»Der Tod ist nicht
das Ende«

Es war eins dieser Gebäude, an denen man vorbeigeht, ohne sie zu bemerken: drei Stockwerke hoch, weiß verputzt und bis unters Dach mit Efeu zugewuchert. Es stand in der Sloane Street in Belgravia, nicht weit von Harrods, eine der teuersten Adressen von ganz London. Daneben gab es auf der einen Seite ein Schmuck geschäft und auf der anderen eine italienische Modeboutique – aber die Kunden, die hierherkamen, brauchten beides nicht mehr. Eine einzelne Stufe führte zu einer schwarzen Tür und im Schaufenster standen eine Urne und eine Vase mit frischen Blumen, sonst nichts.

Auf der Tür stand in dezenten goldenen Buchstaben der Name des Instituts:

 

Reed & Kelly

BESTATTUNGEN

Der Tod ist nicht das Ende

 

An einem strahlenden Oktobermorgen um halb zehn, genau drei Wochen, bevor Alex im Pazifik landete, hielt vor dem Eingang eine schwarze viertürige Limousine, ein Lexus LS 430. Der Wagen war sorgfältig ausgewählt. Ein Luxusmodell, aber nicht allzu auffällig. Auch die Ankunftszeit war genauestens geplant. In den vergangenen fünfzehn Minuten waren drei andere Fahrzeuge und ein Taxi kurz vorgefahren, und ihre Passagiere, einzeln oder zu zweit, waren ausgestiegen und in dem Salon verschwunden. Jeder Beobachter musste annehmen, dass da eine große Familie zusammengekommen war, um die Bestattung eines kürzlich Verstorbenen zu arrangieren.

Als Letzter kam ein kräftig gebauter Mann mit breiten Schultern und kahl rasiertem Schädel. Seine kleine eingedrückte Nase, die dicken Lippen und die stumpfen braunen Augen gaben ihm ein brutales Erscheinungsbild. Aber seine Kleidung war tadellos. Er trug einen dunklen Anzug, ein maßgeschneidertes Seidenhemd und einen offenen Kaschmirmantel. Den kleinen Finger zierte ein schwerer Platinring. Er hatte eine Zigarre geraucht, aber als er aus dem Auto stieg, ließ er sie fallen und trat sie mit einem auf Hochglanz polierten Schuh aus. Ohne nach links oder rechts zu sehen, überquerte er den Bürgersteig und betrat das Gebäude. Eine altmodische Klingel schepperte, als er die Tür auf- und wieder zumachte.

Er gelangte in einen großen holzgetäfelten Empfangsraum; hinter einem schmalen Tisch saß mit gefalteten Händen ein älterer Mann mit grauen Haaren. Er betrachtete den Ankömmling mit einer Mischung aus Anteilnahme und Höflichkeit.

»Guten Morgen«, sagte er. »Was können wir für Sie tun?« »Ich komme wegen eines Todesfalls«, antwortete der Besucher.

»Jemand, der Ihnen nahesteht?«

»Mein Bruder. Aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.«

»Mein herzliches Beileid.«

Dieselben Worte waren an diesem Morgen bereits sechsmal gesprochen worden. Hätte auch nur eine einzige Silbe gefehlt, wäre der Kahlköpfige sofort wieder gegangen. Nun aber wusste er, dass das Haus sicher war. Das Treffen, das erst vierundzwanzig Stunden zuvor vereinbart worden war, konnte beginnen.

Der Grauhaarige beugte sich vor und drückte auf einen Knopf unter dem Schreibtisch. Sogleich schob sich ein Teil der Wandverkleidung auseinander. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein, die in den ersten Stock führte.

Der Bestattungssalon Reed & Kelly war echt. Mehr als fünfzig Jahre lang hatten Jonathan Reed und Sebastian Kelly Beerdigungen und Einäscherungen arrangiert, bis die Zeit kam, dass so etwas für sie selbst arrangiert werden musste. Danach wurde das Institut von einer absolut seriösen, in Zürich eingetragenen Firma gekauft und bot weiterhin erstklassige Dienstleistungen für alle, die in der Gegend lebten – beziehungsweise gelebt hatten. Das aber war nicht mehr der einzige Zweck des Hauses in der Sloane Street. Es war auch das Londoner Hauptquartier der internatio nalen Verbrecherorganisation geworden, die unter dem Namen Scorpia agierte.

Der Name stand für Sabotage, Corruption, Informationsbeschaffung und Attentate: ihre vier wichtigsten Tätigkeitsfelder. Ge gründet wurde die Organisation vor gut zwanzig Jahren in Paris, ihre Mitglieder waren Spione und Killer aus verschiedenen Nachrichtendiensten in aller Welt, die beschlossen hatten, selbst in das Geschäft einzusteigen. Anfangs waren es zwölf. Dann starb einer an Krebs und zwei wurden getötet. Die restlichen neun beglückwünschten sich, dass sie so lange mit so wenigen Verlusten überlebt hatten.

Aber in letzter Zeit hatte sich das Blatt gewendet. Das älteste Mitglied hatte den unklugen und unerklärlichen Entschluss gefasst, in Ruhestand zu gehen, und wurde dementsprechend umgehend exekutiert. Aber sein Nachfolger, eine Frau namens Julia Rothman, wurde ebenfalls getötet. Damit war eine Operation – Unsichtbares Schwert –, bei der ohnehin alles schiefgegangen war, endgültig gescheitert. Das war in mancher Hinsicht der Tiefpunkt der Geschichte von Scorpia, und viele Beobachter glaubten, die Organisation werde sich niemals von diesem Schlag er holen. Schließlich war der Agent, der Scorpia besiegt, die Operation vereitelt und den Tod von Mrs Rothman herbeigeführt hatte, ein vierzehn Jahre alter Junge gewesen.

Aber Scorpia hatte nicht klein beigegeben. Man hatte an dem Jungen Rache geübt und sich wieder der Arbeit zugewandt. Unsichtbares Schwert war nur eins von zahlreichen Projekten, um die man sich zu kümmern hatte, denn die Organisation wurde regelmäßig von Regierungen, Terroristen, großen Konzernen ... und überhaupt jedem, der ihre Dienstleistungen bezahlen konnte, mit Aufträgen versorgt. Und jetzt war es mal wieder so weit. Sie hatten sich in diesem Londoner Haus versammelt, um einen vergleichsweise kleinen Auftrag zu besprechen, für dessen Erfüllung zehn Millionen Pfund ausgesetzt waren, zahlbar in ungeschliffenen Diamanten, die leichter zu transportieren und schwerer zurückzuverfolgen waren als Banknoten.

Die Treppe führte zu einem kurzen Korridor im ersten Stock; dort gab es nur eine Tür. Eine Überwachungskamera hatte den Kahlköpfigen auf seinem Weg nach oben verfolgt. Eine zweite beobachtete ihn, als er sich auf eine merkwürdige Metallplatte vor der Tür stellte und durch eine in die Wand eingesetzte Glasscheibe spähte. Hinter dem Glas befand sich ein biometrischer Scanner, der das einzigartige Muster der Blutgefäße seiner Netzhaut registrierte und mit den in einem Computer unten am Empfangstisch gespeicherten Daten abglich. Hätte nun ein feindlicher Agent versucht, in das Zimmer zu gelangen, wäre durch die metallene Bodenplatte ein tödlicher Stromstoß von zehntausend Volt gejagt worden. Aber dieser Mann war kein Feind. Er hieß Zeljan Kurst und war ein Gründungsmitglied von Scorpia. Die Tür glitt auf und er trat ein.

Das Zimmer war lang und schmal, die drei Fenster waren zugezogen, die weißen Wände kahl. Um einen Glastisch standen Ledersessel, nirgends waren Papier, Schreibgeräte oder irgendwelche Dokumente zu sehen. Denn von diesen Besprechungen wurden grundsätzlich keine Aufzeichnungen gemacht. Nichts Schriftliches. Sechs Männer warteten, bis er seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen hatte. Nach der Katastrophe mit der Operation Unsichtbares Schwert waren nur noch sieben von ihnen übrig.

»Guten Morgen, meine Herren«, begann Kurst. Er sprach mit einem fremden mitteleuropäischen Akzent. Das letzte Wort hatte sich wie »Cherren« angehört. Alle Männer am Tisch waren gleichberechtigte Partner, aber Kurst war zurzeit der Vorsitzende. Für jedes neue Projekt wurde ein anderer Leiter ausgewählt.

Niemand antwortete. Diese Leute waren keine Freunde. Außerhalb der jeweils anstehenden Arbeit hatten sie einander nichts zu sagen.

»Wir haben einen höchst interessanten und anspruchsvollen Auftrag erhalten«, fuhr Kurst fort. »Ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern, dass unser Ruf durch das Scheitern der letzten Aktion schwer beschädigt wurde. Dieses neue Projekt wird uns die erheblichen finanziellen Verluste ersetzen, die wir in Zusammenhang mit Unsichtbares Schwert erlitten haben, und es wird uns wieder ins Geschäft bringen. Es geht um Folgendes: Wir sollen acht außerordentlich wohlhabende und einflussreiche Personen beseitigen. In fünf Wochen werden sie alle an einem Ort versammelt sein und das bietet uns die ideale Gelegenheit. Wie wir vorgehen, bleibt uns überlassen.«

Er sah in die Runde und wartete auf eine Reaktion. Zeljan Kurst, in den Achtzigerjahren leitender Polizeibeamter in Jugo slawien, war bekannt gewesen für seine Liebe zur klassischen Musik – vor allem Mozart – und für seine übertriebene Brutalität. Man erzählte sich, er habe seine Gefangenen mit Opern oder Sinfonien als Hintergrundmusik verhört, und Leute, die die Folter überlebt hatten, hätten das betreffende Musikstück ihr Leben lang nicht mehr ertragen können. Aber er hatte geahnt, dass sein Land eines Tages auseinanderbrechen würde, und hatte daher rechtzeitig gekündigt und die Seiten gewechselt. Er hatte keine Familie, keine Freunde, keine Heimat. Er brauchte Arbeit und er wusste, dass Scorpia ihn reich machen würde.

»Sie werden in der Zeitung gelesen haben«, fuhr er fort, »dass der G-8-Gipfel dieses Jahr im November in Rom stattfinden wird. Dort kommen die Regierungschefs der acht mächtigsten Wirtschaftsnationen zusammen, reden viel, lassen sich fotografieren, speisen viel und teuer und lassen sich ihren Wein schmecken ... und tun absolut nichts. Die interessieren uns nicht. Sie spielen keine Rolle.

Gleichzeitig aber wird auf der anderen Seite der Welt eine zweite Konferenz stattfinden. Sie soll dem G-8-Gipfel Konkurrenz machen, und man könnte das Ganze bloß für einen Reklamegag halten. Dennoch erregt diese Veranstaltung bereits mehr Aufmerksamkeit als der G-8-Gipfel. Die Politiker dort werden kaum noch beachtet. Die Augen der Welt richten sich auf Reef Island, eine Insel vor der Nordwestküste Australiens in der Timorsee.

Die Presse hat diesem Alternativgipfel einen Namen gegeben: Reef-Treffen. Eine Gruppe von acht Personen wird dort zusammenkommen, Sie werden sie alle kennen. Einer von ihnen ist der Popsänger Rob Goldman. Er hat weltweit Millionen für wohltätige Zwecke gesammelt. Ein weiterer ist ein Milliardär, den viele für den reichsten Mann des Planeten halten. Er hat ein ungeheures Imperium aufgebaut, verschenkt sein Vermögen jetzt aber an Entwicklungsländer. Dann haben wir da noch einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Eine berühmte Hollywood-Schauspielerin, Eve Taylor. Ihr gehört die Insel. Und so weiter.« Kurst versuchte gar nicht erst, die Verachtung in seiner Stimme zu verhehlen. »Das sind Amateure, Weltverbesserer – aber sie besitzen Macht und Ansehen und das macht sie gefährlich.

Ihr Ziel, so wie sie es formulieren, lautet: ›Armut wird Geschichte.‹ Um dies zu erreichen, haben sie gewisse Forderungen gestellt, unter anderem Schuldenerlass für arme Länder. Sie verlangen, dass Afrika Millionen von Dollar zur Verfügung gestellt werden zur Bekämpfung von Aids und Malaria. Sie fordern die Beendigung der Konflikte im Nahen Osten. Es wird Sie nicht überraschen, dass viele Regierungen und Unternehmen sich mit diesen Zielen nicht einverstanden erklären. Schließlich ist es nicht möglich, den Armen etwas zu geben, ohne den Reichen etwas zu nehmen; und überhaupt ist Armut etwas Nützliches. Sie sorgt dafür, dass die Leute bleiben, wo sie sind. Und sie hält die Preise niedrig.

Vor sechs Wochen hat ein Vertreter einer der G-8-Staaten Kontakt mit uns aufgenommen. Er wünscht, dass das Reef-Treffen in dem Moment endet, in dem es beginnt – bevor einer dieser Störenfriede sich übers Fernsehen an die Weltöffentlichkeit wenden kann. Und das ist unser Auftrag. Es reicht nicht, die Konferenz zu stören. Alle acht Teilnehmer müssen getötet werden. Dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein werden, erleichtert unsere Aufgabe ungemein. Nicht einer von ihnen darf Reef Island wieder lebendig verlassen.«

Einer der Männer beugte sich vor. Sein Name war Levi Kroll. Er war Israeli, etwa fünfzig Jahre alt. Von seinem Gesicht war kaum etwas zu sehen, denn er trug einen Vollbart und eine Klappe über dem Auge, das er sich früher einmal versehentlich selbst ausgeschossen hatte. »Keine große Sache«, krächzte er. »Ich könnte noch heute Nachmittag einen Apache-Kampfhubschrauber mieten. Sagen wir, zweitausend Schuss 30-mm-Artillerie munition und ein paar lasergesteuerte Hellfire-Luft-Boden-Raketen. Das dürfte reichen, die Konferenz auszulöschen.«

»Leider wird es nicht ganz so einfach sein«, erwiderte Kurst. »Wie gesagt ist dies eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, denn unser Auftraggeber legt Wert darauf, dass die acht Teilnehmer des Reef-Treffens unter keinen Umständen zu Märtyrern werden. Sollten sie bei einem Attentat ums Leben kommen, würde das ihrem Anliegen nur mehr Gewicht verleihen. Daher wünscht er, dass die Sache nach einem Unfall aussieht. Das ist das Entscheidende. Es darf nicht den geringsten Zweifel oder Verdacht geben.«

Leises Murmeln erhob sich ringsum am Tisch, als die Männer von Scorpia diese neue Information zu verarbeiten versuchten. Einen Menschen so zu töten, dass kein Verdacht aufkam, war einfach. Das Gleiche mit acht Leuten auf einer abgelegenen Insel zu tun, die zweifellos streng bewacht werden würde, war jedoch eine ganz andere Sache.

»Es gibt da gewisse Nervengase ...«, brummte jemand. Er war Franzose und hatte ein schwarzes Seidentüchlein in der Brust tasche seines teuren Anzugs. Seine Stimme klang sehr sachlich.

»Wie wär’s mit R5?«, schlug ein Japaner namens Mikato vor. Er hatte einen Diamanten in einem Zahn und war angeblich am ganzen Körper mit Yakuza-Tätowierungen bedeckt. »Das ist das Virus, das wir Herod Sayle geliefert haben. Vielleicht können wir es in die Trinkwasserversorgung der Insel einspeisen.«

Kurst schüttelte den Kopf. »Meine Herren, diese beiden Methoden wären zwar effektiv, könnten aber bei kriminaltechnischen Untersuchungen aufgedeckt werden. Was wir brauchen, ist eine Naturkatastrophe, und zwar eine, die wir selbst auslösen. Wir müssen die gesamte Insel vernichten und alle, die sich darauf befinden, jedoch so, dass keine Fragen aufkommen können.«

Nun wandte er sich an den Mann, der ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches saß. »Major Yu?«, sagte er. »Haben Sie über die Angelegenheit nachgedacht?«

»Allerdings.«

Major Winston Yu war mindestens sechzig, sein dichter Haarschopf war vollkommen weiß – ungewöhnlich für einen Chinesen. Die Haare wirkten künstlich, wie eine Kinderfrisur, mit einem Pony bis zu den Augenbrauen; das Gesicht darunter sah aus wie aus gelbem Wachs, aber verschrumpelt wie eine überreife Frucht. Mit seiner runden Brille, den schmalen Lippen und den viel zu kleinen Händen war er die am wenigsten imposante Erscheinung im Raum. Alles an ihm wirkte zierlich. Er hatte die ganze Zeit unbewegt am Tisch gesessen, als fürchtete er zu zerbrechen. An seinem Sessel lehnte ein Spazierstock, um dessen Griff sich ein silberner Skorpion wand. Er trug einen weißen Anzug und hellgraue Handschuhe.

»Ich habe mich lange mit dieser Operation beschäftigt«, erklärte er. »Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es sich in der Tat um eine recht komplizierte Aufgabe zu handeln, jedoch haben wir drei sehr günstige Umstände auf unserer Seite. Erstens be fin det sich diese Insel, Reef Island, genau am richtigen Ort. Zweitens ist der Termin in fünf Wochen genau der richtige Zeitpunkt. Und drittens gibt es die Waffe, die wir brauchen, hier in England, keine dreißig Meilen von London entfernt.«

»Und was für eine Waffe soll das sein?«, fragte der Franzose.

»Eine Bombe. Freilich eine ganz besondere Bombe – ein Prototyp. Soweit ich weiß, gibt es nur ein einziges Exemplar davon. Die Briten haben ihr einen Codenamen gegeben. Royal Blue.«

»Major Yu hat vollkommen Recht«, unterbrach ihn Kurst. »Royal Blue befindet sich zurzeit in einer geheimen Waffenfabrik außerhalb von London. Das ist auch der Grund, warum wir unser Treffen hier abhalten. Wir beobachten die Fabrik seit einem Monat und haben bereits ein Team in Bereitschaft. Am Ende dieser Woche wird die Bombe in unserem Besitz sein. Danach, Major Yu, übernehmen Sie die Leitung der Operation. «

Major Yu nickte bedächtig.

»Mit allem Respekt, Mr Kurst«, meldete sich Levi Kroll zu Wort. Seine Stimme klang unangenehm und kein bisschen respektvoll. »Ich hatte den Eindruck, dass ich bei der nächsten Operation das Kommando führen sollte.«

»Sie werden sich leider gedulden müssen, Mr Kroll. Sobald wir Royal Blue in Besitz genommen haben, wird die Bombe nach Bangkok geflogen und auf dem Seeweg zu ihrem Bestimmungsort gebracht. Sie kennen sich in dieser Region nicht aus. Major Yu jedoch arbeitet seit zwei Jahrzehnten dort, in Bangkok, Jakarta, Bali und Lombok. Und er hat einen Stützpunkt im Norden Aus traliens. Er kontrolliert ein gewaltiges kriminelles Netzwerk – sein shetou oder Snakehead. Diese Organisation wird den Transport der Waffe übernehmen. Sie ist in diesem Fall am besten für unsere Belange geeignet.«

Der Israeli nickte knapp. »Sie haben Recht. Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.«

»Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, erwiderte Kurst, aber das war gelogen. Er fand, Levi Kroll sprach zu oft, ohne vorher nachzudenken. Eines Tages würde er Scorpia verlassen müssen. »Major?«

Es blieb nur noch wenig zu sagen. Winston Yu nahm die Brille ab und putzte sie mit seinen behandschuhten Fingern. Die Lider über seinen metallisch grau schimmernden Augen waren kaum zu sehen. »Ich werde meinen Leuten in Bangkok und Jakarta Bescheid sagen, dass die Maschine demnächst auf die Reise geht«, murmelte er. »Für die unauffällige Anlieferung in der Nähe von Reef Island ist bereits alles arrangiert. Was diese Konferenz mit ihren hochgesteckten Zielen angeht, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich kann Ihnen versichern, dass sie niemals statt finden wird.«

 

Zwei Tage später verließ um achtzehn Uhr ein blauer Renault Megane die M11 über eine mit NUR FÜR BETRIEBSFAHRZEUGE gekennzeichnete Ausfahrt. Es gibt viele solche Ausfahrten an den britischen Autobahnen. Tausende Autos rasen stündlich daran vorbei und die Fahrer schenken ihnen keine Beachtung. Tatsächlich sind die meisten dieser Ausfahrten vollkommen harmlos und führen lediglich zu Betriebshöfen oder Verkehrsüberwachungsstellen. Aber auch die Autobahnen haben ihre Geheimnisse. Als der Megane langsam vor einem Flachbau ausrollte, der wie ein ganz normales Bürogebäude aussah, wurde er von drei Überwachungskameras verfolgt und versetzte die Wachleute in Alarmbereitschaft.

In Wirklichkeit war dieses Gebäude ein Waffenforschungszentrum des Verteidigungsministeriums. Nur wenige Leute wussten von seiner Existenz und noch weniger hatten Zutritt. Das Auto, das soeben vorgefahren war, hatte hier nichts zu suchen, und die Wachleute – Angehörige der Spezialeinheiten – hätten auf der Stelle Alarm auslösen müssen. So sah es die Dienstanweisung vor.

Aber der Renault Megane ist ein harmloses und gewöhnliches Familienauto und dieser hier hatte offensichtlich einen schlimmen Unfall gehabt. Die Windschutzscheibe war zertrümmert, die Motorhaube eingedrückt. Der Kühler dampfte. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann in grünem Anorak und Mütze, neben ihm eine Frau mit blutüberströmtem Gesicht. Schlimmer noch, hinten saßen zwei kleine Kinder, und obwohl das Bild auf dem Monitor leicht unscharf war, schien es ihnen sehr schlecht zu gehen. Sie bewegten sich nicht. Die Frau stieg aus, brach dann aber zusammen. Ihr Mann blieb wie betäubt sitzen.

Zwei Wachleute liefen hinaus. Das war nur eine natürliche Reaktion. Da war eine junge Familie, die Hilfe brauchte; und ein Sicherheitsrisiko bestand offenbar nicht. Die Eingangstür fiel hinter ihnen zu; um sie wieder zu öffnen, musste ein siebenstelliger Code eingegeben werden. Beide Männer trugen Funkgeräte und 9-mm-Automatikpistolen der Marke Browning unter ihren Jacken. Die Browning ist eine alte, aber sehr zuverlässige Waffe und beim SAS sehr beliebt.

Die Frau lag immer noch am Boden. Der Mann auf dem Fahrersitz stieß mühsam die Tür auf, als die zwei Wachmänner herantraten.

»Was ist passiert?«, fragte einer der beiden.

Erst jetzt, als es zu spät war, ging den beiden Wachleuten auf, dass da etwas nicht stimmen konnte. Ein Auto, das auf der Autobahn einen Unfall hatte, wäre einfach auf den Seitenstreifen gefahren – falls es überhaupt noch fahren konnte. Und wieso nur ein Auto? Wo waren die anderen beteiligten Fahrzeuge? Wo war die Polizei? Und die letzten Zweifel zerstreuten sich, als die zwei Wachmänner in das Auto hineinspähten. Die Kinder auf dem Rücksitz waren Puppen. Mit ihren billigen Perücken und den lächelnden Plastikgesichtern sahen sie aus wie Wesen aus einem Albtraum.

Die Frau am Boden fuhr herum und hatte plötzlich ein Maschinengewehr in der Hand. Sie traf den ersten Wachmann in die Brust. Der zweite ging sofort in Kampfposition und griff nach seiner Waffe. Aber er hatte keine Chance. Auf dem Schoß des Fahrers lag eine Uzi mit Schalldämpfer. Er packte sie und schoss. Mit leisem Flüstern feuerte die Maschinenpistole in weniger als einer Sekunde zwanzig Kugeln ab. Der Wachmann wurde nach hinten geschleudert.

Das Paar war bereits aufgesprungen und rannte auf das Gebäude zu. Noch kamen sie nicht hinein, aber das war auch nicht nötig. Sie liefen zur Rückseite, wo ein zwei mal zwei Meter großer Metallkasten am Mauerwerk angebracht war. Der Mann trug einen Werkzeugkasten, den er aus dem Auto mitgenommen hatte. Die Frau blieb kurz stehen und schaltete mit drei Feuerstößen die Überwachungskameras aus. In diesem Augenblick kam ein Krankenwagen die Ausfahrt von der Autobahn herunter und hielt hinter dem Megane.

Die nächste Phase der Aktion nahm sehr wenig Zeit in Anspruch. Das gesamte Gebäude war mit einer Anlage ausgestattet, die chemische, biologische und radioaktive Substanzen aus der Luft herausfiltern konnte. Damit sollten feindliche Angriffe abgewehrt werden, nun aber wurde die Anlage gegen sich selbst gerichtet. Der Mann nahm einen Minischweißbrenner aus seinem Werkzeugkasten und schweißte die Schrauben heraus, sodass er eine Abdeckplatte abnehmen konnte, hinter der ein kompliziertes Gewirr von Rohren und Drähten zum Vorschein kam. Er zog eine Gasmaske unter seinem Anorak hervor und stülpte sie sich übers Gesicht. Dann nahm er eine Ampulle aus dem Werkzeugkasten. Sie war aus Metall, nur wenige Zentimeter lang. An einem Ende war sie mit einem Dorn versehen, am anderen mit einem winzigen Griff. Er wusste genau, was er tat. Mit dem Handballen rammte er den Dorn in eins der Rohre. Und schließlich drehte er den Griff herum.

Mit kaum hörbarem Zischen strömte das Zyankali in die Luft, die von der Anlage im ganzen Gebäude verteilt wurde. Unterdessen näherten sich vier als Rettungssanitäter verkleidete Männer mit Gasmasken dem Haupteingang. Einer von ihnen drückte ein magnetisches Kästchen von der Größe einer Zigarettenschachtel auf das Türschloss und trat zurück. Es gab eine Explosion und die Tür schwang auf.

Es war Abend, nur ein halbes Dutzend Leute arbeiteten noch in dem Gebäude, hauptsächlich Techniker und der Sicherheits chef. Er hatte gerade versucht, einen Notruf abzusetzen, als er das Gas einatmete. Er lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Fußboden, den Hörer hielt er noch in der Hand.

Die vier Sanitäter kannten den Weg genau: durch den Eingangsbereich und am Ende eines Korridors durch eine Tür, auf der ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE stand. Die Bombe lag vor ihnen. Sie sah bemerkenswert altmodisch aus, wie ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg: ein riesiger silberner Metallzylinder, an einem Ende flach, am anderen spitz. Nur der in die Ummantelung eingebaute Monitor und eine Reihe digitaler Steuerelemente wiesen aufs einundzwanzigste Jahrhundert hin. Die Bombe war auf einen Transportkarren geschnallt und das Ganze würde exakt in den Krankenwagen passen. Aus diesem Grund hatte man sich für ein solches Fahrzeug entschieden.

Sie schoben die Bombe durch den Korridor und ins Freie. Der Krankenwagen war mit einer Rampe ausgestattet und die Bombe glitt ohne Weiteres hinein. Jetzt war nur noch Platz für den Fahrer und einen Beifahrer. Die anderen drei Männer und die Frau stiegen in den Megane. Die Kinderpuppen blieben zurück. Die ganze Operation hatte achteinhalb Minuten gedauert. Dreißig Sekunden weniger als geplant.

Als eine Stunde später in London und anderen Teilen des Landes Alarm ausgelöst wurde, waren alle Beteiligten längst verschwunden. Die Perücken, Kontaktlinsen und sonstigen Utensilien, mit denen sie sich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet hatten, waren entsorgt. Die beiden Fahrzeuge hatten sie in Brand gesteckt.

Und die Waffe mit dem Namen Royal Blue war bereits auf dem Weg nach Osten.