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Zwischen dem Regierungsviertel von Neu-Genf und der Nabe von
Capstone auf Plinry hatte Caine eine Menge Festungsstädte gesehen,
aber Athena war einzigartig. Die Hügel des Hogback schützten es im
Westen, der Green Mountain erhob sich im Norden, und es sah
überhaupt nicht wie eine Festungsstadt aus. Der einfache
Maschendrahtzaun und die von Scheinwerfern beleuchtete äußere
Umgrenzungslinie waren beinahe ein Atavismus aus einem Zeitalter,
in dem es noch keine ausgeklügelten Sensoren und automatische
Abwehreinrichtungen gegeben hatte. Zwar waren am oberen Rand des
Zauns Sensoren angebracht, aber die Waffen, die auf die Anzeigen
der Sensoren reagieren sollten, glänzten durch Abwesenheit, und
zwar so offensichtlich, dass ein entsprechend naiver Angreifer
tatsächlich auf die Idee hätte kommen können, die Stadt wäre ein
leichtes Ziel.
Es sei denn, ihm fielen die flachen Gebäude auf dem Green Mountain
auf.
»Fertig«, murmelte Alamzad und unterbrach damit Caines
Gedankengang. Caine wandte sich ihm wieder zu. Die drei
behelfsmäßigen Katapulte waren tatsächlich fertig. Das elastische
Gewebe war straff gespannt und an den im Dach versenkten Bügeln
befestigt. Auf dem Dach befanden sich insgesamt vier Männer. »Sieht
gut aus«, stellte Caine anerkennend fest. »Glauben Sie, dass sie
Zeit haben werden, zu explodieren, bevor die Laser dort drüben sie
erwischen?«
»Das werden wir bald genug merken«, meinte Alamzad. »Aber wir haben
die Sprengkapseln ausreichend in Hitze ableitendes Material
gewickelt, um ihnen eine Chance zu geben.«
Caine nickte. Es spielte zwar kaum eine Rolle - Laserfeuer über
Athena würde beinahe genauso viel Aufmerksamkeit erregen wie
Laserfeuer plus Explosionen, aber die zusätzliche Geräuschkulisse
würde dem Ganzen den letzten Schliff geben. »Okay. Machen Sie sie
abschussbereit!« Er griff nach seinem Pocher.
Braune: Erregen wir die Aufmerksamkeit unfreundlicher
Menschen?
Nein.
Caine lächelte. Als sie von der Wasserwiedergewinnungsanlage
zurückgekehrt waren, hatten ihnen Pittman und Braune die Trophäe
präsentiert, die sie selbst organisiert hatten: ein Satz
Autokennzeichen und Polizeisender, die sie sich für diese Nacht von
einem Fahrzeug ausgeliehen hatten, das einige Blocks von ihrem
Versteck entfernt geparkt war. Sie hatten es auf ihren Wagen
transplantiert; diese Tarnung sollte ihnen den Sicherheitsdienst
wenigstens für den Rest der Nacht vom Hals halten.
»Alles fertig«, meldete Alamzad, dessen Gesicht kurz von einer
aufflackernden Flamme beleuchtet wurde. »Verzögerungsschnüre
brennen - wir haben fünf Minuten, um auf Distanz zu gehen.«
Die Schnüre brannten genau sechseinhalb Minuten, und sie sahen aus
einer Entfernung von vier Häuserblocks zu, wie die winzigen
Sprengladungen im Bogen durch die Luft flogen und wie die helleren
Laserstrahlen von der Bergspitze auf sie zuschossen.
Drei Miniaturbomben pro Schlinge - insgesamt neun - und mindestens
vier von ihnen gelang es, ein leises Krachen zu erzeugen, bevor sie
sich in kleine Wölkchen auflösten.
»Das wär's«, stellte Caine fest, als die kurze Son et
lumière-Show vorbei war. »Gehen wir nach Hause, bevor sie
Aufklärer ausschicken, die jemanden suchen, den sie dafür
verantwortlich machen können.«
»Glauben Sie, dass sie es überhaupt bemerken werden?«, fragte
Colvin.
»Wenn ich der diensthabende Offizier wäre, würde ich es bemerken«,
antwortete Caine. »Außerdem ist es uns ohnehin gleichgültig, ob der
Sicherheitsdienst es merkt.«
»Hauptsache, die Fackel bekommt es mit«, murmelte Pittman.
»Richtig. Wenn es nicht klappt, müssen wir uns etwas
Spektakuläreres einfallen lassen.«
Die Laser hatten den Nachthimmel aufgehellt, während sich Galway
auf dem Heimweg vom Shandygaff befand, und er war beinahe darauf
gefasst gewesen, bei seiner Rückkehr Tote, Chaos und ein zerstörtes
Eingangstor vorzufinden. Doch diese Angst vergaß er bald; bis auf
das aufgestockte Wachkontingent am Tor sah alles genauso aus wie
vor einigen Stunden, als er fortgegangen war. Aber er war lange
genug Sicherheitspräfekt und nahm daher nicht an, dass im Lageraum
die gleiche Ruhe herrschte, womit er recht hatte.
Er hatte aber nicht vorhergesehen, dass Quinn anwesend sein
würde.
»Wir haben drei davon auf dem Dach genau an der von der
ballistischen Zurückverfolgung errechneten Stelle gefunden«,
berichtete jemand über das Kommunikationssystem, als Galway
eintraf. Der Monitor zeigte ein katapultartiges Gebilde, das von
zwei Sicherheitsmännern vorsichtig untersucht wurde.
»Irgendwelche Hinweise auf Fernsteuerung oder Zeitzünder?«, fragte
Quinn.
»Asche, die von einer Verzögerungsschnur stammen könnte«,
antwortete der Sicherheitsmann. »Wir werden es erst mit Sicherheit
wissen, wenn sie analysiert worden ist.«
Quinn warf Galway einen Blick zu und wandte sich dann wieder dem
Monitor zu. »Vergewissern Sie sich, dass sie keine versteckten
Sprengladungen enthalten, und bringen Sie sie dann hierher.«
»Ja, Sir.«
Quinn drehte sich zu einem Mann um, der hinter ihm stand. »Haben
Sie etwas Neues über den Einbruch in die Wasserstation?«
»Es handelt sich eindeutig um Caine und Braune.«
Der Mann überreichte Quinn ein Blatt Papier.
»Positive Identifizierung durch jeden, der sie gesehen hat. Sie
sind mit einer Schachtel mit fünfzig AK-29 Sprengkapseln
verschwunden, deren Sprengkraft mit 0,2 bewertet wird. Kaum stärker
als kleine Knallfrösche.«
»Wir können wohl annehmen, dass sie mehr vorhaben, als zu ihrem
Vergnügen ein bisschen Lärm zu machen«, sagte Quinn eisig.
»Schicken Sie den Bericht zur Analyseabteilung! Sie soll
herausfinden, ob dies der Stärke der Bomben entspricht, die vor
einer halben Stunde über Athena gezündet wurden.«
Der Mann schluckte. »Ja, Sir.« Er verschwand eiligst.
»Idiot«, murmelte Quinn und wandte sich zum ersten Mal Galway zu.
»Hat Sie der Lärm geweckt?«
Galway schüttelte den Kopf. »Ich war noch auf - in der
Shandygaff-Bar.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Zutritt für Sie verboten
ist.«
»Sie sind hier, General. Zumindest Lathe und Skyler - und nach dem
Gemetzel vor dem Lokal zu urteilen, müssen mit ihnen mindestens
noch zwei Leute hierhergekommen sein.«
Quinn stieß zischend die Luft aus. »Ich sollte Ihnen die Haut bei
lebendigem Leib abziehen lassen. Es ist wahrscheinlich unmöglich,
dass Sie sich geirrt haben.«
»Allerdings. Aber das ist noch nicht alles: Zwei Ihrer örtlichen
Blackcollars haben den beiden geholfen, sich durchzuschlagen.«
Quinn kniff die Augen zusammen. »Zwei Blackcollars haben ihnen
geholfen? Vielleicht haben sie nur nichts unternommen, um die
beiden aufzuhalten.«
»Sie haben ihnen sehr aktiv geholfen. Einer von ihnen war
Kanai - er wird in Ihren Akten als Kontaktmann der Gruppe
bezeichnet -, und er hat nicht nur die Gegner abgelenkt, sondern
auch den Reservemann an der Bar ausgeschaltet.«
»Sie werden ihn bei lebendigem Leib braten.« Quinn schüttelte den
Kopf. »Er sucht die Bar jede Woche auf - für so etwas wird Nash
seinen Kopf verlangen.«
Ich habe Sie davor gewarnt, Ihre Blackcollars zu
unterschätzen. Die Worte lagen Galway auf der Zunge, aber er
schluckte sie hinunter. Es war für den General schon demütigend
genug, dass er einen Fehler zugeben musste; Galway musste ihn nicht
auch noch daran erinnern, dass er von Anfang an recht gehabt hatte.
»Soll ich die Fotos von Lathe und den anderen kopieren lassen,
damit sie überall verteilt werden können?«, fragte er
stattdessen.
»Was kann ihnen Lathe geboten haben, das ihnen das Risiko wert war,
den Shandygaff-Schuppen auf den Kopf zu stellen?«, fragte
Quinn.
Galway runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit? Lathe muss keine
Geschäfte machen, er verfügt über die Autorität, die Gruppe wieder
in vollen Kampfstatus zu bringen.«
»Unsinn! Ich kenne diese Leute, Galway, sie fangen bestimmt nicht
wieder an, einen dreißig Jahre toten Krieg auszugraben. Nein, Lathe
hat ein Geschäft mit ihnen abgeschlossen, und die einzige Frage
ist, worin der Gewinn besteht.«
Galway holte tief Luft. »Ich stelle Ihre Kenntnis von der Stadt und
ihren Bewohnern nicht infrage, General, aber ist es nicht möglich,
dass Kanai und seine Leute sich still verhalten und nur auf eine
solche Gelegenheit gewartet haben?«
»Eine Gelegenheit wofür? Sie haben mir bis jetzt nicht einmal eine
plausible Mission für Caine präsentieren können, ganz zu schweigen
von einer Mission, für die er Lathe brauchen würde.«
»Ich habe Berichte vorgelegt...«
»Ich habe plausible Missionen gesagt«, unterbrach ihn Quinn.
»Dass jemand in die Basis Aegis eindringen will, ist kaum
plausibel.«
Galway unterdrückte mit Mühe einen Wutanfall. »Also gut, was wollen
Sie jetzt unternehmen?«
»Wir werden Caine finden«, erklärte Quinn grimmig. »Ihr Plan mit
Postern ist offensichtlich danebengegangen - entweder ist er
übergelaufen, oder sie sind ihm auf die Schliche gekommen.«
»Er würde nie überlaufen...«
»Verschonen Sie mich mit Ihren unqualifizierten Ansichten. Postern
hat versagt, und seit heute Abend ist Caine mehr als nur ein
lästiger Störenfried. Ganz gleich, was er vorhat, er hat begonnen,
es auszuführen, und ich habe genug davon, hier herumzusitzen und
auf Anrufe zu warten. Von diesem Augenblick an hat die Jagd auf ihn
absolute Priorität. Wir werden uns den Wagen holen, mit dem er aus
den Bergen entkommen ist, und wir werden alle Meldungen über
gestohlene Fahrzeuge überprüfen, für den Fall, dass er das Fahrzeug
gewechselt hat. Und wenn wir ihn finden, bringen wir ihn
hierher!«
»Wenn Sie das tun, wird sich Präfekt Donner Ihren Skalp holen.« Mit
Galways Selbstbeherrschung war es vorbei. »Das heißt, wenn die
Ryqril Sie nicht zuerst zu fassen kriegen.«
Ȇberlassen Sie es mir, mit Donner und den Ryqril fertig zu werden!
Ganz gleich, wie Sie ihnen dieses Abkommen untergejubelt haben, ich
werde es annullieren.«
Galway biss die Zähne zusammen und kämpfte seine Frustration
nieder, bis er wieder fähig war, zu sprechen. Quinn konnte sich den
Luxus einer persönlichen Fehde leisten; Galway konnte es nicht.
Hier stand Plinrys Überleben auf dem Spiel. »Wären Sie zumindest
bereit, mit Präfekt Donner darüber zu sprechen, bevor Sie Ihre
Brücken verbrennen?«
Quinn schien ihn abzuschätzen. »Ich verspreche nichts«, antwortete
er schließlich. »Wir wollen erst einmal sehen, wie viel Mühe es uns
macht, ihn zu finden.«
»Wollen Sie, dass inzwischen Lathes Bild in Umlauf gebracht
wird?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, ist es mir lieber, wenn ich mich
immer nur mit einer Gruppe befasse. Außerdem können wir Lathe
jederzeit finden, wenn wir ihn brauchen - oder haben Sie vergessen,
dass er sich offensichtlich mit Kanai zusammengetan hat?« Quinn sah
auf die Tür. »Morgen erwartet uns ein anstrengender Tag, deshalb
sollten Sie jetzt schlafen gehen.«
Er war entlassen. »Ja, Sir. Ich werde dann morgen früh mit Ihnen
sprechen.«
Galway drehte sich um und stolzierte zur Tür hinaus. Im Augenblick
hatte er mehr als genug von Quinn; in einer Beziehung hatte der
General allerdings recht:
Morgen würde ein anstrengender Tag werden.