17
Die Sonne stand im Westen tief am Himmel, als die beiden
Kastenwagen Regers Privatfestung verließen, die trügerisch
friedliche Straße zum Highway entlangfuhren und dann nach links zum
Zentrum von Denver abbogen. Caine saß im ersten Fahrzeug hinten auf
dem Boden, drehte seine Schleuder und seinen nunchaku nervös
zwischen den Fingern und versuchte erfolglos, eine Sicherheit
auszustrahlen, die er nicht empfand. Es war vergebliche Liebesmüh:
Colvin und Alamzad, die ihm gegenübersaßen, waren selbst viel zu
nervös, um auf ihn zu achten, während Mordecai, der angeblich mehr
über Lathes Plan wusste als Caine, keine Beruhigungspille
brauchte.
Aber vielleicht war das sein Normalzustand.
Caine fuhr sich zum tausendsten Mal mit der Zunge über die Lippen,
streifte die Flexarmorhandschuhe ab und rieb sich die Augen.
»Schutzbrille aufsetzen!«, sagte Mordecai vom Vordersitz aus. »Und
Handschuhe anziehen. Wir befinden uns in der Kampfzone.«
Caine gehorchte und fragte sich, wie, zum Teufel, Blackcollars mit
dem Hinterkopf so ausgezeichnet sehen konnten.
Pittman rückte sich hinter dem Lenkrad zurecht.
»Da vorn ist die New Hampdon«, erklärte er Mordecai. »Biege ich auf
sie ein, oder fahre ich an den Randstein und warte auf die
anderen?«
»Einbiegen! Bis zum Zaun ist es noch mindestens ein Kilometer -
Lathe hat also genügend Zeit, um zu uns aufzuschließen.«
»Okay.« Der Kastenwagen bog um die Ecke, und Caine verrenkte sich
den Hals, um einen Blick durch die Windschutzscheibe zu werfen. Es
war zermürbend, in die Gefahr hineinzufahren, ohne zu sehen, was
einen erwartete.
Alamzad räusperte sich. »Nehmen wir an, dass wir durch den Zaun
kommen, ohne dass die Laser uns erledigen - haben wir eine Ahnung,
wo der Sicherheitsdienst Anne Silcox versteckt hat?«
»Natürlich im Gebäude des Sicherheitsdienstes«, warf Mordecai ein.
»Machen Sie sich keine Sorgen - es sollte leicht zu finden
sein.«
»Natürlich - das Gebäude, um das die Truppen herumstehen und auf
uns schießen«, stellte Colvin fest.
»Außerdem hat es einen Landeplatz auf dem Dach«, erklärte Mordecai.
»Sogar in Athena gibt es nicht viele solche Gebäude...«
Er unterbrach sich, als ihre Pocher sich einschalteten: Zu
beiden Seiten Aufklärer des Sicherheitsdienstes. Operation
abbrechen! Mordecai fluchte leise. »Biegen Sie bei der nächsten
Ecke rechts ab, Pittman. Wir schlagen einen Kreis nach Norden und
treffen uns mit den anderen...«
Die Fenster des Wagens lagen unvermittelt in gleißendem Licht.
Das Fahrzeug hielt mit einem Ruck, und die drei Männer hinten
wurden durchgerüttelt. Einen Augenblick lang glaubte Caine, dass
sie direkt von einem Flugabwehrlaser getroffen worden waren, doch
noch während er sich in die Hocke aufrichtete, bemerkte er, dass
die Wände um sie nicht schmolzen und dass die Luft im Wagen heiß,
aber nicht glühend war.
»Was...?«
»Lasertreffer in Motor und Reifen«, meldete Mordecai. Er war
bereits aus dem Gurt geschlüpft und kämpfte mit der durch die Hitze
verzogenen Tür. »Alles raus! - Draußen haben wir bessere
Chancen.«
Caine stürzte zur hinteren Tür des Wagens, zog den Hebel herunter
und stieß die Tür auf. Er sprang hinunter, hob die Hände, in denen
er shuriken hielt - und erstarrte ungläubig.
Zu beiden Seiten der Straße standen hinter einem Schutzwall aus
Quickschaum mindestens fünfzig Sicherheitsmänner mit angelegten
Lasern. Lathes Wagen war wenige Meter hinter ihnen stehen
geblieben; hinter ihm blockierte eine rasch errichtete Sperre die
Straße. Instinktiv schleuderte Caine trotzdem die shuriken,
aber der Geschmack der Niederlage stieg ihm bereits wie Erbrochenes
in den Mund. Das Spiel war aus, und die Größe und Kampfbereitschaft
der gegen sie eingesetzten Truppe wies darauf hin, dass sie
informiert worden waren.
Reger hatte sie verraten.
»Sie können nicht entkommen«, dröhnte eine elektrisch verstärkte
Stimme von irgendwo und hallte von den Gebäuden ringsum wider.
»Hier spricht General Quinn, Lathe. Heben Sie die Hände und ergeben
Sie sich - alle -, oder ich verbrenne Sie an Ort und Stelle.
Schauen Sie hinauf, wenn Sie mir nicht glauben!«
Caine warf einen Blick zum Himmel. Etwa hundert Meter über ihnen
schwebte ein langer, haifischförmiger Flieger, und in dem sich
spiegelnden Grav-Licht erkannte man deutlich die Waffenbehälter zu
beiden Seiten des Rumpfes. Das war die Feuerkraft, die ihre
Fahrzeuge außer Gefecht gesetzt hatte - und das Gleiche mit den
Insassen tun konnte.
Taktik, Strategie, unerwartete Zwischenfälle - Caines gesammelte
Ausbildung verschmolz zu einem nutzlosen Konglomerat. Colvin und
Alamzad hockten noch hinter der Tür des Kastenwagens und warteten
darauf, dass jemand die Führung übernahm, sodass sie sich
anschließen konnten. Sie warteten darauf, dass Caine etwas
unternahm.
Er konnte es einfach nicht. Ganz gleich, wofür er sich entschied,
es würde ihren sofortigen Tod bedeuten. Sein erstes Team - und er
hatte versagt.
Eine ruhige Stimme durchdrang seine Verzweiflung. »Tun Sie, was der
Mann sagt, Caine!«, riet ihm Mordecai. »Aber geben Sie die Hoffnung
nicht auf!«
Caine schluckte schwer und hob die Hände über den Kopf.
Der Mann, der die Operation leitete, war jedenfalls kein Dummkopf.
Weder die Männer hinter den Barrikaden, noch das Kampfflugzeug über
ihnen rührten sich, bevor alle zehn Gefangenen im Freien
standen.
Erst dann trat eine neue Gruppe von Sicherheitsmännern vor, von
denen einige schwere Magnetschlosshandschellen bei sich hatten.
Beim Anblick der Handschellen schnürte sich Caines Hals zusammen...
das hatte er schon einmal erlebt, doch ihm wurde schmerzlich klar,
dass sich die Geschichte nicht wiederholen würde.
Dann war die Gruppe so nahe, dass man die Gesichter unterscheiden
konnte... und die Handschellen waren plötzlich vergessen.
»Galway!«, stieß Caine hervor.
»Caine.« Der Präfekt nickte ernst. Sein Blick überflog die Gruppe
und fand Lathe, doch jemand drängte sich an ihm vorbei und trat vor
den Comsquare.
»Comsquare Lathe, ich bin General Quinn«, stellte er sich mit
grimmiger Befriedigung vor. »Hiermit teile ich Ihnen mit, dass das
Abkommen zwischen General Lepkowski und den Ryqril, soweit es Sie
und Ihre Männer betrifft, nicht mehr in Kraft ist. Sie befinden
sich in offenem Aufruhr gegen das Ryqril-Imperium und seine
Regierung und haben daher Gefängnis und eine entsprechende Strafe
für Ihre Aktionen zu gewärtigen...«
»Ersparen Sie uns die offizielle Rede, General«, unterbrach ihn
Lathe. Seine Stimme klang ruhig, doch stählern.
Offenbar bemerkte es der General, denn sein triumphierender
Gesichtsausdruck ließ ein wenig nach. Doch er erholte sich schnell.
»Wie ich sehe, gehört Prahlerei noch immer zum Arsenal der
Blackcollars. Ich würde vorschlagen, dass Sie aufhören, mich mit
Ihrem Stoizismus beeindrucken zu wollen. Von nun an entscheide ich
über Ihr Schicksal: Es hat mir immer schon besondere Befriedigung
bereitet, Menschen zu zerbrechen, die behauptet haben, dass man sie
nicht zerbrechen kann.«
»Sie irren sich«, widersprach Mordecai.
Alle Blicke wandten sich dem kleinen Blackcollar zu. »Womit irre
ich mich?«, fragte Quinn drohend.
»Damit, dass Sie über unser Schicksal entscheiden. Sie besitzen nur
so viel Macht, wie wir Ihnen zugestehen. Ich habe beschlossen,
Ihnen überhaupt keine zuzugestehen.«
Quinn sog die Luft scharf ein, weil er plötzlich wusste, was kommen
würde. »Wächter!«, befahl er.
Doch es war zu spät. Mordecais rechte Hand fuhr zu seinem Gesicht
unterhalb der Schutzbrille. Licht spiegelte sich in Metall - und
während die Männer des Sicherheitsdienstes vorstürzten, brach
Mordecai zusammen.
»Ärzteteam!«, rief Quinn zu den Barrikaden. »Wächter - legt ihnen
endlich die Handschellen an! Es könnte ein Trick sein.«
Caine straffte sich, während er Lathe aus dem Augenwinkel
beobachtete, weil er annahm, dass dieser das Zeichen zum Angriff
geben würde. Doch das Zeichen kam nicht. Mordecais Reaktion hatte
Lathe offenbar einen Schock versetzt. Als sich die massiven
Handschellen um Caines Arme schlossen, wurde ihm endgültig klar,
dass es sich doch nicht um eine List gehandelt hatte.
»Also?«, fragte Quinn ungeduldig, während der Arzt neben Mordecais
regungslosem Körper kauerte und seine Instrumente leise
summten.
»Paralyt-Schock«, antwortete dieser, zog eine Spritze auf und
zerrte an Mordecais Handschellen.
»Nehmen Sie ihm das Zeug ab, ich muss ihm eine Injektion
verabreichen.«
»Ist es vielleicht möglich, dass er es nur vortäuscht?«, fragte
Galway, als einer der Sicherheitsmänner mit dem Schlüssel
vortrat.
»Vollkommen unmöglich. Ja, ganz abnehmen, danke.« Der Arzt zog
Mordecai einen Handschuh aus und stach die Nadel in das Handgelenk.
»Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus bringen, General - ich habe
ihn stabilisiert, aber das hält nicht lange an. Er hat eine
Überdosis einer Paralytdroge genommen, das entspricht mehreren
Schüssen aus einer Pfeilpistole.«
»Dann geben Sie ihm das Gegenmittel«, knurrte Quinn. »Wir haben es
ja.«
»Aber ich kann hier nicht feststellen, welche Droge er eingenommen
hat. Alle Gegenmittel sind Gifte, wenn sich das entsprechende
Paralyt noch nicht im Blutkreislauf befindet. Wenn ich ihm das
falsche Gegenmittel spritze, töte ich ihn beinahe
augenblicklich!«
Quinn verzog das Gesicht, nickte aber. »Also gut, lassen Sie die
Ambulanz kommen! Ich will verdammt sein, wenn ich ihn mir entgehen
lasse.« Er wandte sich den anderen zu. »Der Rest geht zu der
Barrikade hinüber, bis der Transporter eintrifft.«
»Einen Augenblick«, sagte Pittman zögernd und trat zu der Gruppe um
Mordecai. Die Sicherheitsmänner ließen ihn durch.
Erst jetzt merkte Caine erschrocken, dass Pittman der Einzige war,
der keine Handschellen trug.
»Pittman?«, fragte er. »Was...?«
»Es tut mir leid, Caine.« Pittman sprach leise und blickte dabei zu
Boden. »Galway, Mordecai trägt eine Disc bei sich, die Sie brauchen
können.«
»Pittman!«, stieß Colvin hervor. »Du dreckiger, stinkender
Verräter. Warum, zum Teufel...?«
»Weil mir nichts anderes übrig bleibt!« Pittman kniete neben
Mordecai nieder. Ȇberhaupt nichts anderes. Wenn du mich
verfluchst, verfluche auch die Ryqril - sie sind daran schuld!« Er
griff unter Mordecais Hemd, das den Flexarmor verbarg, und zog
einen Silberling heraus.
»Ja, ich verfluche auch die Ryqril!« Colvin trat einen Schritt vor,
dann hielten ihn die Sicherheitsmänner fest. »Doch das Geld, das
sie dir geboten haben, und dem du nicht widerstehen
konntest...«
»Halt den Mund!« Pittman sprang auf und wirbelte herum. Er hob die
Hand mit der Disc, um sie zu schleudern... Galway trat vor ihn und
nahm ihm geschickt die Kassette aus der Hand. »Beruhigen Sie sich,
Pittman!« Obwohl Caine durch den Schock noch betäubt war, hörte er
das Mitleid in der Stimme des Präfekten. »Jetzt ist es vorüber.
Alles ist vorüber.«
»Nur für den Augenblick.« Lathes Stimme klang beinahe ruhig, doch
sein Blick war mörderisch. »Nur für den Augenblick, Pittman, aber
ich schwöre Ihnen, dass ich mit Ihnen abrechnen werde.«
Ein Schatten glitt über sie hinweg: Die fliegende Ambulanz war
eingetroffen. Sie setzte neben Mordecai auf der Straße auf. Der
Sanitäter, der in ihr saß, öffnete die hintere Tür und schob eine
Tragbahre heraus. »Ihr drei steigt mit ihm ein«, befahl Quinn drei
Wächtern, während Mordecai in das Flugzeug geschoben wurde.
»Dann habe ich aber keinen Platz mehr«, protestierte der Arzt.
»Sie haben doch gesagt, dass Sie hier draußen nichts für ihn tun
können«, stellte der General fest. »Setzen Sie sich zum Piloten!
Sie sind ohnehin in fünf Minuten im Krankenhaus.«
Der Arzt verzog das Gesicht, schwieg aber. Er stieg zum Piloten
ein, während die Sicherheitsmänner und der Sanitäter sich zu
Mordecai hineinzwängten und die Türen schlossen. Die Ambulanz stieg
auf, und Quinn wandte sich wieder den anderen zu. »Ich hoffe, dass
keiner von Ihnen so unvernünftig sein wird, ebenfalls etwas so
Melodramatisches zu unternehmen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, antwortete Lathe noch immer
vollkommen ruhig. »Keiner von uns wird sterben, bevor er mit Ihnen
abgerechnet hat.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Quinn. »Lassen Sie den Transporter
kommen, Leutnant! Und weisen Sie die Vernehmungsabteilung an, sich
für neue Kunden bereitzuhalten.«
Caine ließ sich widerstandslos zur Barrikade führen. Pittman ein
Verräter, Mordecai dem Tod nahe... und Lathe gefangen. Er wusste
nicht, was noch alles über ihn hereinbrechen würde, aber es spielte
so gut wie keine Rolle mehr. Caines Universum war nur noch ein
Trümmerhaufen.