Das venezianische Urteil
(Charles L. Harness)
„Mein lieber Bruder Speyer, es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß das Verfahren in Sachen Vereinigte Staaten gegen Systems Motors seit über zwei Jahren abgeschlossen wurde, aber mir kam bislang noch keine Stellungnahme Ihrerseits zu Gesicht. Ich frage mich, woran das liegen mag? Ich weiß, Sie sind sehr überlastet, aber das sind wir alle. Sollten Sie weitere rechtliche Assistenz benötigen, so haben wir noch einige Studenten von der Universität von Maryland hier.
Wie Sie sicher wissen, ist USA gegen Systems Motors ein außerordentlich wichtiger Fall, nicht nur wegen des Präzedenzfalles, der damit ganz sicher geschaffen wird, sondern auch deshalb, weil er Licht in die ökonomische Zukunft eines beachtlichen Industriezweigs bringen wird …“
Da war noch mehr.
Richter Speyer schnappte das Memo und warf es in den Entschlüssler. Dann runzelte er die Stirn. Systems Motors. Er würde darangehen. Warum war der Chef so ungeduldig? Er würde darangehen. Bald. Er benötigte nur etwas, um seine psychischen Batterien wieder aufzuladen. Dann konnte er dieses verdammte Kartellgutachten schreiben.
Er brauchte einen Fall mit Todesstrafe.
Er nahm seinen Terminkalender zur Hand und hakte die Termine einen nach dem anderen ab.
Die Sparte der gewöhnlichen Kriminalfälle setzte sich wie immer zusammen: Computermanipulationen, Erpressungen, bewaffnete Raubüberfälle, Drogen, Vergewaltigungen, sogar ein Mord. Aber keine Todesstrafe. Er brauchte eine Verhandlung, in der er den Angeklagten zerschmettern konnte. Nichts. Wie konnte er sich nur neu energetisieren?
Er legte die Kriminalfälle beiseite.
Wie sah es denn im Zivilrecht aus? Vergeblich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Was für Wonnen hielten schon Unterschlagungen, Vertragsbrüche, Betrug und Diskriminierung von Angestellten bereit?
Und dann fiel sein Blick auf eine einfache, knappe Eintragung: Universal Patents gegen Welles Engineering Corp. Patentverletzung.
Das war es.
Sein Herz begann schneller zu schlagen.
Er konnte es schaffen. Den da konnte er innerhalb von zwei Gerichtstagen fertigmachen. Angefangen am Freitag. Soll der unglückselige Angeklagte ruhig das Wochenende über schmoren. Am Montag dann alles beenden. Und Montagnachmittag mit dem verfluchten Kartellgutachten beginnen.
„Warum ich?“ fragte Quentin Thomas. Er betrachtete seine Besucherin nachdenklich. Sie war bleich und schlank bis fast zur Ausgezehrtheit. Tiefliegende Augen akzentuierten ihre vorstehenden Wangenknochen. Er entdeckte feine Spuren von Make-up, es sah fast so aus, als hätte sie begonnen, Lippenstift, Rouge und Puder aufzutragen, dann aber die Sinnlosigkeit ihres Bemühens eingesehen und alles nachlässig wieder abgewischt. Sie trug einen dunkelgrauen Anzug mit dazu passender hellgrauer Bluse und eine schwarze Krawatte.
„Warum ich?“ wiederholte der Anwalt leise.
Ellen Welles knetete das Taschentuch in ihrer Hand. „Mein Gesellschaftsanwalt will den Fall nicht übernehmen, da es sich um einen Patentfall handelt, der einer äußerst subtilen Handhabung bedarf.“
„Aber es gibt hier in Port City sechs größere Anwalts firmen, die sich mit Patentfragen befassen – warum dann ausgerechnet ich?“
„Wir haben alle aufgesucht. Sie haben uns abgewiesen. Aber bei jeder wurden wir an Sie verwiesen, Mr. Thomas. Sie scheinen …“ – sie suchte nach Worten – „… eine … bestimmte Reputation zu haben.“
Nun lächelte Quentin Thomas fast. „Haben Sie die Unterlagen dabei?“
Sie holte sie aus ihrem Aktenköfferchen. Während sie sie ihm hinüberreichte, sah sie sich in dem Raum um. „Ist das hier Ihr Büro?“
„Es ist ein Vorzimmer meines Apartments. Hier lebe und arbeite ich.“
„Nur Sie? Keine Partner? Keine Mitarbeiter?“
„Nur ich. Wenn ich Nachforschungen anstellen lassen muß, dann wende ich mich an den Rechtsbeistandsservice. Wenn ich Unterlagen getippt haben möchte, dann diktiere ich sie einfach einem öffentlichen Diktaphon. Aber sehen wir uns doch mal an, was Sie hier haben.“ Er überflog das Dokument flüchtig. „Universal Patents, Kläger, gegen Welles Engineering Corp. und Ellen Welles, Angeklagte. Standardbehauptungen bezüglich der Inhaberschaft des Patents für ‚elektrisch leitfähige Polymere’. Verletzung durch die Angeklagten durch Herstellen und Verkaufen ihres Produktes ‚Fiber K’, eingeschlossen Verstoß gegen Patent …“ Er sah sie an. „Verstoßen Sie tatsächlich dagegen?“
„Ja. Wir operieren buchstäblich im Bereich ihres Patents.“
„Und das Patent ist gültig?“
„Nach unserem Wissen, ja. Die besten Referenzen wurden zitiert. Unser Produkt erfüllt alle Kriterien des Patents hundertprozentig.“
„Können Sie denn die Produktion dieses Erzeugnisses … wie heißt es doch gleich … Fiber K nicht einfach einstellen?“
„Es ist unser Hauptprodukt. Die ganze Gesellschaft fußt nur darauf. Wir begannen unsere Forschungen schon vor mehreren Jahren, stiegen ins Geschäft ein, begannen mit dem Verkauf und beantragten unser Patent. Dann beantragten Universal Patents ihre eigenes Patent darauf. Sie waren uns voraus. Zuerst konnten wir es nicht glauben. Sie hatten nicht mal irgendwelche Forschungen unternommen. Nur ein Papierpatent, das von einem Computer zusammengestellt worden war. Einem Erfindercomputer.“
„Faust“, murmelte Quentin Thomas.
„Was?“
„Faust. So heißt der Computer. Er wurde von einem Mann namens Robert Morissey erfunden. Er selbst ist heute irgendwo im Irrenhaus, aber die Maschine produziert weiter ihre Erfindungen. Universal Patents verwaltet seinen Nachlaß. Interessant. Hmm.“ Einen Augenblick durchdachte er alle Möglichkeiten. Aber es schien sich kein Strohhalm zeigen zu wollen. Es war hoffungslos. Sie zählte auf ihn als eine Art von allerletzter Hoffung, aber er konnte beim besten Willen nichts für sie tun. „Tut mir leid, Mrs. Welles. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kann den Fall nicht übernehmen.“
Aber sie gab nicht so schnell auf. „Hat der größte Strafverteidiger diesseits des Mississippi etwa Angst, einen Prozeß wegen einer einfachen Patentsverletzung zu verlieren?“
„Mrs. Welles …“ Er spielte versonnen mit den Füllern auf seinem Schreibtisch, seine Stimme wurde unpersönlich. „In den zurückliegenden Jahren sind mit dem Patentrecht einige traurige Veränderungen vonstatten gegangen. Lassen Sie mich Ihnen einen kurzen historischen Überblick geben. In der Zeit von 1985 bis 2000 wies der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten jedes beantragte Patent ab. Tatsächlich ging man sogar so weit, das Patentsystem abzuschaffen. Die legislative Reaktion darauf war außerordentlich stark. Daher führte der Kongreß im Jahre 2002 neue Patentstatuten ein, wobei die Gründe, die früher vom Gerichtshof zu einer Patentsverletzung zählten, fast vollkommen entfernt wurden. Vielleicht erweist sich der neue Patentstatus eines Tages als rechtlich nicht haltbar, aber bis zu diesem Tag, an dem das Gericht ihn wieder abschafft, ist er Gesetz.“
„Das ist mir alles bekannt“, sagte Ellen Welles.
Er beugte sich nach vorne und studierte die bleichen Züge. „Wissen Sie auch, daß nach den Statuten von 2002 eine Patentsverletzung ein Kriminaldelikt ist?“
Ihre tiefliegenden Augen funkelten ihn an. „Ja. Patentverletzung gehört heute zu den Kapitalverbrechen. Es wird mit der Todesstrafe geahndet.“
Der Anwalt erhob sich nervös von seinem Stuhl und schritt vor der Frau im Raum auf und ab. Schließlich sah er ihr wieder unverwandt ins Gesicht. „Mrs. Welles, irgend etwas fehlt hier. Ich komme nicht durch zu Ihnen. Wenn Ihre Gesellschaft den Prozeß verliert, dann wird jemand sterben müssen. Und Sie, da Sie einer Rechtsverletzung angeklagt sind, werden diese Person benennen müssen. Andernfalls verlieren Sie den Prozeß aufgrund von Mehrheitsurteilen, und das Gericht wird beliebige Personen aus dem Management zur Verantwortung ziehen. Wie zum Beispiel den Präsidenten oder den Vorsitzenden des Aufsichtsrates.“
Mrs. Welles lächelte verzerrt. „Das weiß ich, Mr. Thomas. Und daher werde ich sowohl als Präsidenten wie auch als Aufsichtsratsvorsitzenden mich selbst einsetzen.“
Er rollte mit den Augen. „O Gott“, murmelte er.
„Es wird eine Geschworenenverhandlung geben“, sagte sie.
„Der Richter könnte den Geschworenen den Fall aus den Händen nehmen und selbst einen Richterspruch fällen.“ Er dachte darüber nach. „Wer ist der Richter?“
„Speyer.“
Quentin Thomas erstarrte.
„Sie haben sicher schon von ihm gehört?“ erkundigte sich Ellen Welles.
„In unseren Kreisen kennt man ihn als ‚Speyer, die Spinne’“, antwortete der Mann leise.
„Ich weiß. Ich ließ Nachforschungen anstellen. Wie ich hörte, ist der Mann ein latenter Psychopath.“
„Da haben Sie richtig gehört. Er hatte bereits zwei Patentrechtsfälle unter den neuen Statuten. In beiden Fällen sprach er den Geschworenen den Fall ab. Und er verhängte in beiden die Todesstrafe. Es hilft alles nichts mehr, tut mir leid. Sie müssen sich den Wünschen Ihrer Konkurrenz fügen, Mrs. Welles. Sie haben keine andere Wahl mehr.“
„Daran haben wir auch schon gedacht. Aber sie wollen einen Anteil von fünfzig Prozent am Verkaufspreis von Fiber K. Wir würden mit jedem Kilo Geld verlieren und wären innerhalb von drei Monaten bankrott. Keine andere Wahl mehr. Wir müssen kämpfen.“
„Vielleicht können Sie das Patent kaufen?“
„Haben wir ebenfalls versucht. Kull und Ordway von Universal Patents sagten, sie würden niemals zulassen, daß das Patent zu ihren Lebzeiten verkauft wird.“
„Ich verstehe.“ Wieder dachte er nach. „Und Sie wollen sich selbst als das Opfer benennen – optieren, wie man das nennt?“
„Ja.“
Er zeigte sein Unbehagen unverhüllt. „Das ist nicht unbedingt nötig, Mrs. Welles. Sie haben eine Tochter … zwölf … dreizehn? Es besteht kein Grund, dieses Risiko persönlich auf sich zu nehmen. Sie können einen Vertrag mit einer unheilbar kranken Person unterzeichnen – jemandem, der nur noch wenige Monate zu leben hat. Die Gesetze erlauben ein Optieren jeder Person, die dazu bereit ist.“
„Ich bin unheilbar krank“, sagte sie mit Grabesstimme. „Ich bin genau die richtige Person. Das ist einzig und allein meine Show.“
Großer Gott, dachte er, sie sitzt da und unterhält sich logisch und beherrscht über das alles, und dabei muß sie sterben. „Tut mir leid“, sagte er. „Das wußte ich nicht.“
„Lorie ist jetzt dreizehn. Ich möchte ihr gerne etwas hinterlassen, von dem sie leben kann. Ausbildungsfinanzierung. Wenn Sie den Fall übernehmen, tun Sie es für sie. Wenn Sie mich abweisen, muß ich die Angelegenheit auf pro se-Basis selbst in die Hand nehmen – und ich war in meinem ganzen Leben noch nie in einer Anwaltsschule, Mr. Thomas.“
Sie wartete.
Er dachte wieder nach. Da war dieser andere Patentfall, der darauf wartete, vor den Obersten Gerichtshof gebracht zu werden, Universal Patents gegen Williams. Der Angeklagte, über den nach den neuen Statuten die Todesstrafe verhängt worden war, argumentierte nun, diese Statuten seien ungesetzlich, da sie eine Revision verweigerten. Man erwartete vom Obersten Gerichtshof eine Klärung, die Frage blieb nur, wann. Konnte er Speyer zu einer Aussetzung des Verfahrens bewegen, bis das Gericht in Sachen Williams entschieden hatte? Wenn nicht, auf welche anderen Möglichkeiten konnte er hoffen? Wie er wußte, hatte das Patentamt der Vereinigten Staaten sich inzwischen voll und ganz auf die Gültigkeit des Fiber-K-Patents eingestellt. Vielleicht konnte er die Patentkommission davon überzeugen, daß das Patent auf sehr wackligen Beinen stand. Und dann war da noch Jethro Kull, der Eigentümer von Universal Patents, der gigantischen Gesellschaft, die das Patent innehatte. Er könnte Kull in den Zeugenstand bitten und ihn dort ein wenig foltern.
Aber was hatten sie damit im Endeffekt wirklich erreicht?
Nichts.
Er konnte sich nur mit einem trösten: Die Situation der Angeklagten konnte sich nicht mehr verschlechtern, aber die Gegenseite zeigte vielleicht doch noch Schwächen während der Dauer des Prozesses. Hier verhielt es sich wie bei jedem anderen Rechtsstreit auch, an dem große Gesellschaften beteiligt waren. Die seltsamsten Dinge konnten passieren.
Langsam begann der Fall sein Interesse zu wecken.
Sie sah ihn durchdringend an. „Werden Sie den Fall übernehmen, Mr. Thomas?“
Er hielt die Hand hoch. „Einen Augenblick.“ Er wandte sich an die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch und sagte: „Kodex 9.“
Die Antwort kam unverzüglich. „Ja, Mr. Thomas?“
„Ich wüßte gerne das Nettovermögen der Welles Engineering Corporation.“
„Ich kann Ihnen die offiziellen Zahlen aus dem letzten Geschäftsbericht übermitteln. Kosten wären einhundert Dollar.“
„Haben Sie nichts Tiefergehendes?“
„Ich kann Ihnen todsichere Daten geben, die auf den ersten fünf Geschäftsmonaten basieren, eingeschlossen eine Schätzung des Juni-Einkommens.“
„Wieviel?“
„Diese Information wird Sie fünfzigtausend Dollar kosten.“
„Ich akzeptiere.“
„Das Nettovermögen, basierend auf den Daten bis zum dreißigsten Juni, beträgt drei Millionen einhunderttausend, plus minus zehntausend.“
Er sah die Frau prüfend an. Sie zuckte die Achseln.
„Ist das alles, Mr. Thomas?“ fragte die unsichtbare Interkomstimme.
„Wem gehört das Vermögen?“
„Für fünftausend?“
„Einverstanden.“
„Im Umlauf sind dreitausend Anteile. Davon gehören zweitausend Mrs. Ellen Welles, einer Witwe, die restlichen ihrer Tochter Lorie Welles.“
„Vielen Dank, Kodex 9.“ Er schaltete ab.
„Wie ich sehe, muß ich meine internen Sicherheitsvorkehrungen mal wieder überholen lassen“, kommentierte Ellen Welles trocken.
„Keine Sorge. Sie stückeln sich ihre Informationen hauptsächlich aus öffentlichen Informationen via Computer zusammen.“
„Und gelegentlich auch mit Schmiergeldern?“
„Ja.“
„Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Thomas?“
„Mein Preis ist hoch.“
„Wieviel.“
„Wenn ich gewinne, ein Drittel des Kapitals von Welles Corporation.“
„Und wenn Sie verlieren?“
„Nichts.“
„Wer bezahlt anfallende Ausgaben und dergleichen?“
„Ich meine und Sie Ihre.“
„Der Handel gilt“, sagte Ellen Welles. Sie stand auf. „Meine Anwälte werden augenblicklich den Vertrag ausarbeiten. Sie werden ihn spätestens morgen bekommen.“
Und so, dachte Quentin Thomas, mag der Irrsin seinen Lauf nehmen.
Es war Mitternacht. Im Halbdunkel seines Schlafzimmers lag er auf dem Rücken und dachte an Ellen Welles und Fiber K und starrte dabei unaufhörlich auf das Muster des Schlaflabyrinths, das an seine Decke projiziert wurde. Zehn Minuten folgten seine Augen nun schon den Linien, aber es half nichts.
Er betrachtete den unteren Bildrand, als berge der einen Hinweis, doch da stand lediglich: Copyright 2015 by Sleep Enterprises Inc. Und darunter: Todsicheres Rezept gegen Schlaflosigkeit.
Er hätte den Fall nicht annehmen sollen. Die Frau würde sterben, und zwar durch seine Schuld. Er wälzte sich unruhig. Selbstverständlich würde sie so oder so sterben. Aber auf diese Weise war es irgendwie noch bestimmter und schneller. Nächsten Montag um diese Zeit würde sie tot sein.
Flacker … Flacker … keine Lösung. Das war das erste Labyrinth, das bei ihm nicht funktionierte. Immer wieder Richter Speyer. Dieser Bastard. Der Scharfrichter. Und nun saß er ihm schon wieder im Nacken.
Ah … nein … Sackgasse.
Schon das zweite Mal.
Plötzlich leuchtete ein Schriftzug über dem Labyrinth auf. „Zehn Minuten. Ist es zu schwer für Sie? Wollen Sie die Lösung erfahren?“
„Geh zum Teufel“, knurrte er.
Es folgte ein kurzes Intervall, dann begann das ganze Labyrinth zu flackern. Ein und aus, ein und aus. Ein regelmäßiges Muster. Es ist verrückt geworden, dachte er. Vielleicht nicht mehr funktionsfähig. Keine Lösung. Er betrachtete es einen Augenblick. Flacker, flacker, ein und aus.
Er schaltete den Projektor aus und blieb im Dunkeln liegen. Er starrte ins Nichts. Vielleicht auch ins Herz der Zeit. Die Sekunden tickten dahin. Sollte er die Sekunden zählen? Wie viele Sekunden bis zum Tod von Ellen Welles? Die Verhandlung begann am nächsten Freitag. In vier Tagen also. Dann das Wochenende. Samstag und Sonntag als Vorbereitung für den Montag. Am Montag würde alles überstanden sein. Natürlich würde er versuchen, es hinauszuzögern, aber Speyer würde ihm seine Verzögerungstaktiken nicht durchgehen lassen. Und dann das Ende.
Hör auf damit, deine Gedanken zu verschwenden, Verteidiger! Es gibt Wichtigeres. Überprüfe alle Unterlagen. Unterhalte dich mit den Technikern von Welles Engineering. Stelle deine Zeugen zusammen. Verfolge den Verlauf des Williams-Prozesses, der langsam aber sicher seiner Stattgebung durch den Obersten Gerichtshof entgegengeht. Und vor allen Dingen kümmere dich gleich am Freitag um eine Vertagung mit Rücksicht auf Williams.
Plötzlich dachte er wieder an das flackernde Labyrinth … Sleep Enterprises – war das nicht ein Zweig von Universal Patents? Das Flackern – wie hatte das ausgesehen? Ein, ein, Intervall, ein, lang ein, ein und wieder … danach konnte er sich nicht mehr erinnern. Aber das war das Morsealphabet. „M … O … R … R …“ Morissey!
Rasch schaltete er das Labyrinth wieder ein. Fast augenblicklich begann auch das Flackern wieder. „FINDET MORISSEY FINDET MORISSEY …“
Das Ganze dauerte noch ein paar Sekunden, dann verwandelte es sich wieder in das normale Labyrinth. Schließlich schaltete Quentin Thomas ab und griff nach dem Kommunikatormikro auf dem rechten Nachttischchen.
„Kodex 9.“
„Ja, Mr. Thomas?“
„Ich möchte eine Liste aller Amüsier- und/oder Ausbildungseinrichtungen, die von Universal Patents hergestellt oder in Lizenz produziert werden, mit einer zusätzlichen Liste all jener Einrichtungen, die einer aktiven geistigen Beteiligung Erwachsener bedürfen. Erstellen Sie in jeder Kategorie eine Liste all derer, die a) mit einem Geheimkode in Verbindung gebracht werden könnten und b) die von Faust erfunden worden sein könnten, dem Erfindercomputer von Universal Patents.“
„Einen Augenblick, Mr. Thomas.“
Er zählte vierzig Sekunden.
„Mr. Thomas?“
„Hier.“
„Wir können Ihrem Anliegen gerecht werden, wenn wir auch nicht sicher sind, ob wir vollständiges Material über mögliche Kodierungen haben. Die Liste ist umfangreich und wird einen Ausdruck an Ihrem Terminal erfordern. Sie kann in etwa dreißig Minuten begonnen werden. Der Preis für unsere Informationen beträgt 37500 Dollar.“
„Akzeptiert.“
„Auf Ihrem Konto für uns sind aber nur noch 25000 Dollar.“
Er dachte einen Augenblick nach. „Ich übertrage 900000 Dollar von meinem Finanzkonto.“ Er tippte die Zahl in den Bankcomputer ein. Damit stand er völlig bloß da. Er fragte sich, ob nach der Verhandlung noch etwas übrig sein würde.
„Ihr Konto ist wieder aufgefüllt, Mr. Thomas“, sagte die sanfte, metallische Stimme. „Der Ausdruck wird in Kürze beginnen.“
Er schlüpfte in seinen Morgenmantel und ging ins Büro, um den Ausdruck zu verfolgen.
Spiele, Kreuzworträtsel, Puzzles. Dutzende, Hunderte. Aber alle enthielten dieselbe Botschaft, oftmals so merkwürdig verschlüsselt, daß es außerordentlich schwierig war, sie überhaupt zu erkennen. „Finde Robert Morissey.“ Und alle waren von Faust entworfen worden, dem Erfindercomputer, den Robert Morissey geschaffen hatte.
Die Schlußfolgerungen waren faszinierend.
Da war zuerst Robert Morissey, der geniale Erfinder. Er hatte Faust geschaffen. Und irgendwann, irgendwie war dann auch Universal Patents ins Spiel gekommen. Universal Patents hatte mittlerweile die Rechte an Faust und an Fausts Erfindungen, und sie unterzeichneten Fausts Patente als Administratoren für Robert Morissey, der angeblich verrückt war. Und nun dachte sich Faust, zusätzlich zu einem immensen Ausstoß an industriell verwertbaren Erfindungen, auch noch diese Ausbildungsdingelchen aus, fast als Fingerübung. Und alle vermittelten eine einzige Botschaft: „Finde Morissey.“ Und das bedeutete: 1) Faust und Morissey waren getrennt. 2) Faust sorgte sich um Morisseys Wohlergehen und seinen Aufenthalt. 3) Faust war eine lebende, denkende Einheit mit allen Rechten. 4) Schließlich, und das war am aller wichtigsten, wenn 3) zutraf, war Faust – und nicht Morissey – der Erfinder von Fiber K. Morisseys Name stand zu Unrecht auf dem Patent, und damit wurde es ungültig.
Was aber konnte er damit anfangen?
Nichts, wenn er nicht Robert Morissey finden und/oder Faust vor Gericht bringen konnte.
Saftige Chance.
„Kodex 9“, sagte er in den Kommunikator.
„Ja, Mr. Thomas?“
„Wo ist Robert Morissey, der Erfinder des Erfindercomputers Faust?“
Es folgte eine lange Pause. Dann die Antwort: „Das wissen wir nicht. Keine Kosten.“
„Wo ist Faust?“
„Tausend Dollar.“
„Akzeptiert.“
„Faust ist in einem gepanzerten Gebäude Ecke Kay Street und Riviera Drive, Port City.“
„Größe?“
„Von Faust? Tausend.“
„Akzeptiert.“
„Siebenhundertneunzig Kubikmeter.“
Größer als der Gerichtssaal, dachte Thomas. Konnte man Faust verkleinern? Vergiß das! „Vielen Dank, Kodex 9, und gute Nacht.“
„Bei Kodex 9 ist es niemals Nacht, Mr. Thomas. Trotzdem, auch Ihnen eine gute Nacht.“
Es ist Freitag, und ein großer, schwarzer Elektrowagen fährt langsam den Riviera Drive in Richtung Gerichtsgebäude hinab. An der rechten Tür befindet sich eine winzige Inschrift, die aus den beiden Worten ‚Universal Patents’ besteht, ein goldener Schriftzug auf einem silbernen, fast kreisförmigen Muster, das große Ähnlichkeit mit einem Spinnennetz hat. Dies ist die einzige Unterbrechung in der sonstigen unauffälligen Anonymität des Wagens.
Im Fond saßen sich zwei Männer an einem kleinen Klapptisch gegenüber und legten Dokumente in ihre Aktenköfferchen zurück. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, allerdings weniger, um zu verhindern, daß der Chauffeur lauschte, sondern mehr aus alter Gewohnheit. Aber da er die Trennscheibe ein wenig herabgelassen hatte, konnte er sie trotzdem hören.
„Ich bin mir der besonderen Bedeutung des Falles gegen Welles Engineering voll bewußt“, sagte Jethro Kull, „aber ich mache mir auch Sorgen wegen des Falles Williams. Vielleicht sollten Sie nach Washington gehen, um uns dort in dieser Sache vor dem Obersten Gerichtshof zu vertreten. Ihr Mann Jones könnte diese Fiber-K-Affäre übernehmen, bis Sie wieder zurück sind.“
„Nein“, antwortete Ordway. „Eine Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof erfordert einen Spezialisten – was ich nicht bin. Es gibt eigentlich nur ganz wenige Firmen, die ich für kompetent genug halte, Universal Patents gegen Williams zu handhaben. Wir haben die beste. Mit allem nötigen Respekt vor Jones, für den Fall Welles bin ich der beste. Ich bin gründlich vorbereitet. Wichtig ist vor allem, daß Speyer das Urteil verkündet, bevor der Oberste Gerichtshof in Sachen Williams entschieden hat.“
„Wird Speyer das tun?“
„Ja. Er ist außerordentlich überlastet, und wie ich gerüchteweise gehört habe, steht er unter immensem Druck des Obersten Richters, der ein Gutachten in einem Kartellfall von ihm haben will, das bereits seit einem Jahr überfällig ist. Natürlich hofft Quentin Thomas auf eine Verzögerung. Er wird Welles hinauszögern wollen, bis ein Richterspruch in Sachen Williams vorliegt.“
„Was wird Speyer in einem solchen Fall Ihrer Ansicht nach tun?“
„Ich glaube kaum, daß er einem Antrag auf Vertagung stattgeben wird.“
„Warum nicht?“
„Eine Vorahnung.“
„Hmm. Keine besonders solide Basis für einen Mann, der sein Leben stets nur nach streng logischen Gesichtspunkten ausrichtet.“
„Nein.“
„Wissen Sie etwas über diesen Thomas?“
„Brillant, unberechenbar. Wurde zweimal wegen unethischer Vorgehensweise verwarnt.“
„Werden Sie mit ihm fertig, Ordway?“
„Mit ein wenig Unterstützung von Speyer, ja.“
Die Limousine fuhr in die Einfahrt zur unterirdischen Garage des Gerichtsgebäudes.
„Ordway“, sagte Jethro Kull leise, „vergessen Sie nur eines nicht: Wenn wir diesen Fall verlieren, dann werden alle unsere Lizenznehmer sich gegen uns erheben. Und wenn das geschieht, dann schwindet unser fürstliches Einkommen, und Universal Patents wird binnen kürzester Zeit bankrott sein.“ Er sah dem Anwalt direkt in die Augen. Seine Stimme war glatt wie Seide, schlüpfrig wie polierter Granit. „Lassen Sie es nicht soweit kommen, Ordway.“
Sein Gefährte schluckte und wurde um eine Schattierung bleicher. „Ich verstehe, Mr. Kull.“
„Alles aufstehen!“ befahl der Saalordner. „Hiermit ist die Verhandlung des Distriktsgerichts von Port City eröffnet. Den Vorsitz führt Richter Speyer.“
Richter Speyer kam aus seinem Kämmerchen und ging mit raschen Schritten auf seine Bank zu. Er hatte eine große, dünne Mappe dabei, die gegen seinen Talar schlug, während er die drei Stufen bis zu dem großen Richterstuhl erklomm. Kaum hatte er Platz genommen, reichte ihm der Beamte die Unterlagen des Falles. Er überflog den Deckel kurz. Universal Patents gegen Welles. Der richtige Fall. Seine Augen blinzelten im Raum umher und fanden Ellen Welles fast augenblicklich. Großartig! Sie brachten solche Frauen immer herein, um das Sympathiegefühl der Geschworenen zu erwecken. Aber natürlich würde er diesen Fall nicht den Geschworenen überlassen.
Nun zur sachgerechten Vorbereitung. Er öffnete die Mappe und breitete alles fein säuberlich aus. Er wußte, seine Art, sich im Richterstuhl zu entspannen, führte manchmal zu bösen Kommentaren, aber das kümmerte ihn nicht. Alles war streng logisch.
Er war ein beleibter Mann, aber seine Arme und Beine waren spindeldürr. Sein Kopf schien direkt auf den Schultern zu sitzen, ohne Nacken und auch ohne die Notwendigkeit eines solchen. Den kleinen, runden Kahlkopf hatte er schon als Junge gehabt. Seine Erscheinung und sein Äußeres sowie sein Name hatten bald zu dem Spitznamen „Spinne“ geführt. Weder in seiner Jugend noch im besten Mannesalter hatte er sich wieder davon lösen können, und noch heute war es nicht ungewöhnlich, daß er Post bekam, die an „Richter Spinne“ adressiert war.
Nun gut, dann eben Die Spinne. Die Schmach hatte sich mit der Zeit gelegt, war zum persönlichen Triumph geworden.
Spinnen waren sein Hobby geworden. Er hatte die Arachniden von Grund auf erforscht. Und jetzt, sogar auf dem Richtersitz, sogar heute, in dieser seltsamen Patentangelegenheit, kümmerte er sich um Spinnen. Er betrachtete die Papiere, die er aus seiner Mappe geholt hatte. Schon lange war es seine Angewohnheit zu kritzeln, wenn er den Aussagen der Zeugen oder den Schlußfolgerungen der Anwälte zuhörte.
Gekritzel? Nein, sie waren viel zu perfekt, um als Kritzeleien zu gelten. Flach vor ihm auf dem Pult ausgebreitet, zwischen der Wasserkaraffe und dem Ordner mit den Unterlagen, lag ein Stapel Papiere, jedes achtundzwanzig mal dreißig Zentimeter in den Abmessungen. Auf jedem Blatt war die Zeichnung einer anderen Spinne zu sehen. Natürlich waren die Arachniden mehr als überlebensgroß. Sie alle hatten die Beine etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimeter gespreizt. Manchmal waren die achtbeinigen Geschöpfe beim Weben dargestellt, manchmal schienen sie auch nur leichtfüßig über einen unsichtbaren Boden zu huschen. Manchmal hingen sie an einem einzigen seidenen Faden herab.
Die Bilder wurden von der Gesellschaft der Spinnenforschung Neu Englands vorbereitet. Was für großartige Arbeit dort geleistet wurde! Die Gesellschaft hatte fast siebenhundert Spezies allein in Neu England identifizieren können. Sie hatte auch diese Bilder herausgegeben. Der Käufer konnte sie anhand eines Zahlenkodes selbst kolorieren.
Und was haben wir heute, dachte er.
Atropos. Eine neuentdeckte Spezies, offensichtlich eine Mutation von Klotho via Lachesis. Nur einhundert Exemplare waren bekannt geworden. Natürlich hatte er eines davon. In seinem Studierzimmer im Terrarium. Sie war etwas ganz Besonderes. Atropos spürte Fliegen, die sich in ihrem Netz gefangen hatten, aufgrund winziger elektrischer Ströme auf, die durch die hauchdünnen Seidenfäden bis zum Nervenzentrum des Netzes liefen. Sagte man.
Sobald die Ereignisse hier ihren Lauf nahmen, konnte er die Pinselspitze in das Wasserglas tauchen, im Farbenkasten ein leuchtendes Kobaltblau mischen und das zentrale Band um den Unterleib von Atropos ausmalen. Und dann die beiden zinnoberroten Streifen.
Noch einmal suchte sein Blick mit größter Befriedigung Kopf und Augen von Ellen Welles. Etwas Besseres konnte er sich überhaupt nicht wünschen. Er dachte über seinen Kartellfall nach, USA gegen Systems Motors. War so gut wie geschrieben. Diese Frau würde sterben, und allein der Anblick ihres Todes würde ihm genügend geistige Energie liefern, um Systems abschließen zu können. Seine Meinung zu Systems würde als grundsätzliche Arbeit zum Kartellgesetz in die Annalen des Rechtswesens eingehen. Die Gerichtsjournalisten würden sich monatelang die Köpfe darüber zerbrechen können. Zutiefst zufrieden rieb er die Hände aneinander. Nur Geduld, Atropos, es wird ein herrlicher Tag werden.
Und nun zum Geschäft.
Er drehte seinen hohen Stuhl zu den Geschworenen. „Ich bin verpflichtet, Ihnen folgende Eröffnung zu machen: Sie, die Geschworenen, haben für einen Fall einer Patentrechtsverletzung zu entscheiden. Der Anwalt des Klägers, Mr. Ordway – der Herr im Talar –, sitzt an dem Tisch, der Ihnen am nächsten ist, der Anwalt der Angeklagten, Mr. Thomas, am weiter entfernten. Zusätzlich sitzt eine schwarzgekleidete Person am Tisch der Angeklagten. Diese Person ist eine Optierende, und darauf werde ich gleich zu sprechen kommen.“
Er begutachtete den Gerichtssaal. Zum Bersten voll. Man konnte nur mit einer besonderen Karte hereinkommen. Er selbst war Zeuge gewesen, wie die Auswahlkriterien erstellt worden waren. Zuerst Repräsentanten von achtzehn Patentbüros. Dann die Vertreter der Handelsgesellschaften und schließlich noch zwei Dutzend amici curiae. Dann die technischen Vereinigungen: die ACS, AiChE, ASME … das ganze Geschmeiß, das Alphabet rauf und runter. NAM plädierte für die Einstellung weiterer Operationen, da die Erfindermaschine angeblich die nationale Ökonomie zerstörte. Das Justizministerium wollte alle Erfindungen zu öffentlichem Eigentum machen. Der Patentkommissionär hatte eine dreihundertseitige Studie erstellt. Er wußte, daß das Patentamt im Grunde genommen eine Verletzung seines eigenen Patents heraufbeschwor. Seltsam. Aber nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte. Und dann noch die Presse. Und die Kameraleute der Fernsehanstalten, die die ganze Angelegenheit einer Viertelmilliarde Menschen zugänglich machten.
Er fuhr fort. „Im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden etwa vierhundert Klagen wegen Patentrechtsverletzungen vor die Gerichte der Vereinigten Staaten gebracht. Bei jedem einzelnen dieser Patente konnte die Ungültigkeit nachgewiesen werden. In den meisten Fällen wurden die Kläger aufgefordert, die anfallenden Kosten zu übernehmen. Als Resultat darauf wurde im ersten Jahr des gegenwärtigen Jahrhunderts keine einzige Patentsache verhandelt. Tatsächlich ging die Zahl der eingetragenen Patente in den Patentbüros um mehr als fünfundneunzig Prozent zurück. Das Patentsystem, bis dato ein Eckstein im Gefüge der freien Marktwirtschaft, war tot.“
Quentin Thomas betrachtete die dreizehn Gesichter der Geschworenen, eingeschlossen das der Stellvertreterin, einer freundlich dreinblickenden Großmutter. Verstand einer von ihnen, was Speyer ihnen sagte? Unmöglich, das festzustellen. Sechs Männer. Sechs Frauen. Plus die Stellvertreterin. Arbeiter. Rentner. Hausfrauen. Diese schwangere Frau dort. Wie, um alles in der Welt, hatte sie nur auf die Geschworenenliste kommen können …
„Der Kongreß reagierte darauf“, fuhr der Richter fort, „indem er das Patentgesetz von 2002 erließ. Dieses neue Patentrecht war gekennzeichnet durch eine drastische Veränderung der vormaligen Statuten. Zunächst einmal ist der Angeklagte grundsätzlich einer Patentrechtsverletzung schuldig, bis er den Gegenbeweis erbringen kann. Außerdem ist Patentrechtsverletzung ein Kriminaldelikt; es wird mit der Todesstrafe geahndet.“
Plötzlich wurde lautes Murren im Saal laut, wie das Summen eines Schwarms lauter Insekten. Richter Speyer schlug mit dem Hammer auf die Bankoberfläche. Nachdem das Murmeln erstorben war, sprach er genüßlich weiter. „Ich will eine ordentliche Gerichtsverhandlung. Sollte ich zu der Überzeugung kommen, daß dies in diesem Rahmen unmöglich ist, werde ich das Publikum ausschließen lassen.“
Plötzlich wurde es still.
„Wie ich schon sagte“, fuhr er fort, „sieht das neue Patentrecht für den Hauptverantwortlichen der Rechtsübertretung die Todesstrafe vor. Es dürfte außer Frage stehen, daß der Kongreß damit den Direktor oder den Aufsichtsratsvorsitzenden einer Firma meinte. Aber im Laufe der Zeit kristallisierte sich heraus, daß die Todesstrafe abtretbar war. Der Direktor der Firma mußte lediglich jemanden finden, der bereit war, seine Todesstrafe zu übernehmen. Eine solche Person nennen wir Optierenden.“ Er betrachtete für kurze Zeit seine Unterlagen, danach hob er den Kopf und sah sich im Gerichtssaal um. „Mrs. Welles?“
Ellen Welles wollte sich erheben. „Nein“, flüsterte Thomas. „Sagen Sie einfach nur ‚Ja, Euer Ehren’ und beantworten Sie seine Fragen.“
Sie setzte sich nervös wieder. „Ja, Euer Ehren.“
„Sie sind die Optierende?“
„Ja.“
„Ihnen ist bekannt, daß Sie, sollte das Verfahren tatsächlich eine Rechtsverletzung enthüllen, eine Lösung von einem Gramm Kaliumzyanid in Wasser trinken müssen?“
„Das ist mir bekannt, Euer Ehren.“
„Wenn Sie schuldig gesprochen werden und sich weigern sollten, die Flüssigkeit zu trinken, so wird Ihnen das Zyankali gewaltsam injiziert werden. Ist Ihnen auch das bekannt?“
„Ja, Euer Ehren.“
„Nun denn“, sagte Speyer, „so müssen wir schließlich noch das Unschätzbare schätzen. Ich muß Sie daher fragen, ob Sie die für Ihr Erscheinen hier erforderliche Kaution ordnungsgemäß hinterlegt haben?“
„Das habe ich, Euer Ehren.“
„Diese Kaution besteht aus allen Anteilen von Welles Engineering Corporation?“
„Ja, Euer Ehren.“
„Sollten Sie nicht ordnungsgemäß hier erscheinen, so wird die gesamte Kaution beschlagnahmt. Sie müssen die Lösung dann trotzdem trinken, und sollte das auf Ihren Widerstand stoßen, so kann Ihnen ebenfalls gewaltsam Zyankali injiziert werden.“
„Ja.“
„Diese Verhandlung wird zwei, möglicherweise drei Tage dauern. Haben Sie noch so lange zu leben?“
„Das wurde mir von meinen Ärzten bestätigt, Euer Ehren.“
Er studierte das medizinische Gutachten, das den Unterlagen beigefügt war. Die Ärzte gaben ihr noch einen bis sechs Monate. Merkwürdige Sache. Sie mußte noch lange genug leben, damit er das Urteil verkünden konnte. Lange genug leben, um zu sterben. Interessantes Paradoxon. Er fragte sich, ob sie das auch so sah. Wahrscheinlich nicht. „Sie hinterlassen …“
„Eine Tochter, Euer Ehren. Dreizehn.“
„Ja. Ich sehe. Nun, damit sind Sie eine zulässige Optierende. Sie müssen jetzt während der Dauer der ganzen Verhandlung einen Kopfschutz tragen. Haben Sie einen eigenen, oder soll Ihnen der Kläger einen zur Verfügung stellen?“
Quentin Thomas gab ihr eine schwarze Mütze. „Ich habe eine eigene, Euer Ehren“, sagte sie. Sie zog die Larve wie eine Skimaske über den Kopf und sah aus halbverborgenen Augen zu Speyer empor.
„Dann beginnen wir“, sagte Speyer. Er sah hinüber zum Kläger. Der Kläger nickte. Speyer fuhr fort. „An dieser Stelle muß, nach den Regeln des Gerichts, der Test durchgeführt werden. Gerichtsdiener, sind Sie bereit für den Test?“
„Das bin ich, Euer Ehren.“
„So heben Sie Ihre rechte Hand.“
Der Gerichtsdiener hob die rechte Hand.
„Schwören Sie, den Test in bestem Wissen und streng in Übereinstimmung mit dem Gesetz durchzuführen?“
„Jawohl.“
„Dann beginnen Sie, und beschreiben Sie jeden Handgriff.“
„Ja, Euer Ehren.“ Er zog ein Paar Gummihandschuhe über, seine Stimme wurde zu einem monotonen Singsang. „Zuerst gebe ich acht Unzen Wasser in dieses Glas hier, danach nehme ich diese Balkenwaage, lege in eine Schale einen Gewichtsstein von einem Gramm und lege in die andere ein Filterpapier. Dann nehme ich diese braune Flasche, die chemisch reines Kaliumzyanid enthält, und schütte genug des Giftes auf das Filterpapier, um die Schalen ins Gleichgewicht zu bringen. Schließlich gebe ich das Pulver in das Glas Wasser und rühre mit einem Glasstab um, bis es vollständig aufgelöst ist.“
Aus dem Augenwinkel betrachtete Quentin Thomas die maskierte Frau. Er wußte, sie sah dem Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit zu, aber ihren Gesichtsausdruck konnte er nur erraten. War es Faszination? Furcht? Entsetzen?
„Das“, sagte der Gerichtsdiener, „war der erste Teil des Tests. Nun gieße ich ein wenig aus dem Glas in diese kleine Schüssel, die ich in wenigen Augenblicken in diesen Käfig hier stellen werde.“ Er deutete auf einen abgeschirmten Käfig neben sich. „In dem Käfig befindet sich eine Maus, die seit drei Tagen nichts mehr zu trinken bekam. Gemäß den Regeln des Gerichts wird eine Kamera im Inneren die Vorgänge auf einen Bildschirm übertragen.“ Die Lichter im Gerichtssaal erloschen, während an der der Richterbank gegenüberliegenden Wand ein Projektor in Aktion trat.
Das Bild zeigte ein Tier – eine Maus – in Überlebensgröße. Sie sahen, wie das Gefäß mit dem vergifteten Wasser durch einen Schlitz an der Vorderseite hineingeschoben wurde. Zuerst wich das kleine Geschöpf zurück, dann schnüffelte es in Richtung der Flüssigkeit. Im Gerichtssaal herrschte Totenstille. Langsam kroch die Maus vorwärts, furchtsam, hob ihren Kopf über den Rand des Schüsselchens, trank zwei, drei Tröpfchen, dann wich sie wieder zurück und verschied unter gräßlichen Zuckungen, wobei sie das Gefäß umschüttete.
Der Gerichtsdiener öffnete die Deckelklappe des Käfigs und hob das verendete Tier am Schwanz, den er vorsichtig zwischen behandschuhtem Daumen und Zeigefinder hielt, in die Höhe, damit es jeder sehen konnte. Dann zeigte er es zuerst deutlich dem Richter und schließlich den Geschworenen.
„Danke, Gerichtsdiener“, sagte Richter Speyer.
Quentin Thomas hatte diese Prozedur schon mehrmals erlebt. Damals wie heute wurde ihm fast übel dabei, bis zu dem Punkt, wo seine Hände zu zittern begannen. Aber nicht der Tod der Maus machte ihn so betroffen. Auch nicht die Möglichkeit, daß die Frau aus demselben Glas trinken mußte. Nein, was ihn immer wieder entsetzte, war der dünne Speichelfaden, der am Kinn von Richter Speyer hinabrann. Und die Art, wie Speyer Ellen Welles betrachtete. Als wäre Speyer eine Boa constrictor, die sich langsam um ein hypnotisiertes Kaninchen wand.
Langsam schien wieder Leben in den Raum einzukehren. Der Gerichtsdiener ließ das Tier in den Käfig zurückfallen, ging hinüber zu der chromumschlossenen Glasvitrine, die das Gift enthielt, drehte den Schlüssel um und stellte das Ganze auf die Richterbank neben den Wasserfarbenkasten. Dann schob er das Wägelchen mit dem Käfig aus dem Gerichtssaal hinaus. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, wandte Richter Speyer sich lächelnd den Geschworenen zu. „An dieser Stelle ist es üblich, darauf hinzuweisen, daß eine sterile Spritze direkt neben dem Wasserglas liegt.“
Dieser Bastard, dachte Quentin Thomas. Er starrt Ellen unverhüllt an!
„Die natürlich nur dann zum Einsatz kommt“, fuhr er fort, „wenn das Opfer sich weigert, aus dem Glas zu trinken. Und damit ist der Test abgeschlossen. Ich sehe, wir sind alle von der Feierlichkeit des Augenblicks beeindruckt. Wenden wir uns nun aber der Verhandlung zu. Irgendwelche Vorbehalte? Mr. Ordway?“
Ordway stand auf. „Nein, Euer Ehren.“
Der Verteidiger schob seinen Stuhl zurück, fuhr mit der Hand über seinen roten Talar und stand ebenfalls auf. „Euer Ehren, ich beantrage eine Vertagung dieses Verfahrens, bis der Oberste Gerichtshof im Fall Universal Patents gegen Williams entschieden hat. Wie Euer Ehren sich wahrscheinlich bewußt sind, ist Williams ein Fall, der dem vorliegenden sehr ähnelt. Im Fall Williams verlor der Angeklagte zwar, beantragte aber eine Aussetzung der Strafe durch das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht weigerte sich allerdings, den Angeklagten anzuhören, da das Patentrecht eine Strafaussetzung oder gar Aufhebung keinesfalls vorsieht. Daher brachte der Angeklagte eine Petition ein, in der er den Obersten Gerichtshof bat, genau zu prüfen, ob eine Verweigerung des Berufungsrechts nicht die gesamten Statuten des neuen Patentrechts ungesetzlich macht. Der gegenwärtige Stand der Dinge ist der, daß im Obersten Gerichtshof über diese Petition verhandelt wird und man ein Urteil in den kommenden Tagen erwartet. Wenn der Petition stattgegeben wird, und auch das erwartet man, so besteht die Möglichkeit, daß das Oberste Gericht bereits nächste Woche seine Entscheidung verkündet.“
„Mr. Ordway?“ sagte Speyer.
„Nun, Euer Ehren, selbstverständlich bin ich damit nicht einverstanden. Zunächst einmal gibt es keinen augenscheinlichen Beweis, daß die Petition tatsächlich dem Obersten Gericht vorliegt. Aber selbst wenn wir von dieser Mutmaßung ausgehen, so ist es doch nur reine Spekulation, ob das Oberste Gericht die neuen Patentstatuten für ungesetzlich erklären wird. Ich würde mit allem gebührenden Respekt eine solche Entscheidung auch als höchst unwahrscheinlich ansehen. Betrachtet man diese Aspekte, so scheint mir eine Vertagung nicht gerechtfertigt zu sein. Daher bin ich dagegen.“
„Fürs erste stimme ich mit Ihnen überein, Mr. Ordway. Ich lehne den Antrag der Verteidigung auf Vertagung ab. Ich will Ihnen aber zugestehen, Mr. Thomas, Ihren Antrag erneut vorbringen zu dürfen, wenn das Oberste Gericht in Sachen Universal Patents gegen Williams entschieden hat.“
„Dann könnte es bereits zu spät sein, Euer Ehren“, protestierte Thomas, dessen roter Talar wallte. „Es ist nur eine Frage von ein paar Tagen. Dieser Fall kann doch ganz bestimmt zwei oder drei Tage warten? Ich ersuche Euer Ehren um ein Überdenken der Sachlage.“
„So lassen Sie in die Aufzeichnungen eintragen, ich habe die Sachlage überdacht, allerdings ohne meine Entscheidung zu ändern“, sagte Richter Speyer kühl. „Ihr Antrag ist abgelehnt, Mr. Thomas.“
„Ja, Euer Ehren.“ Er setzte sich wieder. Er hatte nichts anderes erwartet.
„Und nun“, fuhr Richter Speyer fort, „möchte der Kläger ein Eröffnungsplädoyer halten?“
„Ja, Euer Ehren.“ Ordway schlang den grünen Talar mit einer eleganten Handbewegung um seinen Körper, dann erhob er sich und wandte sich an die Geschworenen. „Meine Damen und Herren, wie Richter Speyer bereits gesagt hat, handelt es sich hier um den Fall einer Patentrechtsverletzung. Durch Einreichung seiner Klage beim zuständigen Gericht hat mein Klient, Universal Patents, kundgetan, daß eines seiner Patente durch Welles Engineering Corporation verletzt wird. Gegenstand unseres Patents ist eine bemerkenswerte Kunststoffaser, bemerkenswert deswegen, weil sie für elektrischen Strom leitend ist. Die Welles Corporation stellt eine solche Faser her, die Fiber K genannt wird, und vertreibt sie auch. Und damit mißachtet sie unsere Patentrechte. Diese Behauptung ist korrigierbar. Ich meine damit, es ist an Welles, zu beweisen, daß sie das Patent nicht verletzen, daß es also ungültig ist.“ Er legte eine rhetorische Pause ein, um den Sitz der Angeklagten mit einem vielsagenden Blick zu bedenken. „Man hat einen brillanten Anwalt engagiert, Mr. Quentin Thomas, der sich große Mühe geben wird, Sie von der tatsächlichen Hinfälligkeit unseres Patents oder von der Nichtverletzung desselben oder von beidem zu überzeugen. Aber wir sind der felsenfesten Überzeugung, Sie alle werden bemerken, wie hinfällig seine Argumentation ist.“ Er senkte den Blick und hüstelte diskret. „Wie Richter Speyer Ihnen bereits mitgeteilt hat, werden Patentrechtsverletzungen mit der Todesstrafe geahndet. Verliert der Angeklagte, dann ist die Verhandlung abgeschlossen und die als Optierende fungierende Person wird vor unseren Augen sterben. Lassen Sie, meine Damen und Herren, Ihr Denken nicht von dieser Möglichkeit beeinflussen, besonders deshalb nicht, da Mrs. Welles unheilbar krank ist und in den kommenden Wochen ohnehin sterben muß. Vielen Dank.“ Er verbeugte sich vor den Geschworenen und Richter Speyer und setzte sich.
„Mr. Thomas?“ fragte Speyer.
„Kein Eröffnungsplädoyer, Euer Ehren.“
„Ausgezeichnet. Dann rufen Sie bitte Ihren ersten Zeugen.“
Der Verteidiger betrachtete das Gesichtermeer. „Ich rufe Ronald Flagman.“
Ein Mann unter den Zuschauern stand auf, drängte sich zum Korridor und durchquerte den Gerichtssaal in Richtung Zeugenstand, wo der Gerichtsdiener ihn vereidigte. Danach trat er in den Stand.
„Bitte nennen Sie uns Ihren Namen“, sagte Thomas.
„Ronald Flagman.“
„Welches ist Ihr derzeitiger Beruf?“
„Patentkommissionär beim Patentamt der Vereinigten Staaten.“
„Mr. Flagman, in Ihrer Eigenschaft als Angestellter des Patentamtes erhalten Sie Patentanträge aus aller Welt, ja?“
„Richtig.“
„Ich zeige Ihnen hier eine Kopie des ersten Beweisstücks des Klägers, das Patent Nr. 6005022, und ich möchte Sie bitten, uns den Namen des Erfinders zu nennen.“
„Auf der Patenturkunde steht: ‚Robert Morissey, durch seine Verwalter, Universal Patents.’“
„Wissen Sie, daß der tatsächliche Erfinder ein Computer mit Namen Faust ist?“
Ordway sprang auf, sein grüner Talar bebte. „Einspruch! Diese Frage impliziert mehrere Fakten, die nicht augenscheinlich sind, namentlich die Existenz von etwas, das Faust heißt, das Vermögen Fausts, Erfindungen machen zu können, die Frage, ob Faust tatsächlich die genannte Erfindung gemacht hat und nicht Mr. Morissey.“
Speyer sah von seinem Malkasten auf. „Stattgegeben.“
Quentin Thomas lächelte unmerklich. „Haben Sie jemals von etwas gehört, das Faust genannt wird?“
„Ja.“
„In welchem Zusammenhang?“
„Ich habe in Zeitungen und Artikeln in Fachzeitschriften darüber gelesen. Außerdem hörte ich Kommentare in Rundfunk und Fernsehen.“
„Beschreiben diese Berichte Faust als einen Erfindercomputer?“
„Einspruch“, sagte Ordway. „Beeinflussung.“
„Stattgegeben“, sagte Speyer.
„Mr. Flagman“, beharrte Thomas, „wie beschrieben diese Berichte Faust?“
„Einspruch. Gerüchte“, sagte Ordway.
„Was der Zeuge mit seinen eigenen Ohren gehört hat, kann er wiedergeben, Euer Ehren“, konterte Thomas. Dann fügte er noch aalglatt hinzu: „Ich will auch nicht auf die Wahrheit dessen hinaus, was er gehört hat, sondern lediglich auf die Tatsache, daß er es gehört hat.“ Wenn er das Gewünschte tatsächlich zu hören bekam, so wußte er bestimmt – und auch Ordway wußte das –, daß die Geschworenen diesen feinen Unterschied nicht zur Kenntnis nehmen würden.
„Einspruch abgelehnt“, sagte Speyer. „Sie dürfen antworten. Der Schreiber möge bitte die letzte Frage wiederholen.“
Ordway bedachte den lächelnden Quentin Thomas mit einem haßerfüllten Blick.
Der Schreiber hielt einen langen Papierstreifen von seiner Stenomaschine in die Höhe und las: „,Mr. Flagman, wie beschrieben diese Berichte Faust?’“
„Als einen Erfindercomputer“, antwortete der Patentkommissionär.
„Sagten die Berichte noch andere Dinge aus?“
„Ja. Den Berichten zufolge wurde Faust von Robert Morissey erbaut und hat heute eine große Zahl von Patenten inne.“
„Ist das auch Ihre Meinung, Mr. Flagman?“
„Einspruch“, sagte Ordway. „Bisher wurde nicht festgestellt, daß der Zeuge überhaupt über persönliches Wissen dieser Art verfügt. Außerdem stellt die Frage, so wie sie gestellt wurde, eine Beeinflussung dar.“
„Stattgegeben“, sagte Speyer.
„Mr. Flagman“, fuhr Thomas fort, „bekommt das Patentamt eine große Zahl von Patenten von Robert Morissey durch seine Verwalter, Universal Patents, eingereicht?“
„Ja.“
„Können Sie uns in groben Zügen erläutern, welche Prozeduren das Patentamt vornimmt, um die Patente auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, die es von Universal Patents bekommt.“
„Dieselben wie bei allen anderen Anträgen auch, Mr. Thomas.“
„Und die wären …?“
„Zuerst überprüfen unsere Beamten alle Anträge, um sicherzustellen, daß alle Unterlagen gemäß den Bestimmungen vorhanden sind: Erläuterung, Besitzansprüche, die Erklärung des Erfinders, die Erfindung auch selbst gemacht zu haben, Gebührenbescheide. Sind im Begleitbrief Skizzen erwähnt, überprüft unsere Eingangsabteilung Anzahl und Vollständigkeit.“
„Und weiter?“
„Dann wird der Antrag an unsere Klassifizierungsabteilung weitergegeben. Dort entscheiden technische Experten, welchem Technologiezweig die Erfindung zugerechnet werden muß. Zum Beispiel, hat es etwas mit Chemie, Landwirtschaft, Elektrizität und so weiter zu tun. Danach geht der Patentantrag an den entsprechenden Spezialistenausschuß zur weiteren Begutachtung.“
„Und was geschieht, wenn er beim ‚Spezialistenausschuß’ angekommen ist?“
„Dann wird er unterklassifiziert. Das bedeutet, der Antrag wird dem Patentprüfer übergeben, der sich mit der fraglichen Materie befaßt. Sagen wir einmal, das Patent geht in die Abteilung für Organische Chemie. Dort erfolgt wieder eine Unterteilung in verschiedene Spezialgebiete wie Polymere, Steroide, was auch immer. Der letzte Spezialist überprüft schließlich alles nochmals auf Herz und Nieren, bildlich gesprochen. Er übernimmt den Fall. Und er muß auch überprüfen, ob die eingereichte Erfindung tatsächlich neu ist.“
„Wie bewerkstelligt er das?“
„Da gibt es zwei Methoden: die Suche von Hand und die Suche mittels Maschinen. Er kann entweder beide oder auch nur eine zu Rate ziehen. Das wird ihm und seiner Diskretion überlassen.“
„Wie geht die Suche von Hand vonstatten?“
„Der Prüfer sieht alle betreffenden Aktenablagen durch. Wir nennen diese Aktenberge ‚Schuhe’. Manche dieser Ablagen sind außerordentlich umfangreich und gehen weit über das hinaus, was wir in den der Öffentlichkeit üblicherweise zugänglichen Speichern haben.“
„Und die Maschinensuche?“
„Die wird einfach von einem Computer erledigt. Der Prüfer kann mehrere Schlüsselworte eingeben, wie etwa ‚Polyamid’, ‚elektrische Leitfähigkeit’ und so fort, und dann abwarten, was der Computer dazu aus den Speichern zutage fördert.“
„Was findet denn im allgemeinen Eingang in die Datenspeicher des Patentamtes?“
„Oh, das Spektrum ist ausgesprochen breit. Wir haben Verbindungen zu allen Patentämtern der ganzen Welt. Außerdem werden alle wichtigen Zeitschriften archiviert.“
„Haben Sie schon Berichte über Fausts Datenbank gesehen?“
„Ja.“
„Wie schneidet der Computer des Patentamtes im Vergleich zur Speicherkapazität Fausts ab?“
Der Kommissionär zuckte die Achseln. „Darüber haben wir bereits Nachforschungen angestellt. Nach unseren Schätzungen können wir etwa ein Drittel der Technologie erfassen, und es dauert zehn Monate, bis wir das alles eingespeichert haben. Faust dagegen arbeitet ohne Zeitverlust.“
„Bitte erklären Sie das, Mr. Flagman.“
„Nun, das Budget für technische Magazine, das dem Patentamt zur Verfügung steht, erlaubt es uns, nur etwa ein Drittel aller Magazine zu archivieren, die Faust zugänglich sind.“
„Und was ist mit dem Zeitverlust? Wollen Sie damit sagen, das Patentamt benötigt zehn Monate, um Daten aus einem gegebenen Magazin in den Computer zu bekommen?“
„Ja. Das wird von einer Gruppe professioneller Programmierer erledigt. Sie lesen die Journale, transformieren alles, was ihnen wichtig erscheint, auf Magnetkarten und geben es von dort in die Computer der Datenspeicheranlage. Faust dagegen hat ein eingebautes Lesegerät. Er durchforscht die Literatur elektronisch und kann demzufolge augenblicklich an die Informationen gelangen.“
„Er, Mr. Flagman?“
„Ich habe bildlich gesprochen, Mr. Thomas.“
„Kann das Patentamt kein elektronisches Lesegerät installieren lassen?“
„Wir haben uns schon darum gekümmert. Aber so etwas kann man nicht einfach von der Stange kaufen. Ein Lesegerät, speziell entwickelt und entworfen für die Computer des Patentamtes, würde zehn Millionen Dollar kosten. Wir haben in den zurückliegenden Budgetforderungen immer wieder um dieses Geld nachgesucht, aber bisher konnte der Kongreß die Mittel dafür leider nicht zur Verfügung stellen.“
„In welchem Jahr wurde die erste Erfindung von Mr. Morissey zur Eintragung gebracht?“
„Wie unsere Aufzeichnungen zeigen, im Jahre 2003.“
„Unterzeichnete Mr. Morissey den Antrag selbst, oder tat dies sein Rechtsnachfolger, Mr. Kull?“
„Mr. Morissey unterzeichnete selbst.“
„Hatte er die Erfindung unter Zuhilfenahme von Faust gemacht?“
„Das weiß ich nicht.“
„Wann begann Mr. Kull damit, als Verwalter für Mr. Morissey zu unterzeichnen?“
Der Kommissionär durchforschte seine Unterlagen. „2005.“
„Wie viele Patentanträge unterschrieb Mr. Kull in diesem Jahr als Mr. Morisseys Verwalter?“
„Sechsundneunzig.“
„Und wie viele letztes Jahr?“
„Ungefähr zwanzigtausend.“
„Wie viele Patente wurden insgesamt im letzten Jahr beantragt?“
„Zwanzigtausendfünfhundert.“
„Zwanzigtausendfünfhundert. Also hat er insgesamt siebenundneunzig Prozent aller eingegangenen Patente des letzten Jahres unterschrieben?“
„Ja.“
„Mr. Flagman, hatten Sie Gelegenheit, sich mit anderen Patentämtern über diesen Punkt zu unterhalten? Damit meine ich, ist es auch bei anderen Patentämtern so, daß Universal Patents die meisten Patentanträge stellt, die registriert werden?“
„Ja. Es ist etwa überall dasselbe, zumindest in Ländern, die ein ähnliches Patentsystem haben.“ Er betrachtet seine Notizen. „In Japan werden 90 % aller Patentanträge von Universal Patents eingebracht, in Westdeutschland 95 Prozent, in England 94 Prozent …“
Ordway erhob sich. „Euer Ehren, ich erhebe gegen diese Art der Befragung Einspruch. Die Prozentzahlen der Patentanträge des Klägers in der ganzen Welt sind für den gegebenen Fall vollkommen irrelevant. Hier soll darüber entschieden werden, ob das Patent für Fiber K gültig ist und ob die Angeklagte es verletzt. Selbst wenn Universal Patents nächstes Jahr einhundert Prozent aller Patentanträge einbringen und damit im nächsten Jahr allein die Technologie kontrollieren würde, wäre das für den hier zu verhandelnden Fall ohne Bedeutung.“
„Einspruch stattgegeben“, stimmte Speyer zu. „Die Geschworenen werden angewiesen, die Fragen nach der prozentualen Beteiligung von Universal Patents an allen eingehenden Patentanträgen zu ignorieren.“
Quentin Thomas hob die Schultern ein wenig. Soviel also zur Monopolisierung des Patentwesens durch Universal Patents. Aber damit hatte er Flagmans Möglichkeiten bei weitem noch nicht erschöpft. Er sagte: „Mr. Flagman, hat das Patentamt im vorliegenden Fall eine Aktennotiz angelegt?“
„Jawohl.“
„Wer hat sie geschrieben?“
„Ich.“
„Haben Sie irgendwelche Vorschläge gemacht?“
„Ja, Sir.“
„Welcher Art?“
„Wir baten das Gericht, das Patent für ungültig zu erklären.“
„Ungültig? Aufgrund welcher Basis betrachtet denn das Patentamt eines seiner ordnungsgemäß eingetragenen Patente als ungültig?“
„Einspruch“, unterbrach Ordway. „Mr. Flagmans Antwort wird notwendigerweise schlußfolgernd und spekulativ sein.“
„Abgelehnt“, sagte Speyer. „Sie dürfen antworten, Mr. Flagman.“
„Das Patentamt beantragt schon seit Jahren, daß Patente von einem Computer, besonders von einem Computer auf der Programmbasis negativer Selektion, für ungültig erklärt werden.“
„Einspruch“, meldete sich Ordway wieder. „Die Frage setzt als Tatsache voraus, daß Faust als Maschine die Erfindungen gemacht hat und nicht Mr. Morissey.“
„Überhaupt nicht“, konterte Quentin Thomas. „Die Frage erstreckt sich einfach nur auf eine Prozedurfrage im Patentamt.“
„Einspruch abgelehnt“, sagte Speyer. „Sprechen Sie weiter, wenn Sie können.“
„Nun, bei der Behandlung computerassoziierter Erfindungen werden wir im Patentamt üblicherweise von zwei Entscheidungsmeilensteinen geleitet, die wir Morissey I und Morissey II nennen.“
„Vielleicht erklären Sie das doch besser der Reihe nach“, sagte Thomas. „Worum ging es bei Morissey I?“
„Darum, ob ein Patent aufgrund von Forschungen einer Maschine unter Verwendung negativer Selektion gewährt werden kann.“
„Erklären Sie ‚negative Selektion’.“
„Man könnte folgendes Beispiel nehmen: Angenommen, in der Literatur wird ein bestimmter Prozeß geschildert, der mit Methanol, Äthanol oder Butanol durchgeführt werden kann, während Propanol nicht erwähnt wird. Durch den Prozeß negativer Selektion wählt der Computer Propanol aus, das zwischen Äthanol und Butanol in der homologen Reihe der Alkanole liegt. Das ist die neue Erfindung des Computers, bei der der alte Prozeß belassen wird, aber mit Propanol abläuft. Das bezeichnet das Patentamt als negative Selektion.“
„Erfordert negative Selektion den abstrakten Akt des Erfindens?“
„Meiner Ansicht nach nicht.“
„Wurde die negative Selektion jemals gerichtlich behandelt?“
„Ja. Das nennen wir Morissey I. Es begann als Ex parte Morissey vor dem Patentausschuß im Jahre 2005. Das Gericht kam zu dem Schluß, daß negative Selektion nicht als ‚Erfinden’ angesehen werden konnte – aus rechtlichen Gründen. Der Antrag wurde abgelehnt. Universal Patents ging in Berufung, und die höhere Instanz widerlegte den ersten Beschluß mit dem Urteil, daß negative Selektion doch als Erfinden anzusehen sei. Dieses Urteil wurde 2006 verkündet. Zuerst wurde das Patentamt aufgefordert, eine Erfindung so zu betrachten, wie sie im Patentantrag definiert war, und nicht nach dem Gesichtspunkt, ob sie von einem Computer gemacht worden war oder direkt menschlicher Vorstellungskraft entsprang. Zum zweiten enthielt die Entscheidung den Zusatz, daß negative Selektion den Prozeß des Erfindens nicht auslöschen könne.“
„Hat das Patentamt jemals Patentanträge von Faust abgelehnt?“
„Ja, mehrmals.“
„Aus welchen Gründen?“
„Nun, nachdem uns mit Morissey I die Basis der negativen Selektion als Grund für eine Ablehnung entzogen worden war, gaben wir als Grund ‚Offensichtlichkeit’ an.“
„Was meinen Sie mit ‚Offensichtlichkeit’?“
„Damit beriefen wir uns auf die Statuten des neuen Patentrechts. Wenn der Unterschied zwischen einer Erfindung und der ihr am nächsten kommenden, bereits existierenden Erfindung nur so gering ist, daß ein Fachmann sie als offensichtliche Adaption erkennen kann, dann wird die Erfindung unpatentierbar.“
„Ein subjektives Urteil?“
„Ja.“
„Was geschah mit Fausts Patentanträgen, die abgelehnt wurden?“
„Universal Patents ließ etwa die Hälfte fallen. Mit der anderen Hälfte gingen sie in Berufung. In dreißig Prozent dieser Fälle bekamen sie nachträglich doch noch recht.“
„Wie verhalten sich diese Zahlen mit den Durchschnittswerten anderer Erfinder?“
„Ähnlich, aber Sie dürfen dabei die Tatsache nicht außer acht lassen, daß die anderen Erfinder zahlenmäßig weit hinter Universal Patents zurückbleiben.“
„Nun, Mr. Flagman, wie Sie vorhin selbst sagten, besitzt das Patentamt einen Computer, der imstande ist, eine Maschinensuche durchzuführen. Haben Sie jemals versucht, seine Kapazität zu erweitern?“
„Ja. Wir ließen ihn modifizieren, um ihn in einen Erfindercomputer umzuwandeln.“
„Wie haben Sie das bewerkstelligt?“
„Zum einen, indem wir ihn auf das Prinzip der negativen Selektion programmieren ließen.“
„Aber hatte das Gericht nicht bereits das Patentamt instruiert, Patente aufgrund negativer Selektion nicht mehr zurückzuweisen?“
„Ja, aber uns ging es um etwas anderes. Wir wollten demonstrieren, daß jeder irgendwie modifizierte Computer Erfindungen auf dem Prinzip der negativen Selektion machen kann, die Erfindung daher im Bereich des öffentlichen Rechts liegt und demzufolge nicht zum Gegenstand eines Monopolbestrebens werden kann.“
„Fahren Sie fort. Mit welchen Resultaten?“
„Wir hatten Probleme. Zuallererst hatte unsere Maschine, wie ich bereits erwähnte, nicht einen Bruchteil der Kapazitäten von Faust. In unserem Fall kam der Zeitverlust hinzu. Die Modifikationen erwiesen sich als unzureichend für unsere Zwecke. Um mit Faust konkurrieren zu können, hätten wir einen zweiten Faust benötigt, einen Zwillingsbruder. Die Kosten dafür aber liegen weit außerhalb dessen, was wir uns leisten können, selbst unter der Voraussetzung, wir hätten Mr. Morissey zur Verfügung gehabt, der ihn für uns hätte bauen können. Vor einigen Jahren haben wir die Modifikation wieder abgeschaltet. Der Hauptcomputer kann immer noch Routinenachforschungen durchführen, aber er erfindet nichts mehr.“
„Warum nicht?“
„Wegen Morissey II.“
„Was ist mit Morissey II?“
„Faust beantragte ein Patent für eine neue Legierung. Also durchforschte unsere neue Maschine die Literatur. Aber über die neue Legierung war nichts zu finden. Sie war also buchstäblich neu. Dann versuchten wir es mit dem Konzept der negativen Selektierung bei unserer Maschine. Wir vermuteten, daß auch Faust mit diesem Prinzip seine ‚Erfindung’ gemacht hatte, indem er eine Komponente zugefügt hatte, die in der originalen Legierung nicht enthalten gewesen war.“
„Fand Ihre Maschine das fehlende Metall?“
„Nein, sie scheiterte. Aber wir wiesen den Patentantrag trotzdem zurück. Aus dem Grund der Offensichtlichkeit.“
„Was geschah dann?“
„Universal Patents ging in Revision. Zuerst beim Berufungsrat des Patentamts. Dieser bestätigte die Ablehnung. Danach ging Universal Patents zum GGPF.“
„Dem Gericht für Gewohnheitsrecht und Patentfragen, ja. Was geschah dort?“ fragte Quentin Thomas.
„Sie hoben unser Urteil auf.“
„Aus welchen Gründen?“
„Nun, das ist die berühmte Entscheidung, von der ich zuvor schon sprach, Morissey II. Das Gericht sagte, da Faust die Legierung gefunden habe und unser Computer, obwohl er auf Erfinden programmiert war, sie nicht zusammenbringen könne, sei es offensichtlich, daß Faust – oder Morissey – entsprechende Begabungen oder Fähigkeiten habe. Daher gehörte die Legierung ihnen.“
„Also diente Ihre Maschine, die keinem Vergleich mit Faust standhielt, als Beweis gegen die Offensichtlichkeit von Fausts Erfindung?“
„Einspruch. Beeinflussung“, sagte Ordway.
„Abgelehnt“, sagte Speyer.
„So sahen wir im Patentamt die Angelegenheit“, bekräftigte der Kommissionär.
„Und deswegen haben Sie die Modifikation Ihres Computers abgeschaltet?“
„Exakt. Wir führten ihn einfach wieder zurück zu seiner normalen Untersuchungsfunktion.“
„Vielen Dank, Mr. Flagman. Ich habe keine weiteren Fragen mehr.“ Er ging an seinen Tisch zurück und bemerkte, wie Ellen Welles’ Augen ihn aus den Sehschlitzen heraus ansahen. Es gab nichts zu sagen. Hatte er Zweifel an der Gültigkeit des Fiber-K-Patents erwecken können und sei es nur bei einem einzigen Geschworenen? Schwer zu sagen.
„Und Sie, Mr. Ordway?“ fragte Speyer.
„Nur ein paar Fragen, Euer Ehren.“ Als er zum Podium hinüberging, zog er seinen Talar wie eine königliche Schleppe hinter sich her. „Mr. Flagman, hat der Computer des Patentamts eine Seele, ein Selbst, einen eigenen Verstand?“
„Nicht daß ich wüßte.“
„Er ist also lediglich ein Stück komplizierter, elektronischer Ausrüstung?“
„Ja.“
„Wie jeder Computer?“
„Soweit mir bekannt ist, ja.“
„Sie sagten vorhin, Sie hätten Berichte über einen Computer namens Faust gehört?“
„Ja.“
„Diese Berichte besagten, ein gewisser Robert Morissey sei der Erfinder von Faust?“
„Ja.“
„Man behauptet weiterhin von Faust, er habe Erfindungen getätigt, die in den Unterlagen des Patentamts diesem Robert Morissey zugeschrieben werden?“
„Davon habe ich gehört.“
„Als eine philosophische Frage, Mr. Flagman, die Beziehung zwischen Morissey und Faust betreffend: Wer ist der Erfinder der Erfindungen, die von Faust stammen?“
„Einspruch. Spekulation“, sagte Thomas.
„Ich erbitte Mr. Flagmans Urteil als das eines Experten für Erfindungen“, konterte Ordway. „Das hat mit Spekulation nichts zu tun.“
„Einspruch abgelehnt“, sagte Speyer. „Sie dürfen antworten, Mr. Flagman, aber Sie müssen die Gründe für Ihre Schlußfolgerungen angeben.“
„Was Morissey und Faust angeht, so ist Morissey der Erfinder; Faust ist nur eine Maschine, die von ihm erschaffen wurde. Wenn Faust spricht, dann spricht eigentlich Morissey.“
Verdammt, dachte Thomas. Alles den Bach hinunter. Er ignorierte Ordways triumphierendes, verzerrtes Lächeln.
„Das ist alles“, sagte Ordway.
„Noch Fragen, Mr. Thomas?“ erkundigte sich Speyer.
„Ja, Euer Ehren.“ Er wandte sich an den Zeugen. „Mr. Flagman, angenommen, Mr. Morissey wäre tot, aber sein Computer würde trotzdem weiter erfinden, wie es seiner Programmierung entspricht – ist Mr. Morissey dann auch als Erfinder dieser posthumen Erfindungen anzusehen?“
Ordway sprang auf. „Aber das sind nun wirklich Spekulationen, Euer Ehren. Ich erhebe Einspruch!“
„Ich erbitte Mr. Flagmans Urteil als das eines Experten für Erfindungen, um Mr. Ordways Worte zu verwenden“, wandte Quentin Thomas ein.
Speyer zuckte die Achseln. „Abgelehnt. Antworten Sie, wenn Sie können, Mr. Flagman.“
„Mr. Morissey wäre immer noch der Erfinder“, beharrte der Kommissionär.
Der Verteidiger ließ nicht locker. „Angenommen, Faust erfindet weiter. Jetzt sind zehn Jahre seit Morisseys Tod verstrichen. Niemand verändert etwas an Fausts Stromkreisen. Er ist immer noch so, wie ihn Morissey erschaffen hat. Kann man Morissey auch dann noch als Erfinder ansehen?“
„Ja. Aber natürlich würden die Eintragungen dann auf den Namen seiner Gesellschaft vorgenommen werden, seiner Rechtsnachfolger.“
„Und einhundert Jahre später, Mr. Flagman? Wer ist der Erfinder?“
„Morissey“, sagte der Beamte beharrlich.
„Tausend Jahre später?“
„Ich glaube, wir begeben uns da in ein sehr unklares Gebiet, Sir.“
„Dann versuchen wir eine Klärung, Mr. Flagman. Wird Morissey durch seinen Computer unsterblich?“
„Ich glaube nicht, daß ich diese Frage beantworten kann, Mr. Thomas.“
„Also existiert tatsächlich eine Trennlinie? Ein Zeitpunkt, an dem Morissey aufhört, der Erfinder zu sein, und Faust damit selbst zum Erfinder wird?“
„Möglich.“
„Können Sie mit Bestimmtheit sagen, daß dieser Punkt noch nicht erreicht war, als Faust das Patent für Fiber K beantragte?“
„Nein, das kann ich nicht.“
„Also ist Faust möglicherweise der einzig rechtmäßige Erfinder von Fiber K?“
„Ich weiß es nicht, Mr. Thomas, ich weiß es einfach nicht.“
„Ich bin mir über die Schwierigkeiten hier durchaus im klaren, Mr. Flagman. Begeben wir uns also wieder zurück auf rechtlich abgesicherten Boden. Wenn Faust tatsächlich der alleinige Erfinder wäre, Mr. Flagman – wäre dann das Patent gültig?“
„Nein, in diesem Fall wäre es ungültig. Der korrekte Erfinder muß genannt werden.“
„Vielen Dank, Mr. Flagman. Ich habe keine weiteren Fragen.“
„Mr. Ordway?“ fragte Speyer.
„Nein, Euer Ehren.“
„Dann können Sie gehen, Mr. Flagman“, sagte Speyer. „Nun werden wir, da es fast Mittagszeit ist, eine Pause einlegen. Das Gericht wird um dreizehn Uhr dreißig wieder zusammentreten.“
„Alles aufstehen!“ deklamierte der Gerichtsdiener. „Das ehrbare Gericht zieht sich zurück.“
Nachdem Speyer den Saal verlassen hatte, half Thomas Ellen Welles, die Maske abzunehmen.
„Was machen wir mit diesem Ding?“ fragte sie.
„Ich werde es in meinem Koffer verstauen“, sagte er ernst. „Sie werden sie wieder brauchen, wenn das Gericht erneut zusammentritt. Ist leider die Regel hier.“ Er zog seinen Talar aus und stopfte ihn gemeinsam mit der Maske in seinen Koffer.
„Und was jetzt?“ fragte sie.
„Essen wir eine Kleinigkeit.“
Ellen Welles starrte düster in ihre Suppentasse. „Ich glaube, der Einstand mit Flagman ist nicht besonders gut gelungen“, sagte sie.
„Nein“, pflichtete Quentin Thomas bei. „Aber der wußte auch nicht viel. Immerhin konnten wir die offizielle Position des Patentamts von ihm erfahren, wonach das Fiber-K-Patent ungültig ist.“
Sie schwieg.
„Uns bleibt nicht viel Zeit zum Essen“, sagte er. „Beeilen Sie sich lieber.“
„Ich bin nicht hungrig. Wen wollen Sie als nächsten Zeugen berufen?“
„Jethro Kull.“
Sie riß die Augen auf. „Sie meinen, den können Sie tatsächlich in den Zeugenstand bekommen?“
„Darauf können Sie Gift nehmen. Wir haben ihn bereits vorgeladen.“
„Das könnte interessant werden. Vielleicht sollte ich doch etwas essen.“ Sie tauchte den Löffel in die Brühe.
„Mr. Kull“, sagte Quentin Thomas, „wo sind Sie angestellt?“
Der untersetzte Mann sah ihn vom Zeugenstand herab an. „Bei Universal Patents.“
„In welcher Eigenschaft?“
„Präsident und Technischer Direktor.“
„Bringen Ihre Aufgaben Sie in Kontakt mit dem als Faust bezeichneten Erfindercomputer?“
„Ja.“
„In welcher Weise?“
„Unter anderem überwache ich Fausts Anwendung sowie anfallende Reparaturen und Wartungsdienste.“
„Bleiben wir doch einmal bei der Anwendung – bitte erklären Sie uns doch mit knappen Worten, was alles dazugehört.“
„Ich wähle die technische Literatur aus, die er zu lesen bekommt. Faust verarbeitet etwa vierzig weite Felder der modernen Technologie: Chemie, Elektronik, Bergbau, Metallurgie, Raumfahrt, und so weiter. Wir versorgen ihn mit allen ernsthaften Magazinen zu diesen Themen.“
„Abstrahieren Sie die für ihn?“
„O nein. Er liest sie alle direkt. Wir füttern sie in die Eingabe. Zack. Flipp, flipp flipp. Jede Seite, jede Zeile, jede Sprache.“
„Und was dann?“
„Dann erfindet er. Basierend auf der Summe der Technologien, die eingespeichert sind.“
„Mehrere Erfindungen täglich?“
Kull lachte. „Mr. Thomas, er stößt etwa tausend Erfindungen pro Tag aus.“
„So viele? Aber die werden nicht alle im Patentamt eingespeichert?“
„Nein. Er selektiert seinen Ausstoß. Er wählt die Erfindungen mit dem größten Wert für Gesellschaft und Industrie aus. Wenn eine Erfindung den Anschein großen Nutzens erweckt, dann gibt er sie an das Patentamt weiter.“
„Wie viele sind das?“
„Durchschnittlich etwa einhundert täglich.“
„Wie hoch sind denn die Gebühren, die das Patentamt für einen Eintrag erhebt?“
„Einhundert Dollar pro Eintragung.“
„Also kostet es Ihre Gesellschaft zehntausend Dollar täglich, nur um die nötigen Eintragungen vornehmen zu lassen?“
„Ja, Sir.“
„Über zwei Millionen jährlich?“
„Richtig.“
„Aber das bekommen Sie mit Ihren Lizenzen wieder herein?“
„Selbstverständlich.“
„Sie haben die Aussage des Patentkommissionärs gehört, nach der Morissey – oder Faust – in den vergangenen Jahren über neunzig Prozent aller Patente, die in den USA und anderen Ländern zur Eintragung kamen, für Universal Patents zur Eintragung bringen ließ. Sind von allen diesen Patenten Lizenzen erhältlich?“
„So ist es.“
„Hat Universal Patents damit also die Kontrolle über fast jeden einträglichen Wirtschaftszweig der Vereinigten Staaten erhalten?“
„Einspruch!“ Ordway war aufgesprungen und hatte seinen grünen Talar gerafft, als könne er so den Kontakt mit einer derart schmutzigen Unterstellung vermeiden. „Irrelevant!“
„Abgelehnt!“ sagte Speyer.
„Wir haben eine gewisse Kontrolle über bestimmte, begrenzte Gebiete“, gab Kull zögernd zu.
„Ist es nicht Tatsache, Mr. Kull, daß Ihr Patentnetz jede bedeutendere Erfindung abdeckt, die seit Fausts Inbetriebnahme in der Industrie getätigt wurde?“
„Jede? Davon weiß ich nichts.“
„Die meisten Erfindungen?“
Wieder sprang Ordway auf. „Euer Ehren, ich erhebe Einspruch. Die Beiträge von Universal Patents zur amerikanischen Industrie stehen hier nicht zur Debatte. Des weiteren erfordert die Art der Fragestellung eine Antwort, die notwendigerweise auf erheblichen Spekulationen des Zeugen basieren muß.“
„Euer Ehren“, sagte Quentin Thomas, „wir bemühen uns aufzuzeigen, daß der Kläger versucht, mit seinem Patentnetz eine Monopolstellung für alle grundlegenden Industriezweige zu bekommen. Das ist ein langfristiges Programm, das in sich selbst eine deutliche Verletzung des Shermanschen Antikartellgesetzes darstellt. Die gemachten Ausführungen sind Bestandteil der Verteidigung der Angeklagten, die aufzeigen soll: Auch wenn das Patent gültig ist und damit verletzt wurde, ist es doch nicht anerkennbar, da Gründe der öffentlichen Politik dagegen sprechen. Dem Kläger darf nicht gestattet werden, diese Frau zu töten, um die Vereinigten Staaten und letztendlich die ganze Welt in seinen Würgegriff zu bekommen!“
„Ich erhebe Einspruch gegen diese verleumderische Redeweise, Euer Ehren“, sagte Ordway eiskalt. „Ich erhebe zusätzlich Einspruch gegen die Art, Erfindungen, die sich im Eigentum des Klägers befinden und die mit dem zu verhandelnden Fall nicht das geringste zu tun haben, hier zu diskutieren. Sie sind für diesen Fall völlig irrelevant.“
„Ich gebe Ihrem Einspruch gegen Mr. Thomas’ letzte Frage statt“, sagte Speyer. Er wandte sich an den Verteidiger. „Also, Mr. Thomas, bitte verdrängen Sie die Weltverschwörung aus Ihren Gedanken. Wenden Sie sich wieder relevanteren Themen zu.“
Thomas wandte sich wieder an den Zeugen. „Mr. Kull, weigern sich Ihre Lizenznehmer gelegentlich, Ihren Lizenzbedingungen zu entsprechen?“
„Gerade Ihr Klient weigert sich entschieden, Mr. Thomas.“
Eine Woge nervösen Gelächters wurde unter den Zuhörern laut. Speyer brachte sie mit seinem Hammer zum Verstummen. „Bitte fahren Sie fort, Mr. Thomas.“
„Haben Sie jemals einen Lizenznehmer übernommen, der Ihre Forderungen nicht erfüllen konnte?“
„Einspruch!“ röhrte Ordway.
„Stattgegeben“, sagte Speyer. „Ich muß Sie verwarnen, Mr. Thomas. Ich möchte nicht, daß diese Verhandlung zu einer ad hominem Attacke gegen den Patentinhaber wird.“
„Selbstverständlich nicht, Euer Ehren. Tatsächlich habe ich größte Hochachtung vor dem Patentinhaber, Mr. Robert Morissey.“ Er wandte sich wieder an den Zeugen. „Mr. Kull, warum ist Mr. Morissey heute nicht anwesend?“
„Weil er sich derzeit in einer Nervenheilanstalt aufhält. Er ist geisteskrank.“
„Und trotzdem produziert er hundert Patente täglich?“
„Ja.“
„Sein Geisteszustand scheint seine Erfindergabe kaum zu beeinflussen.“
„Nun, Mr. Thomas, ich glaube, Sie kennen die Geschichte. Er erfand Faust, und dann wurde er verrückt. Die Kapazität seines Erfindercomputers wurde vor seinem geistigen Kollaps geschaffen.“
„Wurde ein Rechtsnachfolger für ihn benannt?“
„Ja, Sir.“
„Wer?“
„Ich selbst.“
„Wer bekommt das Geld für die Patente?“
„Das wird selbstverständlich einer Stiftung für Robert Morissey übergeben.“
„Diese Stiftung ist …?“
„Universal Patents.“
„Und wer kontrolliert die Stiftung?“
„Einspruch!“ rief Ordway.
„Stattgegeben“, entschied Speyer. „Mr. Thomas, Einkommen aus anderen Patenten haben nichts mit der Verletzung oder Ungültigkeit des Fiber-K-Patents zu tun. Das ganze Verhör ist irrelevant. Sie vergeuden die Zeit des Gerichts.“
Also mußte er das Thema von einer anderen Richtung angehen. „Mr. Kull, entspricht es Ihrer Aussage, zu behaupten, Faust liest die Literatur und versorgt Sie dann hinterher mit Erfindungen?“
„Manche Erfindungen werden auf diese Weise gemacht. Für andere benötigt er Experimente.“
„In einem Laboratorium?“
„In gewisser Weise, ja. Faust selbst hat mehrere Laboratorien in sich.“
„Chemisch? Elektronisch?“
„Beides. Faust enthält ein verkleinertes chemisches Labor, das mit der Standardausrüstung eines jeden Labors versehen ist, plus mehrere tausend chemische Reagenzien. Seine chemischen Erfindungen werden immer zuerst in diesem Labor getestet, bevor er das Patent beantragt. Und da er für jeden Test nur ein paar hundert Moleküle benötigt, dauert ein einzelner Test auch kaum eine Mikrosekunde. Faust kann ein chemisches Forschungsprogramm, das in einem konventionellen Labor Jahrzehnte beanspruchen würde, in wenigen Minuten durchführen.“
„Enthält er sonst noch etwas, Mr. Kull?“
„Faust hat einen kleinen Schmelzofen plus einen Vorrat von tausenderlei Metallen und Legierungen. Er hat ein permutatives elektronisches Kopplungssystem, das eine fast unendliche Vielzahl von Stromkreisen schaffen kann. Er produziert sein eigenes Papier aus der Luft, selbstverständlich auf Kohlendioxidbasis. Und er hat neben verschiedenen anderen Hilfsmitteln einen kleinen Kernreaktor.“
„Und Sie behaupten immer noch, Mr. Kull, diese ganzen Arbeiten, die Experimente, die Ideen zu allen Erfindungen, stammen von einem Mann im Irrenhaus?“
„Ja, Sir, da Mr. Morissey Faust gebaut hat.“
Das führte zu nichts. Er mußte etwas anderes versuchen. „Mr. Kull, Sie hörten Mr. Flagmans Aussage, nach der Faust im letzten Jahr etwa zwanzigtausend Patente in den Vereinigten Staaten beantragte. Erinnern Sie sich?“
„Ja, es waren etwa zwanzigtausend.“
„Aber wir haben keine Zahlen für dieses Jahr. Sagen wir mal, für die ersten sechs Monate. Können Sie uns die nennen?“
Kull zögerte. Quentin Thomas bemerkte, daß der große Mann plötzlich unbehaglich dreinblickte. Aha, dachte er. Hier liegt meine Chance! Endlich!
„Er beantragte etwa fünftausend.“
Aber das, dachte Thomas, war nur die Quote für ein Vierteljahr. Februar, März, April. Sein Herz machte einen Sprung. Das war’s! „Wann hörte Faust auf zu erfinden?“ fragte er ganz leise.
Kull wand sich im Zeugenstand und warf Ordway einen flehenden, um Beistand heischenden Blick zu. Aber Ordway schien völlig in seine Unterlagen vertieft zu sein.
„Ich erinnere mich nicht mehr genau“, sagte Kull schließlich.
„Vielleicht nicht genau. Aber Faust hat im Juni keine Patente beantragt, richtig?“
„Ja, ich glaube schon.“
„Und auch im Mai nicht. Und im April, wenn überhaupt, nur ganz wenige?“
„Das ist korrekt.“
„Warum nicht, Mr. Kull? Haben Sie ihn abgeschaltet?“
„Nein, Mr. Thomas, wir haben ihn nicht abgeschaltet.“
„Erklärte Faust seine Inaktivität Ihnen gegenüber?“
„In gewisser Weise.“
„Was genau sagte er?“
„Das ergibt keinen Sinn.“
„Lassen Sie das die Geschworenen entscheiden. Was sagte er?“
„Faust behauptet, mit dem Erfinden im Feld der industriellen Technologie fertig zu sein. Er sagte, er wolle sich anderen Dingen zuwenden.“
„Welchen anderen Dingen?“
„Fünf Dingen“, sagte Kull ausweichend.
„Bitte, zählen Sie sie auf, Mr. Kull.“
„Nun, zuerst der Heilung verschiedener Krankheiten. Dann möchte er die Größe verschiedener Objekte verändern. Drittens will er sich um den Transport von Dingen kümmern. Viertes Unterfangen ist Projektion der Zukunft in die Gegenwart. Als fünftes möchte er die telekinetische Kontrolle über bestimmte chemische Vorgänge erringen.“
Quentin Thomas mußte eine Pause einlegen, um das zu verarbeiten. Sprach Kull im Ernst? Der Präsident und Technische Direktor von UP schien todernst zu sein, und irgendwie war es ihm offenbar unangenehm, diese Dinge über seinen Erfindercomputer in aller Öffentlichkeit vor Gericht preisgeben zu müssen. „Hat Faust irgendeines dieser neuen Projekte demonstriert?“
„Nein, natürlich nicht. Ich sagte Ihnen doch, das alles ergibt keinen Sinn.“
„Ich habe keine Fragen mehr“, beendete Thomas das Verhör.
„Mr. Ordway?“ fragte Speyer.
„Nein, Euer Ehren.“
„Dann können Sie gehen, Mr. Kull“, fuhr Speyer fort. „Und damit können wir uns auch, glaube ich, für das Wochenende zurückziehen.“
„Euer Ehren“, sagte Thomas.
„Ja?“ antwortete Speyer ungeduldig.
„Nur noch eines, Euer Ehren. Die Verteidigung würde gerne Mr. Robert Morissey verhören, wenn er aufzufinden ist. Wir gehen davon aus, daß Mr. Kull als sein Rechtsnachfolger weiß, wo er sich befindet. Da Mr. Kull sich augenblicklich gerade im Gerichtssaal aufhält, möchte ich das Hohe Gericht bitten, ihn aufzufordern, Mr. Morissey herbeizuschaffen.“
Ordway runzelte die Stirn. „Euer Ehren, wie mir bekannt ist, ist Mr. Morissey nicht nur geistig defekt, sondern auch schwer an einem Herzleiden erkrankt. Es könnte fatale Folgen haben, ihn zu transportieren. Ist es nicht so, Mr. Kull?“
Kull blickte etwas überrascht drein, erholte sich aber rasch wieder. „Herzleiden? Ja, das ist richtig. Ein Transport wäre sehr risikoreich.“
Speyer dachte darüber nach. Dann wandte er sich an Kull. „Wissen Sie wirklich alles über Robert Morissey?“
„Ja, Euer Ehren.“
„Und er ist tatsächlich so krank, daß er nicht transportfähig ist?“
„Soweit mir bekannt ist, ja, Euer Ehren.“
„Dann erbringen Sie ein diesbezügliches medizinisches Gutachten. Andernfalls erwarte ich von Ihnen, daß Sie Mr. Morissey mitbringen.“
„Ja, Euer Ehren.“
Später, als Quentin Thomas und Ellen Welles unter dem Vordach des Gerichtsgebäudes standen, beobachteten sie Kull und Ordway in einer hitzigen Diskussion. Wie sie weiter beobachteten, trennten die beiden Männer sich schließlich, und jeder bestieg ein Fahrzeug, das sich bald im Verkehrsstrom verlor.
Sie wissen beide, daß Robert Morissey bei klarem Verstand und vollkommen gesund ist, dachte Thomas. Herzleiden? Ha! Aber mit den Geldmitteln, die Universal Patents zur Verfügung standen, konnten sie wahrscheinlich fünfzig Ärzte finden, die sich zum Ausstellen eines Gutachtens bestechen ließen. Thomas schnitt eine Grimasse. Er wußte nicht, ob er angeekelt oder belustigt sein sollte. „Gehen wir essen“, sagte er zu Ellen Welles.
„Du solltest sie sehen, Atropos. Vielleicht bringe ich dir am Montag ihr Bild mit. Ich kann dir versichern, mit dieser Maske und den schwarzen Kleidern sieht sie einer Fliege sehr ähnlich. Und da wir gerade davon sprechen, Madame …“
Der Richter schob mit Hilfe einer Pinzette eine protestierende Fliege durch das Fütterloch des Terrariums. Ihre ersten, panischen Flügelschläge führten sie direkt in das wartende Netz. Atropos, im Zentrum des Netzes, erkannte die Natur ihrer Mahlzeit sofort anhand der elektrischen Ströme, die durch die Seidenfäden flossen. Blitzschnell hangelte sie sich über die Retikel und umspann ihr sich wehrendes Opfer mit einem seidenen Leichentuch. Als das geschehen war, biß sie der Fliege in den Kopf und begann unverzüglich, das sterbende Geschöpf auszusaugen.
Speyer sah fasziniert zu.
Plötzlich wurde ein ärgerliches Zischeln und Summen aus den Dutzenden verhüllter Käfige laut, die in den Regalen des Studierzimmers standen. Ein Lächeln huschte über die Züge des Richters. „Ah, meine Kinderchen, ich komme.“ Er ging hinüber zum Brutkasten, in dem er die Fliegen züchtete. „Geduld, meine Lieblinge. Es ist genug für alle da.“
Es war acht Uhr abends, und sie saßen gerade über ihren Kaffeetassen in einem Restaurant in der Nähe des Gerichtsgebäudes.
„Sie haben noch gar nicht gefragt, wie wir heute nachmittag abgeschnitten haben.“
„Nein“, sagte Ellen Welles. „Wie haben wir abgeschnitten?“
„Nicht so gut.“
Sie erwiderte nichts.
„Es liegt an den neuen Patentstatuten und dem rechtlichen Gerangel, das sich darum entwickelt hat“, sagte er weiter. „Seit dem Mittelalter gab es nichts Vergleichbares mehr. Die Medici und Borgias würden sich wahrscheinlich bei einer modernen Patentrechtsverhandlung ausgesprochen wohlfühlen.“
„Gab es denn in diesen Tagen bereits Patente?“
„Oh, gewiß doch. Natürlich hatten ihre Patente mehr den Charakter von Handelsmonopolen. Sie beinhalteten nicht notwendigerweise Erfindungen. Das kam erst später. Aber im Florenz des Jahres 1450 konnte ein Stadtrat einem bevorzugten Kaufmann beispielsweise das Monopol auf die Herstellung von Schießbaumwolle oder Kerzen oder Brokat geben. Hätte ein anderer danach versucht, in Florenz Kerzen herzustellen, so hätte er das Patent verletzt. Das war ein Verbrechen, für das er hingerichtet werden konnte. In Florenz war die Standardstrafe für Patentverletzungen das Erdrosseln. In Milano wurde mittels Musketen exekutiert, die jeweils verschieden geladen wurden, je nachdem, ob der Täter ein Christ, ein Jude oder ein Moslem war. In Rom wurde vorzugsweise gehängt. Und in Genua schlugen sie dem Täter den Kopf ab.“
„Und in Venedig?“ fragte sie.
Plötzlich bereute er seine kleine Geschichtslektion. Irgendwie hatte er sich selbst hineingeritten. „Gift“, sagte er mit Grabesstimme. „In Venedig ließen sie den Täter Gift trinken.“
Doch sie lächelte ihm unbefangen zu.
„Kommen Sie“, sagte sie. „Ich fahre Sie nach Hause.“
Spät in der Nacht schritt Quentin Thomas mit auf dem Rücken verschränkten Armen in einem Zimmer seines Apartments auf und ab. Er mußte Morissey finden und in den Zeugenstand beordern. Und zwar schnell. Er hatte nur das Wochenende zur Verfügung. Samstag und Sonntag. Aber noch nicht einmal Kodex 9 wußte, wo Morissey sich befand. Kull wußte es. Ordway wußte es. Aber die würden Morissey ganz bestimmt nicht mitbringen. Sie würden mit einem gefälschten Gutachten aufwarten, demzufolge der große Erfinder nicht transportfähig war.
Blieb Faust. Wußte Faust Bescheid? Würde Faust darauf drängen, seinen Erfinder zu suchen, ohne selbst diesbezügliche Schritte zu unternehmen?
Irgend etwas übersah er. Irgendwo waren in der Unzahl von Spielen und Rätseln, die Faust herstellte, auch noch andere Hinweise versteckt. Straßenkarten? Mit einem X an der entsprechenden Stelle? Ein einfacher Hinweis? Nein, Faust würde keine Entlarvung durch etwas so Offensichtliches riskieren. Universal Patents wartete wahrscheinlich nur auf so etwas. Sie könnten das betreffende Produkt ganz einfach vom Markt nehmen. Nein, etwas viel Subtileres. Sehr viel subtiler.
Aber wo beginnen? Keine Ahnung. Er mußte sich entspannen, seinem Geist freien Lauf lassen. Vielleicht würde ihm etwas einfallen. Er ging in sein Kunstzimmer, setzte sich direkt vor die „Leinwand“, stülpte die Schädelkappe über den Kopf und begann mit dem Entspannungsprozeß. Er war wirklich besonders erregt, denn es dauerte fast fünf Minuten, bevor er seine Imagination einsetzen konnte. Er hatte das hier schon oft getan, und trotzdem staunte er immer wieder. Gedankenmalerei. Zuerst dachte man an ein Bild, wie etwa van Goghs Straße nach Arles. Die Kappe griff die Alpha-, Beta-, und Gammawellen des cerebralen Kortex auf. Diese wurden dekodiert, passierten einen Scanner und wurden in elektrische Impulse umgewandelt, die die präparierte Leinwand pigmentierten. Nun war die Leinwand mit Millionen und Abermillionen winzigster Farbtupfer übersät, kleinste Fleckchen, die aus noch kleineren Teilfleckchen farbigen Harzes bestanden: Blau, Gelb, Rot plus Schwarz und Weiß, aber alle unter einer Schicht Firnislack verborgen. Die Impulse seines Gehirns beeinflußten diese Fleckchen und bewegten sie so lange, bis die Lackschicht abschmolz und die Farbe auf die Leinwand zauberte. Wenn sich dazu viele tausend anderer Fleckchen gesellten, ergab das Ganze schließlich ein farbiges Bild.
Aber was sollte er heute gedankenmalen? Er wußte es nicht. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er überdachte die Ereignisse des ersten Verhandlungstages. Aber der Gerichtssaal verblaßte schon bald, wurde zuerst verschwommen, dann ganz unkenntlich. Szenen aus seiner Kindheit überlagerten das Bild. Die Frontseite der Jugendherberge. Dort war er schwimmen gegangen. War das das Gesuchte, nach dem er Ausschau hielt? Nein, er würde den Rekorder noch nicht einschalten. Er sah keinen Sinn darin, die weiße Ziegelwand der Jugendherberge in Springfield zu zeichnen. Weiter. Nun tauchte ein anderes Gebäude auf. Wieder mit weißen Steinen gemauert. Er schloß die Augen und entspannte sich total. An diese Struktur erinnerte er sich nicht. Interessant. Im Hintergrund erstreckte sich eine langgezogene, flache Hügelkette. Plötzlich begann sein Herz schneller zu schlagen. Denn da war etwas, an das er sich durchaus erinnern konnte. In dieser Szene ging die Sonne gerade unter, und ihre letzten Strahlen beleuchteten Klippen im Zentrum des Panoramas. Er kannte diese Felsformation. Es war das Antlitz von Stony Man, einer Klippenformation im Shenandoah-Nationalpark in Nordvirginia. In seiner Jugend war er viele Male den steinigen Pfad zum Stony Man hochgeklettert.
Das Gebäude, das sein Unterbewußtsein ihm zeigen wollte, lag im Shenandoahtal, nicht allzu weit von Washington D.C. entfernt. Er konnte den Standort genau ausmachen.
Aber – weshalb sollte er sich für dieses Gebäude speziell interessieren?
Er ließ seinen Verstand zu der weißen Wand zurückwandern. Das Haus hatte zwei Stockwerke und machte einen friedlichen Eindruck. Davor ein grüner Rasen, Blumenbeete. Alles sorgfältig gepflegt. Ein heller Waschbetonweg führte zur Straße und wieder zurück.
Und plötzlich fielen ihm die Besonderheiten auf. Ein Schild am Eingang sprang ihm in die Augen: „ZUTRITT VERBOTEN“. Auch eine eingehendere Untersuchung der Fenster ergab Merkwürdiges: Sie waren vergittert. Und über dem Gitter waren rechteckige elektrische Anschlüsse zu sehen.
Warum? Um jemanden im Innern festzuhalten? Um die Öffentlichkeit fernzuhalten? Oder gar beides?
Nun bemerkte er zum erstenmal noch eine weitere Besonderheit. Am unteren, rechten Ende der Leinwand stand deutlich geschrieben: „Copyright 2008, Universal Patents.“
Natürlich! Mit pochendem Herzen drückte er den Aufzeichnungsknopf. Das Bild wurde augenblicklich fest auf der Leinwand fixiert. Fast hätte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Das Geheimnis von Morisseys Aufenthaltsort war die ganze Zeit um ihn gewesen. Eine neue Botschaft von Faust.
Er zog die Schädelkappe ab und sprang auf. Es war mittlerweile früh am Samstagmorgen. Er durfte keinen Augenblick verlieren. Er rannte hinüber zum Interkom und rief die Penthousegarage. „Eddie!“
Eine verschlafene Stimme antwortete.
„Ja, Sir, Mr. Thomas?“
„Machen Sie den Chamäleon fertig. Ich bin schon unterwegs zum Fahrstuhl.“
„Jawohl. Okay, Mr. Thomas.“
Das kleine Fahrzeug erwartete ihn bereits, als er das Dach betrat. Die Antigravs waren vorgewärmt und summten in wunderbarer Harmonie. Er gab dem Wärter einen Schein und duckte sich unter der Tür.
Unterwegs, hoch über der Stadt, tippte er die Koordinaten der Shenandoah-Route ein, worauf das kleine Schiff rasch durch die Nacht schwebte.
Nun war es an der Zeit, die Situation zu überdenken. Wenn Robert Morissey tatsächlich in diesem Gebäude gefangengehalten wurde – wer mochte dann heute abend bei ihm sein? Natürlich Kull. Daher waren Kull und Ordway getrennte Wege gegangen. Daher hatten Kull und Ordway direkt im Anschluß an die Verhandlung diese ernsthafte Diskussion geführt. Sie hatten beratschlagt, was sie mit Robert Morissey tun sollten.
Hatten sie ihn etwa bereits beseitigen lassen?
Die Tatsache, die ihm schon seit der Übernahme des Falles Unbehagen bereitete, traf ihn nun wie ein Schlag zwischen die Augen: die unglaubliche Macht von Universal Patents. Sie hatten die ganze industrielle Welt buchstäblich in ihren Händen. Hunderte Milliarden Dollars standen auf dem Spiel. Ihnen würde ein Mord oder zwei nichts ausmachen. Es war überhaupt ein Wunder, daß Robert Morissey so lange hatte überleben können. Und vor allen Dingen, daß er noch lebte!
Sobald er den dichten Verkehr der Stadt hinter sich gelassen hatte, griff er zum Kommunikator. „Kodex 9.“
„Hier Kodex 9, Mr. Thomas.“
„Manuel Ordway. O-R-D-W-A-Y, Generalanwalt von Universal Patents, hat eine persönliche, geheime Leitung. Wieviel?“
„Ordway, der UP in Sachen UP gegen Welles vertritt?“
Thomas seufzte. Der Preis hatte sich gerade verdoppelt. „Ja.“
„Dreihunderttausend Dollar.“
„Zu hoch.“
„Mr. Thomas, Sie dürfen nicht vergessen, die Preisgabe dieser Information ist ein strafrechtliches Delikt.“ Die Stimme bekam einen wehleidigen Unterton. „Unsere Kontaktleute bei den Telefongesellschaften haben gerade ihre Bestechungsgelder erhöht, und wir müssen die Teuerung weitergeben, wenn wir im Geschäft bleiben wollen. Und dann haben wir noch das Risiko, Bestechungsgelder an die Richter zahlen zu müssen, wenn man uns auf die Schliche kommt, hinzu kommen die Steuern. Wir leben in inflationären Zeiten, Mr. Thomas.“
„Vor einem Monat lag der Satz noch bei hundertfünfzigtausend.“
„Und nun liegt er eben bei dreihunderttausend. Sie haben die Wahl, Mr. Thomas.“
„Geben Sie mir noch einen Stimmabdruck von Ordway dazu, dann akzeptiere ich.“
„Aha, Sie wollen also Mr. Ordways Stimme über seine eigene Geheimleitung nachahmen? Der Stimmabdruck wird zusätzlich fünfundzwanzigtausend Dollar kosten. Alles in allem also dreihundertfünfundzwanzigtausend Dollar.“
Er stöhnte laut. „Abgemacht. Dreifünfundzwanzig.“
„Vorauskasse, wie üblich“, sagte die körperlose Stimme kühl.
„Natürlich“, knurrte Thomas grimmig. „Hier ist die Überweisung.“ Er tippte die Buchung ein.
„Die Geheimnummer ist 5316189“, meldete sich die Stimme. „Ist Ihr Modifikator bereit?“
„Das ist er.“
„Fein. Hier kommt Ordways Stimmabdruck. Bitte beachten Sie die Intervalle zwischen den Worten. So argumentiert er auch immer vor Gericht. Eine perfekte Imitation. Sehr überzeugend. Ende der Übertragung. Haben Sie alles, Mr. Thomas?“
„Alles klar.“
Nachdem er ausgeschaltet hatte, bedachte er Kodex 9 mit ein paar bitteren Flüchen, gleichzeitig aber auch mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Kodex 9: Service für Anwälte. Alle möglichen Dienstleistungen. Zu allen möglichen Preisen. Kodex 9 konnte über Nacht Zweitschlüssel zu allen Safes anfertigen. Sie konnten binnen achtundvierzig Stunden die Kombination jedes Tresors im Lande herausbekommen. Sie fälschten Pässe, Führerscheine und Fahrzeugkennzeichen. Sie kannten ständig den genauen Kontostand jedes Anwalts. Viele Anwälte waren schon ihres Amtes enthoben worden, nur weil sie sich von Kodex 9 einen Wetterbericht hatten durchgeben lassen. Kodex 9 war ein so gutgehendes Geschäft, daß er sich wunderte, warum Universal Patents es nicht schon längst aufgekauft hatte.
Aber es gab etwas, das auch Kodex 9 nicht wußte – es sei denn, sie hätten es in den zurückliegenden Stunden erfahren. Er griff wieder nach seinem Kommunikator. „Kodex 9?“
„Ja, Mr. Thomas?“
„Kennen Sie den Aufenthaltsort von Robert Morissey?“
„Nein, immer noch nicht. Sollen wir Sie informieren, wenn wir ihn in Erfahrung bringen können?“
„Nein, spielt keine Rolle mehr.“ Er schaltete ab. Kaum hatte er das getan, da begann sein Verkehrsfunk zu pfeifen.
Er schaltete ein. „Ja?“
„QT/701?“
„Ja, hier.“
„Hier ist die Verkehrsaufsichtsbehörde von Shenandoah. Wir müssen Sie vor einem Lastfahrzeug warnen, das etwa drei Kilometer vor ihnen schwebt. Es befindet sich auf Ihrem Flugschema. Sehen Sie es auf Ihrem Bildschirm?“
„Ja. Es wird gerade eben sichtbar.“
„Das andere Fahrzeug befindet sich auf Höhe fünfzehntausend“, fuhr die monotone Stimme fort. „Da Sie das schnellere Fahrzeug sind, heben wir Sie hoch auf siebzehn fünf. Erbitten Einverständnis.“
„Einverstanden. Handelt es sich um ein Handelsfahrzeug?“
„Wir können Ihnen keine weiteren Informationen geben. Ende.“
Das war merkwürdig. Er mußte es auf jeden Fall wissen.
Also zurück zu seinem treuesten Freund. „Kodex 9.“
„Hier, Mr. Thomas.“
„In meiner Fluglinie befindet sich ein Fahrzeug. Es bewegt sich in Richtung Shenandoahtal, etwas westlich von der Kleinstadt Luray, Virginia. Welche Fracht?“
Pause. „Fünfundzwanzigtausend Dollar, Mr. Thomas.“
Er verbarg seine Überraschung.
Da meldete Kodex 9 sich wieder. „Vielleicht fragen Sie sich, weshalb so billig?“
„Dieser Gedanke kam mir soeben.“
„Weil wir nicht für den Inhalt garantieren können. Wir können bestenfalls eine Wahrscheinlichkeit angeben. Wollen Sie die Information trotzdem?“
„Ja. Hier ist die Überweisung.“
„Wie Sie vielleicht wissen, handelt es sich um einen Handelslieferwagen herkömmlicher Bauart. Zuletzt hielt er bei Earth Excavators in Jessup, Maryland. Dort wurde etwas von geringer Größe eingeladen, zusätzlich ein Passagier, offensichtlich ein Techniker.“
Seine Gedanken rasten. Also ein Gerät zum Erdeausheben, klein genug, um in einem Lieferwagen Platz zu finden. Das konnte nur eines sein – eine Maschine zum Ausheben von Gräbern.
Seine Kehle war wie zugeschnürt. „Kodex 9?“
„Ja, Mr. Thomas?“
„Ich möchte, daß Sie in diesen Lieferwagen andere Zielkoordinaten einspeichern.“
„Das können wir nicht, wie Ihnen sehr wohl bekannt ist, Mr. Thomas. Dazu würden wir mindestens drei Kontakte bei der Verkehrsaufsichtsbehörde von Shenandoah benötigen. Die Kosten wären exorbitant.“
„Wie ich ganz sicher weiß, haben sie mindestens einen Mann dort, der Ihnen gehört. Er kann die beiden anderen beeinflussen. Die Kursänderung wird außerdem nur geringfügig sein. Das nächste Farmhaus unten an der Straße. Nur ein paar Bogensekunden. Unaufspürbar. Sollte es je zu einer Untersuchung kommen, wird man es einem Irrtum des Piloten zuschreiben.“
„Was Sie verlangen, ist gegen das Gesetz, Mr. Thomas. Eingriffe in Flugbahnen und Verkehrswege unterliegen dem öffentlichen Recht, Paragraph 1209. Zehn Jahre Gefängnis.“
„Wieviel?“ fragte er trocken.
„Fünfhunderttausend. Bar. Sofortige Einzahlung.“
Er schluckte. Das machte ihn fast mittellos. „Hier ist die Überweisung. Sie haben fünf Minuten Zeit. Gelingt es Ihnen innerhalb dieser Spanne nicht, will ich mein Geld zurückhaben.“