Essen für drei

»Schön, dich zu sehen, Alex. Was macht die Schule?«

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit Alex das letzte Mal in diesem Raum im sechzehnten Stock des Gebäudes in der Liverpool Street gewesen war, das sich Royal & General Bank nannte, in Wirklichkeit aber die Zentrale der Spezialeinheit des MI6 be herbergte. Alan Blunt, ihr Leiter, saß ihm gegenüber; sein Schreibtisch war so aufgeräumt und leer wie immer: zwei Aktenordner, ein paar Dokumente, die er zu unterschreiben hatte, ein Füllfederhalter aus massivem Silber. Alles an seinem Platz. Alex wusste, dass Blunt viel Wert darauf legte.

Blunt schien sich überhaupt nicht verändert zu haben. Er trug sogar noch denselben Anzug, und dass sein Haar ein wenig grauer geworden war, konnte niemandem auffallen, da es schon immer grau gewesen war. Doch Blunt war nicht der Typ, der alt und faltig wurde, in ausgebeulten Hosen herumlief, Golf spielte und mehr Zeit mit seinen Enkelkindern verbrachte. Seine Arbeit, die Welt, die er bewohnte, hatte ihn irgendwie festgenagelt. Für Alex war er ein Fossil des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Es war die letzte Novemberwoche, und wie zur Antwort auf die seit Kurzem das Straßenbild beherrschenden Weihnachtsdekorationen war die Temperatur stark gefallen. Es hatte sogar schon einmal leicht geschneit. Der Schnee war zwar nicht liegen geblieben, hatte die Luft aber noch ein wenig frostiger gemacht. Auf der Straße war Alex an einer Kapelle der Heilsarmee vorbeigekommen, die Weihnachtslieder gespielt hatte. Die Musiker hatten sich frierend aneinandergedrängt, und selbst ihre Musik hatte sich kalt und traurig angehört – und ein wenig schief.

Hier oben in dem Büro konnte er die Musik nicht hören. Die Fenster waren doppelt oder sogar dreifach verglast, damit kein Geräusch von außen störte, und – noch wichtiger – keins nach draußen drang. Er konzentrierte sich auf den Mann, der ihm gegenübersaß, und fragte sich, was er antworten sollte. Blunt wusste bestimmt ohnehin schon Bescheid. Wahrscheinlich hatte er Zugang zu Alex’ Schulzeugnissen, bevor sie überhaupt geschrieben wurden.

Alex besuchte jetzt seit einer Woche wieder die Brookland-Schule. Das wusste Blunt mit Sicherheit. Alex zweifelte keinen Augenblick daran, dass er rund um die Uhr überwacht wurde, seit er in Heathrow gelandet, im Eiltempo durch die Sicherheitskontrollen geschleust und in einen bereitstehenden Wagen verfrachtet worden war. Nach seiner letzten Operation gegen Scorpia hatte man auf ihn geschossen, und der MI6 legte großen Wert darauf, dass so etwas nicht noch einmal geschah. Er glaubte, seinen Beschatter einmal gesehen zu haben: ein ziemlich junger Mann, der an einer Straßenecke stand und anscheinend auf ein Taxi wartete. Als Alex eine Sekunde später noch einmal hingesehen hatte, war der Mann verschwunden. Vielleicht war er es gewesen, vielleicht aber auch nicht. Blunts Agenten wussten sich sehr gut zu tarnen.

Jedenfalls ging er nun endlich wieder zur Schule.

Für die meisten Jungen in seinem Alter bedeutete das Unterricht und Hausaufgaben, endlose Stunden und schlechtes Essen. Für Alex war es all das und noch etwas mehr. Als er an einem kalten Montagmorgen die Schule betrat, war er nervös. Es war lange her, dass er die vertrauten Gebäude das letzte Mal gesehen hatte: das rote Mauerwerk und die großen Fenster. Miss Bedfordshire, die Schulsekretärin, die immer eine Schwäche für ihn gehabt hatte, erwartete ihn.

»Alex Rider!«, rief sie. »Was war es denn dieses Mal?« »Drüsenfieber, Miss Bedfordshire.«

Alex’ Krankheiten waren in den vergangenen zwölf Monaten geradezu legendär geworden. Er fragte sich, ob Miss Bedfordshire wirklich daran glaubte oder ob sie bloß mitspielte.

»Du wirst das Schuljahr wiederholen müssen, wenn du nicht aufpasst«, sagte sie.

»Ich passe sehr gut auf, Miss Bedfordshire.«

»Das will ich auch hoffen.«

In Sydney hatte Alex sich Sorgen gemacht, dass er sich nicht mehr in die Schule einfügen könnte, aber kaum war er wieder da, kam es ihm vor, als sei er nie weg gewesen. Alle freuten sich, ihn zu sehen, und er hinkte dem Unterrichtsstoff auch gar nicht so weit hinterher, wie er befürchtet hatte. In den Weihnachtsferien sollte er Nachhilfeunterricht bekommen, und danach wäre er mit etwas Glück auf demselben Stand wie alle anderen. Umgeben von seinen Freunden und eingespannt in das alltägliche Einerlei erkannte Alex, dass er nicht einfach nur wieder zur Schule ging. Er war zurück im normalen Leben.

Aber er hatte damit gerechnet, dass Alan Blunt sich mit ihm in Verbindung setzen würde, und dann hatte er ihn tatsächlich auf seinem Handy angerufen. Blunt hatte ihn gebeten, am Freitagnachmittag zu einer Besprechung zu kommen. Der kleine Unterschied war Alex aufgefallen. Blunt hatte ihn gebeten. Er hatte es nicht verlangt.

Und jetzt saß er also hier mit seinem Rucksack voller Bücher für die Hausaufgaben übers Wochenende: eine ausgesprochen gemeine Mathearbeit und George Orwells Farm der Tiere. Ein britischer Schriftsteller, dachte er. Den hätte Major Yu bestimmt auch gemocht. Alex trug seine Schuluniform – dunkelblaues Jackett, graue Hosen und eine absichtlich schief sitzende Krawatte. Jack hatte ihm in Washington einen Schal gekauft, den er sich lose um den Hals gelegt hatte. Davon abgesehen, fühlte er sich wohl damit, so auszusehen wie alle anderen.

»Es gibt da einige Dinge, die du vielleicht wissen möchtest«, sagte Blunt. »Zunächst eine Nachricht von Ethan Brooke. Er hat mich gebeten, dir seinen Dank auszusprechen. Er wünscht dir weiterhin alles Gute. Er sagt, falls du jemals auf die Idee kommen solltest, nach Australien auszuwandern, werde er persönlich dafür sorgen, dass du ein Dauervisum bekommst.«

»Das ist sehr freundlich von ihm.«

»Du hast aber auch bemerkenswerte Arbeit geleistet, Alex. Du hast nicht nur die Bombe gefunden, die man uns gestohlen hat, sondern auch noch diese gefährliche Snakehead-Gruppe zerstört. Die Chada Handelsgesellschaft hat sich ebenso wie Unwin Toys aus dem Geschäft zurückgezogen.«

»Ist eigentlich irgendwem aufgefallen, dass das ein Anagramm ist?«, fragte Mrs Jones. Sie saß entspannt in einem Sessel neben dem Schreibtisch, ein Bein über das andere geschlagen. Sie war ganz offensichtlich froh, dass Alex wieder da war. »Unwin Toys. Winston Yu. Dieselben Buchstaben. So eitel war dieser Mann – hat die Firma nach sich selbst benannt.«

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte Alex. Bis jetzt wusste er nur, dass Yu die Leiter zu der Motorjacht hinuntergeklettert war; danach hatte er nichts mehr von ihm gesehen.

»Oh ja. Das heißt, wir haben gefunden, was von ihm noch übrig war. Kein sehr schöner Anblick.« Blunt legte die Hände zusammen. »Yu hat eine Menge seiner eigenen Leute umgebracht, bevor ASIS an sie herankommen konnte«, fuhr er fort. »Du weißt vermutlich, dass er de Wynter getötet hat, den Kapitän der Liberian Star. Nach deiner Flucht aus dem Krankenhaus hat Dr. Tanner Selbstmord begangen, wahrscheinlich auf Befehl von Yu. Den Rest der Belegschaft hat ASIS allerdings aufgreifen können. Zwei Wachmänner – einer von ihnen hatte einen Schädelbruch – und ein paar Krankenschwestern. Außerdem haben sie einen Mann namens Varga festgenommen.«

Der Name sagte Alex nichts.

»Das war der Techniker«, erklärte Mrs Jones, »der Royal Blue für eine Detonation unter der Erde umgebaut hat. Er hat auch die Planungen für die Sprengung selbst geleitet.«

Jetzt erinnerte Alex sich an den Mann, den er auf der Liberian Star beobachtet hatte, als er für Major Yu den Scanner installiert hatte.

»Er stand in der Hierarchie von Scorpia ziemlich weit unten«, fügte Blunt hinzu. »Aus Haiti, wenn ich nicht irre. Er wurde verhört und kann uns vielleicht einige wertvolle Informationen liefern.«

»Wie geht es Ben?«

»Er ist noch in Darwin im Krankenhaus«, sagte Mrs Jones. »Er hat Glück gehabt. Die Kugeln haben keine ernsten Schäden angerichtet, und die Ärzte sagen, zu Weihnachten kann er entlassen werden.«

»Wir werden uns um ihn kümmern«, fügte Blunt hinzu. »Besser als Sie sich um Ash gekümmert haben.« Alex sah Blunt in die Augen.

»Allerdings.« Blunt rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Ich möchte, dass du weißt, Alex, dass wir von Ashs Verbindung zu Scorpia keine Ahnung hatten. Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass er damit zu tun hatte, was ... deinen Eltern zugestoßen ist.«

»Es tut mir sehr leid, Alex«, unterbrach ihn Mrs Jones. »Ich verstehe, wie du dich fühlen musst.«

»Glauben Sie, dass Ethan Brooke es gewusst hat?«, fragte Alex. Er hatte über diese Frage schon auf dem langen Rückflug nachgedacht. »Er wusste, dass es einen Verräter in seinen Reihen gab. Jemand hatte die Snakeheads ständig mit Informationen versorgt. Er hat mich mit Ash zusammengebracht. Hat er das getan, um Ash aus der Reserve zu locken?«

»Das ist gut möglich«, sagte Blunt zu Alex’ Überraschung. So ehrlich war der Leiter des MI6 normalerweise nicht. »Brooke ist ein sehr verschlagener Mann.«

»Eben deshalb ist er auch so gut in seinem Job«, bemerkte Mrs Jones.

Es war fünf Uhr. Draußen war es schon dunkel.

Alan Blunt trat ans Fenster und verscheuchte ein paar Tauben. Dann ließ er die Jalousie herab.

»Es gibt nur noch weniges zu ergänzen«, sagte er, als er wieder Platz nahm. »Vor allem sollst du wissen, dass du in Sicherheit bist. Scorpia trachtet dir nicht mehr nach dem Leben.« Er blinzelte zweimal. »Die werden keine weiteren Anschläge mehr auf dich verüben.«

»Wir haben mit ihnen Kontakt aufgenommen«, erklärte Mrs Jones, »und klargemacht: Falls dir etwas zustoßen sollte, erfährt die Welt von uns, dass sie – bereits zum zweiten Mal – von einem vierzehnjährigen Jungen geschlagen wurden. Dann wären sie dem öffentlichen Gespött preisgegeben und könnten sich nirgendwo mehr blicken lassen.«

»Scorpia ist wahrscheinlich sowieso am Ende«, sagte Blunt. »Aber sie haben die Botschaft verstanden. Natürlich behalten wir dich für alle Fälle im Auge, aber ich glaube nicht, dass du dir irgendwelche Sorgen machen musst.«

»Und was wollten Sie mir noch sagen?«, fragte Alex.

»Nur dass wir hoffen, dass du ein paar Antworten auf deine Fragen gefunden hast«, sagte Mrs Jones.

»Ja, das habe ich«, sagte Alex.

»Dein Vater war ein sehr guter Mensch«, murmelte Blunt. »Du bist ihm offenbar sehr ähnlich, Alex. Und wenn du mit der Schule fertig bist, überlegst du es dir vielleicht noch einmal, ob du zum Geheimdienst kommen willst. Wir brauchen Leute wie dich, und es ist kein schlechter Beruf.«

Alex stand auf. »Ich finde schon allein nach draußen«, sagte er.

 

Er fuhr mit der U-Bahn zum Sloane Square und dann mit dem Bus die King’s Road hinunter zu seinem Haus. Er hatte Jack gesagt, dass er später als sonst aus der Schule kommen würde. Die beiden wollten gemeinsam zu Abend essen und dann würde er mit den Hausaufgaben anfangen. Morgen war er mit seinem Freund Tom Harris verabredet. Chelsea hatte ein Heimspiel gegen Arsenal, und Tom hatte es irgendwie geschafft, zwei Karten zu organisieren. Ansonsten hatte er für das Wochenende keine Pläne.

Jack Starbright wartete in der Küche auf ihn; sie machte gerade einen Salat fertig. Alex nahm sich ein Glas Apfelsaft und schwang sich auf einen der Barhocker an der Küchentheke. Er unterhielt sich gern mit Jack, wenn sie kochte.

»Und wie war’s?«, fragte sie.

»Ganz gut«, sagte Alex. Er stibitzte sich ein Stück Tomate. »Alan Blunt hat mir einen Job angeboten.«

»Ich bring dich um, wenn du den annimmst.«

»Keine Sorge. Ich hab ihn wissen lassen, dass ich nicht interessiert bin.«

Jack wusste über alles Bescheid, was Alex erlebt hatte, seit sie ihn in Sydney allein gelassen hatte, und auch von Ashs Ende auf Dragon Nine hatte sie erfahren. Alex hatte ihr seine Geschichte erzählt, sobald er nach Hause gekommen war, und als er fertig gewesen war, hatte sie sich abgewandt und lange schweigend dagesessen. Und als sie sich schließlich wieder zu ihm umgedreht hatte, standen Tränen in ihren Augen.

»Tut mir leid für dich«, hatte Alex gesagt. »Ich weiß, dass du ihn gerngehabt hast.«

»Das ist es nicht, Alex«, hatte sie geantwortet.

»Was dann?«

»Diese Welt. Der MI6. Was die mit ihm gemacht haben und mit deinen Eltern. Und jetzt habe ich auch noch Angst vor dem, was sie mit dir machen werden.«

»Für mich ist das alles vorbei, Jack.«

»Das hast du letztes Mal auch schon gesagt, Alex. Aber die Frage ist – ist es für die auch vorbei?«

Alex schaute auf den Tisch. Er war für drei gedeckt. »Wer kommt denn zum Abendessen?«, fragte er.

»Das habe ich ganz vergessen«, sagte Jack lächelnd. »Wir haben einen Überraschungsgast.«

»Wen denn?«

»Wirst du ja sehen.« Kaum hatte sie das gesagt, klingelte es an der Tür. »Gutes Timing«, sagte sie. »Gehst du aufmachen?«

Alex bemerkte einen seltsamen Ausdruck in ihren Augen. Normalerweise hatte sie keine Geheimnisse vor ihm. Er hielt immer noch das Tomatenstück in der Hand. Jetzt warf er es in den Salat zurück, schwang sich vom Hocker und ging in den Flur.

Durch das bunt gesprenkelte Mosaikglas der alten Eingangstür konnte er nur eine verschwommene Gestalt erkennen. Der Bewegungsmelder hatte das Außenlicht angeschaltet. Alex stieß die Tür auf und erstarrte verblüfft.

Vor ihm stand ein junges, dunkelhaariges und sehr hübsches Mädchen. Das Auto, das es gebracht hatte, fuhr gerade davon. Alex war so verdattert, dass er es erst gar nicht erkannte. Und als er es erkannt hatte, konnte er es immer noch nicht glauben.

»Sabina!«, rief er.

Als er Sabina Pleasure das letzte Mal gesehen hatte – an der Themse, unter der Richmond Bridge –, hatte sie ihm erzählt, sie habe vor, nach Amerika zu gehen. Er war überzeugt davon gewesen, dass er sie niemals wieder sehen würde.

Das war erst wenige Monate her, aber sie erschien ihm ganz anders. Sie musste jetzt fast sechzehn sein. Ihre Haare waren länger, ihre Figur hatte sich verändert. Sie trug eng anliegende DKNY-Jeans und einen weichen Kaschmirpullover und sah einfach wunderbar aus.

»Hi, Alex.« Sie blieb, wo sie war, so als wäre sie auf der Hut vor ihm.

»Was machst du denn hier?«

»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«

»Aber ja doch. Nur ...« Alex verstummte.

Sabina lächelte. »Mein Dad hat mich mit dem Auto gebracht. Wir sind über Weihnachten in England. Er schreibt einen Artikel für die Zeitung. Irgendwas über eine verrückte Sekte. Er hat mich etwas früher aus der Schule genommen und wir wollen bis Neujahr bleiben.«

»In London?«

»Wo sonst?«

»Ist deine Mutter auch hier?«

»Ja. Wir haben eine Wohnung in Notting Hill gemietet.« Die beiden sahen sich lange an. Alex hatte so viel zu sagen und wusste nicht, wo er anfangen sollte.

»Wollt ihr zwei nicht reinkommen?«, rief Jack aus der Küche. »Oder soll ich das Essen auf der Straße servieren?«

Es gab eine verlegene Pause. Alex wurde klar, dass er Sabina noch gar nicht ins Haus gebeten hatte. Schlimmer noch, er versperrte ihr den Weg. Er trat zur Seite, um sie hereinzulassen. Sie lächelte ein wenig nervös und ging an ihm vorbei, wobei sie ihn in der schmalen Türöffnung leicht streifte. Er spürte ihre Haare an seiner Wange und roch ihr Parfüm. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie froh er war, sie zu sehen. Es war, als fange alles noch einmal von vorne an.

Jetzt war sie im Flur, und er stand draußen.

»Sabina ...«, fing er an.

»Alex«, sagte sie, »mir ist kalt. Mach doch bitte die Tür zu.«

Alex schloss lächelnd die Tür und die beiden gingen hinein.