Vater und Sohn

Am nächsten Morgen aß Alex das beste Frühstück seines Lebens. Er ahnte, dass er das brauchen würde. Im Hotel gab es ein reichhaltiges warmes und kaltes Büfett mit Spezialitäten der französischen, englischen, thailändischen und vietnamesischen Küche – von Eiern mit Speck bis zu gebratenen Nudeln. Ash aß mit, sprach aber nur wenig. Er schien tief in Gedanken versunken, und Alex fragte sich, ob ihm an der geplanten Operation Zweifel gekommen waren.

»Bist du satt?«, fragte er, als Alex sein zweites Croissant aufgegessen hatte.

Alex nickte.

»Dann gehen wir jetzt auf dein Zimmer. Mrs Webber wird auch bald kommen. Wir warten dort auf sie.«

Alex hatte keine Ahnung, wer Mrs Webber war, und es sah nicht so aus, als wollte Ash es ihm verraten. Die beiden fuhren in den neunzehnten Stock. Ash hängte das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild an die Tür, wies Alex einen Stuhl am Fenster zu und nahm ihm gegenüber Platz.

»Also«, fing er an, »ich erkläre dir jetzt, was wir vorhaben. Vor zwei Wochen hat ASIS in Zusammenarbeit mit pakistanischen Behörden einen Vater und seinen Sohn festgesetzt, die auf dem Weg nach Indien hier aufgelesen wurden. Bei ihrer Befragung kam heraus, dass sie den Snakeheads viertausend amerikanische Dollar gezahlt hatten, um sich von ihnen nach Australien schmuggeln zu lassen.

Ursprünglich wollten wir sie einfach wieder zurückschicken. Aber jetzt wollen wir sie benutzen. Der Vater heißt Karim; der Sohn heißt Abdul. Gewöhne dich an diese Namen, Alex, denn ab sofort sind das wir beide. Karim und Abdul Hassan. Wir nehmen ihre Stelle ein, das heißt, wir bleiben erst einmal hier in Bangkok. Man hat ihnen eine Adresse gegeben und gesagt, sie sollen dort warten, bis ein Mann namens Sukit Kontakt mit ihnen aufnimmt.«

»Wer ist das?«

»Wir haben eine Weile gebraucht, um das herauszufinden. Mr Anan Sukit arbeitet für Major Yu. Er ist einer seiner ranghöchsten Mitarbeiter, könnte man sagen. Ein sehr gefährlicher Mann. Und das heißt, wir sind einen Schritt weitergekommen, Alex. Wir sind auf dem richtigen Weg.«

»Und wir warten, bis er sich mit uns in Verbindung setzt.« »Genau.«

»Was ist mit dem echten Abdul?«, fragte Alex. Er hatte keine Ahnung, wie er jemanden spielen sollte, den er nie gesehen hatte.

»Du brauchst über ihn und seinen Vater nicht viel zu wissen. Die beiden sind Hasaras – das ist eine kleine Volksgruppe in Afghanistan. Die Hasaras werden seit Jahrhunderten verfolgt. Sie bekommen die schlechteste Ausbildung und die miesesten Jobs – für die meisten ihrer Landsleute sind sie kaum besser als Tiere. Sie nennen sie Kofr – das bedeutet ›Ungläubige‹, und das ist in Afghanistan das schlimmste Schimpfwort überhaupt.«

»Und wie sind die an das Geld gekommen?«, fragte Alex.

»Sie hatten ein Geschäft in Masar-e-Scharif, das sie noch verkaufen konnten, kurz bevor man es ihnen weggenommen hätte. Dann haben sie sich im Hindukusch versteckt und von dort aus Kontakt mit den Snakeheads aufgenommen, und nachdem sie ihnen das Geld übergeben hatten, haben sie die Reise nach Süden angetreten.«

»Aber ich sehe doch überhaupt nicht wie ein Afghane aus«, sagte Alex. »Das heißt, ich weiß eigentlich gar nicht, wie diese Hasaras aussehen.«

»Die meisten von ihnen sind Asiaten – Mongolen oder Chinesen. Aber nicht alle. Tatsächlich haben viele nur deshalb in Afghanistan überlebt, weil sie nicht allzu östlich aussehen. Aber mach dir keine Sorgen. Mrs Webber kümmert sich darum.«

»Und die Sprache?«

»Du wirst nicht reden. Kein Wort. Du stellst dich dumm. Du starrst nur vor dich hin und hältst den Mund. Am besten machst du immer ein ängstliches Gesicht – als ob ich dich gleich schlagen würde. Vielleicht tue ich das auch mal ab und zu. Natürlich nur, damit wir glaubwürdiger wirken.«

Alex konnte nicht erkennen, ob Ash das ernst meinte oder nicht.

»Ich spreche Dari«, fuhr Ash fort. »Das ist die wichtigste Sprache in Afghanistan, und die wird auch von den Snakeheads benutzt. Ich kann auch ein bisschen Hasaragi, aber das werden wir nicht brauchen. Also, denk immer daran: Du sagst kein Wort. Niemals. Sonst sind wir beide tot.«

Ash stand auf. Er hatte bei seinen Erklärungen ziemlich finster gewirkt – beinahe feindselig. Aber als er sich jetzt an Alex wandte, flackerte in seinen dunkelbraunen Augen so etwas wie Verzweiflung. »Alex ... «, fing er an und kratzte sich an seinem Stoppelbart. »Bist du sicher, dass du das machen willst? Du hast mit ASIS nichts zu schaffen. Menschenschmuggel und das alles geht dich doch gar nichts an. Eigentlich müsstest du in der Schule sein. Am besten wär’s, du würdest einfach nach Hause fahren.«

»Dazu ist es jetzt ein bisschen zu spät«, sagte Alex. »Ich habe mich einverstanden erklärt. Und ich möchte, dass Sie mir von meinem Vater erzählen.«

»Ist das der wichtigste Grund, warum du bei dieser Sache mitmachst?«

»Es ist der einzige Grund.«

»Ich werde mir das nie verzeihen, wenn dir irgendetwas zustößt. Wenn es deinen Vater nicht gegeben hätte, wäre ich schon lange tot. So sieht das nämlich aus.« Ash wandte den Blick ab, als wollte er der Erinnerung ausweichen. »Eines Tages erzähle ich es dir ... Malta, und was passiert ist, nachdem Yassen Gregorovich mit mir abgerechnet hatte. Aber eins sage ich dir schon jetzt. John würde mir bestimmt nicht dankbar sein, dass ich dich in Gefahr bringe. Also wenn ich dir etwas raten darf: Ruf Brooke an, sag ihm, du hast es dir anders überlegt. Und fahr nach Hause.«

»Ich bleibe«, sagte Alex. »Aber trotzdem danke.«

Dass Ash den Namen Gregorovich erwähnt hatte, bestärkte Alex nur in seinem Entschluss, noch mehr zu erfahren. Allmählich begann das Puzzle sich zu ordnen.

Alex wusste, dass sich sein Vater, John Rider, als feindlicher Agent ausgegeben hatte, der für Scorpia arbeitete. Als der MI6 ihn zurückhaben wollte, hatten sie seine »Entführung« arrangiert. Das war auf Malta gewesen. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Und Yassen Gregorovich war auch dabei gewesen. Yassen war ein international agierender Killer, und Alex hatte ihn vierzehn Jahre später getroffen – zuerst, als er für Herod Sayle arbeitete, und ein zweites Mal im Innern der Verbrecherorganisation von Damian Cray. Yassen war jetzt tot, aber es schien, dass er in Alex’ Leben immer noch eine Rolle spielen sollte. Ash hatte ihn auf Malta getroffen. Und was auch immer auf dieser Insel geschehen war, es gehörte zu der Geschichte, die Alex bis ins Detail in Erfahrung bringen wollte.

»Bist du sicher?«, fragte Ash ihn ein letztes Mal.

»Ja, bin ich.«

»Also gut.« Ash nickte ernst. »Dann hör mir jetzt genau zu: Ba’ad az ar tariki, roshani ast. Das ist ein altes afghanisches Sprichwort, und vielleicht kommt mal eine Zeit, wo du es brauchen kannst. ›Auf jede Dunkelheit folgt Licht.‹ Ich hoffe, das gilt auch für dich.«

Es klopfte an die Tür.

Ash machte auf und eine kleine, ziemlich dicke Frau kam herein. Sie hatte einen Koffer dabei und sah aus wie ein altes Hausmütterchen oder eine sehr altmodische Lehrerin. Sie trug ein olivgrünes zweiteiliges Kostüm und grobe Strümpfe, wodurch ihre nicht sehr schön geformten Beine noch plumper wirkten. Die Haare hingen ihr irgendwie farblos und unfrisiert vom Kopf und ihr ungeschminktes Gesicht sah aus wie aus Wachs. Ihr einziger Schmuck war eine Brosche – ein silbernes Gänseblümchen.

»Wie geht’s dir, Ash?«, fragte sie lächelnd, und dieses Lächeln und ihr breiter australischer Akzent schienen sie zum Leben zu erwecken.

»Schön, dich zu sehen, Cloudy«, antwortete Ash und schloss die Tür. »Das ist Mrs Webber, Alex«, erklärte er. »Sie arbeitet für ASIS – sie ist Spezialistin für Verkleidung. Eigentlich heißt sie Chloe, aber wir nennen sie Cloudy. Das passt besser zu ihr. Cloudy Webber, das ist Alex Rider.«

Die Frau baute sich breitbeinig vor Alex auf und musterte ihn von oben bis unten. »Hm ...«, brummte sie wenig begeistert. »Mr Brooke sollte sich mal auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen, wenn er sich einbildet, mit dem hier könnten wir was anfangen. Aber ich werde mir alle Mühe geben.« Sie wuchtete den Koffer aufs Bett. »Jetzt ziehst du dich erst mal komplett aus, Junge. T-Shirt, Boxershorts, alles. Wenn wir systematisch vorgehen wollen, müssen wir mit deiner Haut anfangen.«

»Halt, Moment mal ...«, sagte Alex.

»Herrgott noch mal!«, explodierte die Frau. »Meinst du, ich bekomme da irgendetwas zu sehen, was ich nicht schon zigmal gesehen habe?« Sie wandte sich an Ash, der die beiden beobachtete. »Du kommst auch noch dran, Ash. Ich weiß nicht, was es da zu grinsen gibt. Du siehst vielleicht ein bisschen afghanischer aus als er, aber deine Kleider brauche ich auch alle.«

Sie machte den Koffer auf und nahm ein halbes Dutzend Plastikflaschen mit verschiedenen dunklen Flüssigkeiten heraus. Es folgten eine Haarbürste, ein Kosmetikbeutel und mehrere Tuben, in denen vielleicht Zahnpasta war. Und dann waren in dem Koffer noch Kleidungsstücke, die aussahen – und rochen –, als kämen sie aus einem Müllcontainer.

»Die Kleider stammen aus Spendensammlungen«, erklärte sie. »In England gesammelt, gekauft auf dem Markt in Masare-Scharif. Ihr bekommt von mir jeder zwei Garnituren, mehr braucht ihr nicht: Ihr tragt sie Tag und Nacht. Ash, lass Badewasser einlaufen.« Sie schraubte eine der Flaschen auf. Der Geruch – nach Seetang und Terpentin – erfüllte sofort das ganze Zimmer. »Kaltes Wasser!«, fügte sie barsch hinzu.

Sie ließ Alex aber alleine baden. Zuvor hatte sie in die halb mit kaltem Wasser gefüllte Wanne zwei Flaschen mit braunem Färbemittel gerührt. Zehn Minuten lang sollte Alex darin liegen und auch sein Gesicht und die Haare immer wieder untertauchen. Als er endlich herausdurfte, zitterte er vor Kälte und wagte nicht in den Spiegel zu sehen, als er sich abtrocknete – bemerkte aber, dass die Hotelhandtücher jetzt aussahen, als hätte man sie durch die Gosse geschleift. Er zog zerlumpte Boxershorts an und ging ins Zimmer zurück.

»Schon besser«, brummte Mrs Webber. Sie betrachtete die Narbe dicht über seinem Herzen. Die stammte von der Kugel eines Heckenschützen, als er nach der Aktion mit Scorpia beinahe getötet worden wäre. »Die könnte auch von Vorteil sein«, sagte sie. »Viele afghanische Jungen haben Schussverletzungen. Da passt ihr ja noch besser zusammen.«

Alex verstand nicht, wie sie das meinte. Er sah Ash an – und da begriff er. Ash zog gerade ein weites, kurzärmeliges Hemd an, und dabei war kurz seine Brust zu sehen. Auch er hatte eine Narbe, doch seine sah noch weitaus schlimmer aus als die von Alex – ein langer weißer Strich, der sich über den ganzen Bauch bis zur Hüfte entlangzog. Ash wandte sich ab und knöpfte das Hemd zu, aber es war schon zu spät. Alex hatte die furchtbare Verletzung gesehen. Die konnte nur von einem Messer stammen. Er fragte sich, wer es Ash in den Bauch gerammt haben mochte.

»Komm und setz dich, Alex«, sagte Mrs Webber. Sie wies auf einen Stuhl, unter dem sie eine große Plastikplane ausgebreitet hatte. »Jetzt kommen deine Haare dran.«

Alex gehorchte, und in den nächsten Minuten hörte er nur das Klappern der Schere und sah zu, wie ein Haarbüschel nach dem anderen zu Boden fiel. So wie sie arbeitete, dürfte sie ihre Ausbildung wohl kaum in einem Londoner Friseursalon genossen haben, dachte er. Eher auf einer Farm, wo Schafe geschoren wurden. Als sie fertig war, schraubte sie eine der Tuben auf und rieb seinen Kopf mit einer zähen fetten Salbe ein. Schließlich trat sie zurück.

»Er sieht großartig aus«, sagte Ash.

»Fehlen nur noch die Zähne. Die würden ihn sofort verraten.«

Sie nahm eine andere Tube und verteilte die Paste mit einem Finger auf seinen Zähnen. Zum Schluss nahm sie zwei Kunststoffhütchen, so groß wie Zähne, eins in Grau, und eins in Schwarz.

»Die werde ich festkleben müssen«, sagte Mrs Webber.

Alex machte den Mund auf und ließ sich die falschen Zähne einsetzen. Er zog eine Grimasse. Sein Mund kam ihm ganz fremd vor.

»Ein paar Tage wirst du sie noch spüren, aber dann denkst du gar nicht mehr dran«, sagte sie. Sie trat zurück. »Na bitte. Fertig! Und jetzt zieh dich an und betrachte dich im Spiegel ! «

»Cloudy, du bist einsame Spitze«, brummte Ash.

Alex zog ein ausgeblichenes T-Shirt und eine Jeans an – beide schmutzig und voller Löcher. Dann ging er ins Bad und stellte sich vor den großen Spiegel. Und stöhnte auf. Der Junge, den er da sah – das war doch nicht er! Der da hatte olivbraune Haut und dunkelbraune, völlig verfilzte Haare. Und in diesen Kleidern sah er noch dünner aus, als er sowieso schon war. Dann machte er den Mund auf. Zwei seiner Zähne waren offensichtlich verfault, die anderen hässlich verfärbt.

Mrs Webber trat hinter ihn. »Um die Hautfarbe brauchst du dir zwei Wochen lang keine Gedanken zu machen«, sagte sie. »Es sei denn, du badest – aber ich glaube kaum, dass du das tun wirst. Haare und Zähne solltest du alle fünf, sechs Tage kontrollieren. Ich werde Ash genug Tuben mitgeben.«

»Wirklich verblüffend«, sagte Ash, der sich an die Tür gestellt hatte.

»Ich hab ein Paar Turnschuhe für dich«, sagte Mrs Webber. »Socken brauchst du nicht. So was würde ein Flüchtlingskind niemals tragen.«

Sie ging ins Zimmer zurück und brachte ihm zwei fleckige und verschlissene Turnschuhe. Alex versuchte sie anzuziehen.

»Die sind zu klein«, sagte er.

Mrs Webber runzelte die Stirn. »Ich kann dir ein Loch für die Zehen reinschneiden.«

»Nein. Die kann ich nicht tragen.«

Sie sah ihn missmutig an, aber selbst sie konnte erkennen, dass die Schuhe viel zu klein waren. »Na schön.« Sie nickte. »Dann behalt deine eigenen. Aber vorher muss ich sie etwas bearbeiten.«

Sie wühlte in ihrem Koffer herum und zog nacheinander ein Rasiermesser, etwas alte Farbe und eine Flasche mit irgendeiner Chemikalie heraus. Zwei Minuten später sahen Alex’ Turnschuhe aus, als wären sie vor zehn Jahren auf dem Müll gelandet. Während er sie anzog, wandte Mrs Webber sich Ash zu. Auch er musste gründlich überarbeitet werden. Seine Haut brauchte nicht gefärbt zu werden und sein Bart war für einen Mann aus dem Stamm der Hasara nicht ungewöhnlich, aber seine Haare mussten zerstrubbelt werden, und auch er musste sich komplett umziehen. Es war seltsam, aber als sie fertig war, hätten Alex und Ash wirklich Vater und Sohn sein können. Ihr ärmliches Aussehen hatte sie näher zusammengebracht.

Mrs Webber packte alle Sachen, die Alex und Ash getragen hatten, in ihren Koffer. Sie zog den Reißverschluss zu, stemmte sich hoch und richtete einen Zeigefinger auf Ash.

»Du passt auf Alex auf«, befahl sie. »Ich habe bereits mit Mr Brooke gesprochen. Einen Jungen seines Alters für so eine Operation einzusetzen, das finde ich nicht richtig. Pass nur auf, dass er da heil wieder herauskommt.«

»Das werde ich tun«, versprach Ash.

»Das will ich auch hoffen. Mach’s gut, Alex!«

Und damit war sie verschwunden.

Ash wandte sich an Alex. »Wie fühlst du dich?« »Schmutzig.«

»Kann nur noch schlimmer werden. Bist du bereit? Wird Zeit, dass wir gehen.«

Alex ging zur Tür.

»Wir nehmen den Speiseaufzug«, sagte Ash. »Und dann den Hinterausgang. Wenn uns jemand in dieser Aufmachung im Hotel sieht, werden wir verhaftet.«

 

Der Fahrer, der Alex am Flughafen abgeholt hatte, wartete vor dem Hotel auf sie und brachte sie über den Fluss und dann flussaufwärts ins Chinesenviertel. Die Klimaanlage blies Alex kühle Luft ins Gesicht, und er wusste, das war ein Luxus, den er so bald nicht wieder genießen würde. An einer Kreuzung stiegen sie aus, und Hitze, Schmutz und Lärm der Stadt übermannten ihn. Er schwitzte schon, bevor die Autotür zugezogen wurde. Ash nahm einen kleinen ramponierten Koffer aus dem Kofferraum, und das war’s. Sie waren auf sich allein gestellt.

So etwas wie das Chinesenviertel von Bangkok hatte Alex noch niemals gesehen. Wenn er den Blick hob, war da kein Himmel – nur Werbetafeln, Transparente, Stromkabel und Neonreklamen: TOM YUNG KUNG RESTAURANT, THAI MASSAGE, SENG HONG ZAHNKLINIK (STRAHLENDES LÄCHELN BEGINNT HIER). Auf den Bürgersteigen war es genauso voll, überall standen Buden, an denen man Essen, billige Kleider und elektronische Geräte kaufen konnte. Und überall wimmelten Scharen von Menschen auf den Straßen und zwischen den Autos umher, die allesamt in einem nicht enden wollenden, von Abgasen verpesteten Stau festzustecken schienen.

»Hier entlang«, murmelte Ash mit gedämpfter Stimme. Von jetzt an würde er, wenn er Englisch sprach, immer darauf achten, dass niemand es mitbekam.

Sie schoben sich durch das Chaos, und in den nächsten Minuten sah Alex nur Esswaren: Gemüse- und Fleischsorten, die er noch nie gesehen hatte und von denen er hoffte, er würde sie auch niemals wiedersehen: Herzen und Lungen, die in grünen Suppen brodelten, bräunliche Eingeweide, die über die Ränder der Kessel hingen, als wollten sie fliehen. Alle Gerüche des Planeten schienen hier zusammengerührt. Fleisch und Fisch und Müll und Schweiß – bei jedem Schritt ein neuer Geruch.

Nach etwa zehn Minuten gelangten sie zu einem schmalen Gang zwischen einem Restaurant – ein paar Plastiktische, eine Vit rine mit Plastikattrappen der Gerichte, die es dort zu essen gab – und einer Lackierwerkstatt. Hier konnten sie endlich die Hauptstraße verlassen. Die verdreckte Gasse führte zwischen zwei Wohnkomplexen hindurch, die windschief aussahen. Am Eingang stand ein winziger Altar. Etwas weiter parkten zwei Autos neben einem Dutzend Kisten mit leeren Pepsiflaschen, einem Haufen alter Benzinkanister und einer Reihe Tische und Stühle. Eine Chinesin, die im Schneidersitz in der Gosse hockte, befestigte Schmuckbänder an Körben mit exotischen Früchten. Alex erinnerte sich an den Präsentkorb mit Obst in seinem Hotelzimmer. Vielleicht war der auch von hier gekommen.

»Wir sind da«, sagte Ash.

Es war die Adresse, die Karim Hassan und sein Sohn von dem Snakehead bekommen hatten. Hier sollten sie warten.

Die Fenster aller Wohnungen gingen zur Gasse hinaus, sodass Alex den Leuten in die Zimmer schauen konnte. Türen oder Vorhänge gab es nicht. In einem Raum saß ein Chinese rauchend an einem Tisch; er war nur mit Shorts und Brille bekleidet, und ein gewaltiger Bauch wölbte sich bis über seine Knie. In einem an deren Zimmer kauerte eine ganze Familie auf dem Fußboden und aß mit Stäbchen aus einem großen Topf. Schließlich kamen sie zu einem Zimmer, das auf den ersten Blick unbewohnt wirkte. Aber dann sahen sie dort eine alte Frau am Herd stehen. Ash gab Alex ein Zeichen, dass er warten solle, ging zu der Frau, redete mit Händen und Füßen auf sie ein und schwenkte einen Zettel vor ihrer Nase herum.

Schließlich hatte sie begriffen und zeigte auf eine Treppe im Hintergrund. Ash knurrte etwas auf Dari und Alex tat so, als habe er verstanden, und eilte ihm nach.

Die Treppe war aus Zement, schwarze Pfützen standen auf den Stufen. Alex folgte Ash in den dritten Stock zu einer Tür ohne Klinke. Ash stieß sie auf. Dahinter war ein kahler Raum mit einem Eisenbett, einer Matratze auf dem Boden, einem Wasch becken, einer Toilette und einem schmutzigen Fenster. Kein Teppich, kein Licht. Als Alex eintrat, krabbelte die größte Kakerlake, die er je gesehen hatte, von der Bettkante und huschte über die Wand davon.

»Hier?«, flüsterte Alex.

»Hier«, sagte Ash.

Der Mann, der ihnen vom Hotel aus gefolgt war, schrieb sich draußen in der Gasse die Adresse des Hauses auf. Dann wandte er sich zum Gehen, zückte sein Handy und wählte eine Nummer. Als die Verbindung stand, war er schon in der Menge verschwunden.