„Kendrick!“ Sie kroch an die Oberfläche und umarmte ihn, das heißt, so weit dies mit dem Raumanzug möglich war. „Oh, Colin.“

„Wie geht es dir?“ brach es aus ihm hervor.

„Ich lebe noch“, antwortete sie. „Ich glaube, ich habe mich nicht ernsthaft verletzt. Wir haben der geringen Schwerkraft nun einiges zu verdanken … Du? Luis?“ Aus ihrer Nase tropfte Blut, und ein Bluterguß auf ihrer Stirn wurde violett, aber sie stand sicher auf ihren Füßen und sprach mit klarer Stimme.

„Bei mir funktioniert noch alles. Luis habe ich noch nicht gefunden. Hilf mir, wir müssen ihn suchen. Aber zunächst sollten wir gegenseitig unsere Ausrüstung untersuchen.“

„Mir ist kalt“, sagte sie und schlug ihre Arme um den Körper nach hinten, als ob das hier etwas nützen würde.

Scobie deutete auf eine Meßuhr. „Kein Wunder. Du hast nur noch ein paar Energieeinheiten für deine Treibstoffzelle zur Verfügung. Bei mir sieht es zwar nicht viel besser aus, aber laß uns trotzdem tauschen.“

Sie vergeudeten keine Zeit damit, ihr Rückengepäck abzuschnallen. Jeder unternahm die notwendigen Handgriffe am Versorgungssystem des anderen. Sie warfen die aufgebrauchten Einheiten auf den Boden, wo sich sofort Dampf entwickelte und Löcher entstanden, die bald wieder zufroren. Die frischen Energieeinheiten schlossen sie an ihre Anzüge an. „Schalte deinen Thermostat herunter“, empfahl Scobie. „Wir werden so bald nicht zurück sein. Bewegung wird uns solange warmhalten müssen.“

„Aber dafür muß auf der anderen Seite wieder mehr Atemluft wiederaufbereitet werden. Das bedeutet auch einen Energieverlust“, erinnerte Broberg.

„Du hast recht. Aber wir können zumindest für einen Augenblick die Energie in den Zellen konservieren. Gut, jetzt sollten wir nachprüfen, ob Verformungen, Potentialabfälle oder andere Schäden entstanden sind. Beeilung. Luis steckt noch immer da unten.“

Die Inspektion war eine Routinetätigkeit, die aufgrund von jahrelanger Übung fast automatisch ablief. Während ihre Hände den Raumanzug Scobies abtasteten, ließ Broberg ihre Augen in eine andere Richtung schweifen. „Die Tanzhalle ist verschwunden“, sagt Ricia mit erstickter Stimme. „Ich glaube, der König hat sie zerstört, um unsere Flucht zu verhindern.“

„Das glaube ich auch. Wenn er herausfindet, daß wir noch leben und nach Alvarlans Seele suchen … Ach, halt! Jetzt ist nicht der Augenblick …“

Danzigs Stimme dröhnte: „Wie geht’s euch?“

„Den Umständen nach gut, so scheint es zumindest. Wir müssen bloß Luis finden … Jean, du solltest rechts in Kreisen den Kraterboden absuchen; ich werde das gleiche auf der linken Seite tun.“

Es dauerte eine Weile, denn die Vertiefung, die Garcilasos Grab markierte, war kaum auszumachen. Scobie begann zu graben. Broberg beobachtete seine Bewegungen und seinen Atem und sagte dann: „Gib mir das Werkzeug. Dich hat es offensichtlich recht schlimm erwischt.“

Er gab zu, daß sein Zustand schlecht war und trat einen Schritt zurück. Verkrustete Eisbrocken flogen von Brobergs Schaufel auf. Sie kam schnell vorwärts, da das Eis, so verschieden es auch in seiner Beschaffenheit von Schicht zu Schicht war, leicht abzutragen war und die geringe Schwerkraft des Iapetus ein leichtes Graben ermöglichte.

„Ich werde mich auch ein wenig nützlich machen und einen Weg hier heraus suchen“, bemerkte Scobie.

Als er den nächstgelegenen Abhang hinaufsteigen wollte, setzte sich der Grund unter seinen Füßen in Bewegung. Er rutschte in einer Staubwolke aus trockenen weißen Staubteilchen zurück und versank in den Eismassen. Unter Schmerzen befreite er sich wieder und versuchte es an einer anderen Stelle; jedoch mit dem gleichen Ergebnis. Er berichtete Danzig: „Ich fürchte, es gibt keinen einfachen Weg hier heraus. Als der Kraterrand unter uns zusammenbrach, entstand eine Erschütterung, die nicht nur die feinen Formationen im Krater zerstört hat. Von der Oberfläche hat sich außerdem eine riesige Menge von besonders feinem Staub in den Krater ergossen. Er ist so schlüpfrig wie Flugsand. Alle Wände sind damit bedeckt, er liegt meterhoch über festem Material. Wir würden schneller rutschen, als wir klettern können, und das auch nur dort, wo dieser Eissand in dünnen Schichten aufliegt. In den tieferen Lagen versinken wir.“

Danzig ließ ein Seufzen vernehmen. „Ich glaube, ich werde einen kleinen, gesunden Spaziergang unternehmen müssen.“

„Ich vermute, du hast bereits Hilfe benachrichtigt.“

„Natürlich. Sie werden mit zwei Booten kommen, aber bestenfalls erst in hundert Stunden hier sein. Das wußtest du bereits vorher.“

„Oh, oh. Unsere Treibstoffzellen werden nur noch etwa fünfzig Stunden halten.“

„Darüber mach dir keine Sorgen. Ich bringe Ersatz und befördere ihn zu euch hinunter, falls ihr solange festklemmt, bis die Rettungsmannschaft eintrifft. Hmmm … vielleicht sollte ich es zuerst mit einer Schleuder versuchen.“

„Du wirst wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, uns aufzufinden. Dies hier ist kein richtiger Krater. Es ist ganz einfach ein Loch, dessen Ränder ebenerdig zur Gletscheroberfläche verlaufen. Die Markierungen, die wir für unseren Rückweg auf das Eis gespritzt haben, sind jetzt zum größten Teil überdeckt.“

„Das ist kein Problem. Ich werde euch mit der Richtantenne orten können. Ein magnetischer Kompaß wird hier unnütz sein, aber ich werde mich zusätzlich am Himmel orientieren können. Der Saturn bewegt sich, von hier aus betrachtet, fast gar nicht, während die Sonne und die Sterne sich nur sehr langsam bewegen.“

„Natürlich. Daran habe ich gar nicht gedacht. Hatte nur die ganze Zeit Luis im Kopf.“ Scobie blickte durch die Eis wüste in die Richtung von Broberg. Sie pausierte gerade und stand schultertief in ihrer Ausschachtung. Durch seinen Kopfhörer vernahm er ihren in kurzen Stößen kommenden Atem.

Er mußte sich bei Kräften halten. Er nippte an dem Wasserstutzen und nahm einen kleinen Bissen zu sich. Von Appetit konnte jedoch bei ihm nicht die Rede sein. „Ich sollte vielleicht versuchen, den ganzen Vorfall zu rekonstruieren“, sagte er. „Ja, Mark. Du hattest natürlich recht, wir waren verdammt unvorsichtig. Das Spiel – wir spielen es schon zu lange, ganze acht Jahre. Hinzu kam, daß wir durch diese unwirklich anmutende Gegend hier die Realität aus den Augen verloren haben. Aber wer konnte das vorausahnen? Mein Gott. Du mußt eine Warnung an die Chronos durchsagen! Ich weiß zufällig, daß eine Gruppe der Titan-Erkundungsmannschaft angefangen hat, ein Stück zu spielen, das, in Anlehnung an den roten Titannebel, von einem Unterwasservolk im Roten Meer handelt. Bevor sie losfliegen …“

Scobie machte eine Pause. „Tja“, fuhr er fort, „ich vermute, wir werden niemals genau nachvollziehen können, was hier schiefgelaufen ist. Sicher ist nur, daß die Eisformationen sehr instabil sind. Auf der Erde können Lawinen auch sehr leicht ausgelöst werden. Ich vermute unter der Oberfläche eine Methanschicht. Sie wird mit dem Anstieg der Temperaturen nach Sonnenaufgang wohl etwas wäßrig. Das hatte jedoch bei dieser geringen Schwerkraft und bei dem Vakuum hier keine Auswirkungen – bis wir aufkreuzten. Zusätzliche Wärmeabgabe, Erschütterungen – auf jeden Fall ist die Schicht unter uns weggerutscht und hat dadurch noch einen größeren Zusammenbruch ausgelöst. Klingt das einleuchtend?“

„Ja – für einen Amateur wie mich“, antwortete Danzig. „Ich muß staunen, daß du unter diesen Umständen noch so sachlich denken kannst.“

„Ich denke lediglich praktisch“, entgegnete Scobie. „Luis braucht vielleicht medizinische Betreuung, vielleicht noch bevor die Boote hier sind. Wie könnten wir ihn in diesem Fall zu unserem Boot bringen?“

Danzigs Stimme wurde wieder ernst. „Irgendwelche Ideen?“

„Ich werde schon einen Weg finden. Die Senke, in der wir uns befinden, hat immer noch die gleiche Grundform. Nicht alles ist eingestürzt. Das deutet auf härteres Material hin, auf Wassereis oder auf Felsen. Ich kann in der Tat ein paar Erhebungen sehen, die aus dem sandähnlichen Material herausragen. Was das sein könnte … vielleicht eine Ammoniak-Kohlendioxyd-Verbindung, vielleicht etwas Ausgefalleneres – das ist etwas, das du später erforschen kannst. Aber jetzt … mit meinen geologischen Instrumenten werde ich wohl einen Weg über den solideren, weniger tief bedeckten Untergrund ausfindig machen können. Wir alle haben Grabwerkzeuge dabei, damit können wir den Weg freischaufeln. Es könnte weitere Lawinen von oben auslösen, aber es bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Wenn die unbedeckten Riffe zu steil oder zu glatt sind, können wir Fußtritte hineinschlagen. Langwierige und harte Arbeit. Vielleicht laufen wir auch auf eine Klippe zu, die zu hoch ist, um hinunterzuspringen, oder ähnliches.“

„Ich kann helfen“, meinte Danzig. „Während ich wartete, um etwas von euch zu hören, habe ich mir unser Inventar an Ersatzkabeln angeschaut. Bänder, Drähte, die ich aus Anlagen herausbauen kann, Kleider und Bettücher, die ich in Streifen reißen kann, hinzugerechnet – all das werde ich zu einem Seil zusammenknoten. Es braucht nicht sehr zugfest zu sein. Ich schätze, es wird etwa vierzig Meter lang. Deiner Beschreibung nach ist dies die halbe Länge der Wand, von der ihr umgeben seid. Falls ihr den halben Weg erklettern könntet, ziehe ich euch den Rest hinauf.“

„Danke, Mark“, sagte Scobie, „obwohl …“

„Luis!“ Er hörte den Schrei Brobergs in seinem Helm. „Colin, komm schnell, hilf mir, das ist schrecklich.“

Ungeachtet seiner Schmerzen – bis auf ein paar Flüche, die er ausstieß – rannte Scobie Broberg zu Hilfe.

 

Garcilaso war noch nicht voll bei Bewußtsein. Den beiden graute es, als sie ihn murmeln hörten: „… in die Hölle; der König hat meine Seele in die Hölle fahren lassen. Ich finde nicht mehr heraus, ich bin verloren. Wäre die Hölle doch nur nicht so kalt …“ Die beiden konnten sein Gesicht nicht erkennen. Die Innenseite seines Visiers war frostig beschlagen. Er war tiefer und länger begraben als die anderen, dazu schwer verletzt. Bald wäre seine Treibstoffzelle aufgebraucht gewesen, und dies hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Broberg konnte ihn allerdings gerade noch zur rechten Zeit freibekommen.

Sie bückte sich in dem Schacht, den sie gegraben hatte, und drehte ihn in Bauchlage. Er schlug mit Armen und Beinen heftig aus und sagte in monotonen, verwischten Lauten: „Ein Dämon greift mich an. Ich kann nichts sehen, fühle aber den Windzug seiner Flügel.“ Sie entfernte seine Energieeinheit von seinem Versorgungssystem und warf sie nach oben. „Wir sollten sie, falls wir können, wieder mit zum Schiff zurücknehmen.“

Scobie starrte entgeistert auf den Gegenstand vor seinen Füßen. Er hatte nicht einmal soviel Wärme zurückbehalten, um das umliegende Eis in Dampf verwandeln zu können, so wie das seine und Brobergs Einheiten zuvor vermocht hatten. Das Gehäuse war eine dreißig mal fünfzehn mal sechs Zentimeter große Metallkiste. Außer zwei an einer der breiten Steckfassungen war die Kiste ohne nach außen hin erkennbare Details. Mit einem Kontrollschalter, der in die Schaltkreise des Raumanzuges eingebaut war, konnte man die chemischen Reaktionen innerhalb der Kiste manuell regulieren. Aber im Normalfall überließ man dies stets dem Thermo- und Aerostat. In dieser Kiste liefen jedoch keine Reaktionen mehr ab. Bis zu ihrer Wiederaufladung war sie bloß hinderlich.

Scobie beugte sich nach vorn, um Broberg zu sehen, die zehn Meter unter ihm in dem Schacht stand. Sie hatte die Reserveeinheit aus Garcilasos Geschirr gelöst und verschaltete sie nun mit dem Versorgungsystem auf seinem Rücken. Sie sicherte ihren Sitz mit Klammern am unteren Teil des Gepäckgestänges. „Wir brauchen deine Hilfe, Colin“, sagte sie. Scobie ließ das hochisolierte Kabel hinunterfallen. Dieses Kabel gehörte zum Standardgepäck bei Erkundigungsgängen und war für den Fall gedacht, daß man einen speziellen elektrischen Anschluß legen oder eine Reparatur durchführen mußte. Sie verknotete es mit den beiden Kabeln, die sie und Garcilaso mit sich führten, warf ein Ende wieder nach oben und hakte das andere Ende in ihr Gepäckgestänge ein, wobei sie mit der rechten Hand über ihre linke Schulter greifen mußte. Das dreifache Kabel wippte über ihrem Kopf wie eine Antenne hin und her. Sie bückte sich und nahm Garcilaso in ihre Arme. Hier auf dem Iapetus war sein Gewicht zusammen mit seiner Ausrüstung leichter als zehn Kilogramm. Broberg wog etwa genausoviel. Theoretisch hätte sie mit ihrer Last gleich bis an den Rand des Schachtes hinaufspringen können. Der Raumanzug ließ dies jedoch nicht zu. Spezialgelenkstücke gewährten zwar eine beachtliche Bewegungsfreiheit, schränkten sie dennoch erheblich ein, zumal die Temperaturen in der Umgebung des Saturns eine besondere Isolierung erforderlich machten. Aber selbst wenn sie den oberen Rand mit einem Sprung erreichen könnte, würde sie auf dem schlüpfrigen Eis ausrutschen und gleich wieder hinabstürzen.

„Auf geht’s“, sagte sie. „Es muß beim erstenmal klappen, Colin. Ich glaube nämlich, daß Luis keine zusätzlichen Erschütterungen mehr erträgt.“

„Kendrick, Ricia, wo seid ihr?“ ächzte Garcilaso. „Seid ihr auch in der Hölle?“

Scobie versuchte sich Halt zu verschaffen und zerrte an dem Kabel, indem er seinen ganzen Körper nach hinten warf, um nicht nach vorn wegzurutschen. Sein ganzer Brustkorb schmerzte unerträglich. Irgendwie gelang es ihm noch, seine Last in Sicherheit zu hieven, bevor er die Besinnung verlor.

Er kam nach einer Minute wieder zu sich. „Mit mir ist alles in Ordnung“, unterbrach er die ängstlichen Stimmen von Broberg und Danzig. „Ich möchte nur einen Augenblick lang ausruhen.“

Die Physikerin nickte und kniete sich hin, um dem Piloten zu helfen. Sie klappte sein Gepäckgestänge aus, damit er flach darauf zu liegen kommen konnte. Kopf und Beine wurden so von dem Gepäck direkt unterstützt. Somit konnten ein zu hoher Wärmeverlust durch Wärmeübertragung und mögliche Kriechströme aufgrund der besseren Abschirmung vermieden werden. Dennoch – stehend würde sich seine Treibstoffzelle nicht so schnell entleeren. Darüber hinaus mußte sie noch einen großen Energieverlust wieder ausgleichen.

„Das Eis schmilzt von der Innenseite seines Helmes“, berichtete sie. „Mein Gott. Blut! Scheint von seiner Kopfhaut zu sein. Es läuft allerdings nicht mehr. Sein Hinterkopf ist wohl gegen den Helm geprallt. Wir sollten in diesen Gestellen besser noch einen Kopfschutz tragen. Ja, ich weiß. Unfälle wie dieser sind bisher noch nicht vorgekommen, aber …“ Sie schnallte die Lampe von ihrer Taille und leuchtete damit durch Garcilasos Visier. „Seine Augen sind offen. Die Pupillen … ja, alles deutet auf eine schwere Gehirnerschütterung hin; vielleicht ist es sogar eine Schädelfraktur, die eine Blutung im Gehirn herbeiführen könnte. Ich wundere mich, daß er sich noch nicht erbrochen hat. Verhindert das die Kälte? Wird er vielleicht jetzt anfangen? Er könnte an seinem Erbrochenen ersticken, und wir können das unmöglich verhindern.“

Die Schmerzen von Scobie waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Er stand auf, ging zu den beiden herüber, pfiff durch die Zähne und sagte: „Ich glaube, es ist aus mit ihm, falls wir ihn nicht sehr bald ins Boot befördern können, um ihn dort richtig zu versorgen. Und das erscheint mir unmöglich.“

„Oh, Luis.“ Tränen liefen die Wangen von Broberg still hinunter.

„Wird er nicht so lange durchhalten können, bis ich mit meinem Seil zu euch stoße? Wir müßten ihn dann zusammen tragen können“, meldete sich Danzig.

„Ich fürchte, nein“, antwortete Scobie. „Ich habe einmal einen Erste-Hilfe-Kurs abgelegt. Damals sah ich einen ähnlichen Fall. Wie kommt es, daß du die Symptome kennst, Jean?“

„Darüber habe ich schon gelesen“, flüsterte sie abwesend.

„Sie weinen, die toten Kinder weinen“, haucht Garcilaso.

Danzig schluckte. „Okay, ich werde zu euch fliegen.“

„Was?“ Scobie schien nicht zu verstehen. Broberg rief: „Bist du etwa auch verrückt geworden?“

„Nein. Hört zu“, sagte Danzig mit fester Stimme. „Ich bin zwar kein geübter Pilot, aber ich habe das gleiche Grundtraining auf dieser Maschine absolvieren müssen wie jeder, der darin fliegt. Warum sollte ich nicht jetzt meine Fähigkeiten erweitern? Der Rettungseinsatz kann uns ja zurückbringen. Es hat keinen Zweck, wenn ich nur bis an den Gletscher heranfliegen würde. Ich müßte immer noch das Seil zusammenknoten und so weiter. Außerdem wissen wir durch die verschüttete Sonde, wie gefährlich eine Landung dort wäre. Ich schlage deshalb vor, daß ich direkt zu euch in den Krater komme.“

„Du willst hier runterkommen? Der Düsenausstoß wird alles unter dir in Dampf verwandeln“, schnaubte Scobie. „Ich wette, selbst Luis würde sich das nicht zutrauen. Du, mein Freund, hast nicht die geringste Chance.“

„Und?“ Sie konnten fast das Zucken seiner Achseln hören. „Eine Bauchlandung aus geringer Höhe, bei dieser Schwerkraft, läßt höchstens meine Zähne ein wenig klappern. Beim Aufsetzen wird die Maschine wohl ein Loch durch das Eis schneiden, bis sie auf festes Gestein stößt. Sicher, die Ränder werden einstürzen und das Boot zuschütten. Ihr müßt vielleicht graben, bis ihr die Luftschleuse erreicht. Ich vermute jedoch, daß die oberen Teile der Maschine aufgrund der Strahlung aus der Kabine eisfrei bleiben werden. Selbst wenn die Maschine umkippt und zur Seite fällt, fällt sie weich gepolstert. Auch bei felsigem Untergrund würden keine schwerwiegenden Beschädigungen auftreten. Sie ist so konstruiert, daß sie auch härtere Aufschläge übersteht.“ Danzig zögerte. „Natürlich kann es euch in Gefahr bringen, aber ich bin zuversichtlich, daß ich euch nicht mit den Düsen braten werde. Ich werde die Mitte des Kraters ansteuern, ihr könnt euch ja solange am Rand in Sicherheit bringen. Vielleicht … es kann natürlich sein, daß ich ein Beben auslöse; es könnte euch töten. Es hat keinen Sinn, zwei weitere Leben zu beklagen.“

„Oder drei, Mark“, sagte Broberg leise. „Trotz deiner tapferen Worte, du könntest dem ebenfalls zum Opfer fallen.“

„Sicher. Ich bin bereits ein alter Mann. Oh ja, ich freue mich am Leben, aber ihr habt noch weit mehr Jahre vor euch. Schau, nehmen wir das Schlimmste an. Nehmen wir an, ich mache nicht nur eine tölpelhafte Landung, sondern lasse die Maschine vollständig zu Bruch gehen. Dann wird Luis zwar sterben, aber das wird er wahrscheinlich ohnehin. Ihr zwei jedoch werdet Zugang zum Materiallager an Bord haben und somit auch zu den Reserve-Treibstoffzellen. Ich bin bereit, ein meines Erachtens kleines Risiko zu übernehmen, um Luis wenigstens eine Überlebenschance zu geben.“

Scobie dachte darüber nach. Tief in seiner Kehle produzierte er ein langgestrecktes „Hmmm“. Eine Hand war beständig auf der Suche nach seiner Kinnspitze, während seine Augen über den glitzernden Kessel blickten.

„Ich wiederhole es“, fuhr Danzig fort, „falls ihr denkt, daß es für euch zu gefährlich ist, lassen wir diesen Versuch fallen. Bitte, entwickelt jetzt keinen Heldenmut. Luis würde uns sicher recht geben; besser, wir haben nur einen Toten zu beklagen, dafür aber drei gerettet, als die hohe Wahrscheinlichkeit, alle zusammen sterben zu müssen.“

„Laß mich bitte nachdenken.“ Scobie schwieg minutenlang, bevor er endlich sagte: „Nein, ich glaube, wir werden hier in keine allzu großen Schwierigkeiten kommen. Wie ich schon vorher sagte, scheint die Umgebung nach dieser großen Lawine in einem relativ stabilen Zustand zu sein. Sicher, das Eis wird verdampfen, bei Stoffen mit geringer Siedetemperatur könnte dies sogar explosionsartig vor sich gehen; das brächte uns in Gefahr. Der Dampf wird allerdings die Hitze so schnell mit sich fort führen, daß nur Material in der unmittelbaren Umgebung seinen Zustand verändert. Ich vermute, daß der feinkörnige Stoff von den Wänden abrutschen wird. Er hat jedoch eine so geringe Dichte, daß er keinen Schaden anrichten kann. Was die übrige Gegend betrifft, so glaube ich, daß sich so etwas wie ein kurzer Schneesturm erheben wird. Der Boden wird tüchtig aufgewühlt werden. Aber vielleicht – Jean, siehst du diesen flachen Felshügel da hinten? Es scheint die Spitze eines verschütteten Berges zu sein, massiv. Da wollen wir warten … Gut, Mark. Wir sind einverstanden. Wir können zwar nicht ganz sicher sein, aber wer kann das schon? Es ist zumindest eine gute Chance.“

„Was reden wir eigentlich die ganze Zeit“, sagte Broberg und schaute auf Luis, der vor ihren Füßen lag. „Während wir alle Möglichkeiten hin und her überlegen, kann Luis sterben. Ja, fliege los, Mark, wenn du dazu bereit bist.“

Als sie und Scobie Garcilaso auf den kleinen Hügel gebracht hatten, deutete sie vom Saturn zum Polaris und flüsterte: „Ich werde einen Zauber aussprechen, alle meine magischen Kräfte aufbringen und den Drachenkönig um Hilfe bitten, daß er Alvarlans Seele aus der Hölle befreit“, sagt Ricia.