22
Die Aufklärer summten immer noch um die Stadt herum -
größtenteils weit südlich von ihrer Beute -, als Lathe in eine
Seitenstraße einbog und das Licht ausschaltete. »Was machen wir
hier?«, fragte Caine besorgt. Für diese Nacht war sein Bedarf an
Überraschungen gedeckt.
»Muss rasch jemanden anrufen«, antwortete der Comsquare, während
der zweite und der dritte Wagen hinter ihnen hielten. »Ich möchte,
dass Sie mitkommen, Miss Silcox. Pittman, kommen Sie her und setzen
Sie sich hinter das Lenkrad, falls wir schnell abhauen müssen. Sie
bleiben bei ihm, Caine; die Übrigen verteile ich in einer lockeren
Abwehrformation.«
»Es wäre nützlich, wenn wir genau wüssten, welche Schwierigkeiten
Sie hier erwarten«, sagte Caine, während die anderen
ausstiegen.
»Ich erwarte überhaupt keine Schwierigkeiten. Es ist eine reine
Vorsichtsmaßnahme, wirklich.«
»In Ordnung«, murmelte Caine. Er und Silcox stiegen aus, während
Pittman um das Auto herumging und in den freien Fahrersitz
kletterte. Caine hörte zu, wie die Schritte in der Nacht
verklangen, und dann war er zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme
mit Pittman allein.
Zunächst sprach keiner von beiden, dann holte Pittman tief Luft.
»Was immer Sie mir sagen wollen, sagen Sie es endlich, damit wir es
hinter uns bringen.«
»Gut.« Caine musterte Pittmans Gesicht und bemerkte, wie nervös und
angespannt er wirkte - etwas, was ihm noch nie aufgefallen war.
»Sie haben dieses Spiel schon seit längerer Zeit getrieben.
Warum?«
»Sie meinen, womit die Ryqril mich dazu gezwungen haben?«
»Nein, ich möchte wissen, warum Sie damit zu Lathe gegangen sind,
statt einfach zu tun, was die Ryqril von ihnen verlangt haben.«
Pittman wandte sich ihm zu und sah ihn verständnislos an. »Was
hätte ich denn sonst tun sollen? Sie alle tatsächlich
verraten?«
»Warum nicht? Was immer die Ryqril gegen Sie in der Hand hatten -
es muss etwas wirklich Schwerwiegendes gewesen sein, wenn sie Ihnen
so rückhaltlos vertraut haben.« Caine unterbrach sich, weil ihm
plötzlich etwas einfiel. »Oder glaubten die Kollies, dass sie Sie
loyalitätskonditioniert hatten?«
»Galway ist nicht so dumm, dass er so etwas versucht. Man braucht
fünfzehn Tage, um jemanden wirklich gründlich zu konditionieren,
und wenn sie mich so lange aus dem Verkehr gezogen hätten, so
hätten sie gleich Lathe anrufen und ihm erzählen können, was sie
mit mir vorhatten.«
Caine nickte. Das alles wusste er natürlich, aber er hatte einen
Augenblick lang gehofft, dass Pittman eine Möglichkeit gefunden
hätte, die Loyalitätskonditionierung abzubrechen. »Also zurück zu
Frage eins: Warum haben Sie nicht einfach getan, was Galway von
Ihnen verlangt hat?«
Pittman senkte den Blick. »Weil ich es nicht konnte. Sie sind meine
Freunde, meine Waffengefährten, wenn Sie es sentimental ausdrücken
wollen. Ich könnte Sie nicht verraten, ganz gleich, was es mich
kostet.«
Er schluckte, und seine Kiefermuskeln verkrampften sich kurz. »Und
was wird es kosten?«, fragte Caine.
»Wenn ich Glück habe, nichts. Das hat mir Lathe zumindest
versprochen.«
»Und Sie verlassen sich darauf, dass er dieses Versprechen hält?«
Pittman blickte wieder auf.
»Warum nicht? Sie vertrauen ihm ja auch.«
»Der Vergleich hinkt. Ich habe nie eine andere Wahl, als ihm zu
vertrauen.«
»O doch, die haben Sie. Sie müssen sich nicht mit seinen
selbstherrlichen Winkelzügen abfinden. Sie könnten jetzt zu ihm
gehen, ihm erklären, dass das Maß voll ist, und sich von ihm
verabschieden. Aber Sie werden es nicht tun, und das wissen wir
beide genau. Warum nicht?«
»Wahrscheinlich, weil er der beste Taktiker ist, den ich je erlebt
habe. Weil - verdammt, ich weiß es selbst nicht.«
»Mit anderen Worten, weil Sie davon überzeugt sind, dass er seine
Arbeit gut macht und Ihre Haut so weit wie möglich schont. Außerdem
ziehen Sie vor, ein paar Flecken auf Ihren Stolz abzukriegen, als
zusehen zu müssen, wie Ihre Kameraden rings um Sie herum
sterben.«
Pittman verstummte unvermittelt. Caine musterte sein Gesicht lange,
dann gab er zu: »Ja, Sie haben vermutlich recht. Wir beide
vertrauen ihm - und wir beide hassen diesen Zustand.«
»Trotzdem ziehe ich diesen Zustand einem ehrenvollen Tod vor. Ach,
hören wir damit auf!« Er zeigte auf das Ende der Sackgasse. »Wen
ruft er Ihrer Meinung nach an? Quinn?«
»Hoffentlich nicht. In der Stadt wird es ohnehin rundgehen, ohne
dass Lathe ihn zusätzlich reizt.«
»Na ja - vielleicht ruft er nur Reger oder sonst jemand Sicheren
an. Es wäre eine Abwechslung.«
»Das wäre schön«, stimmte Caine zu. »Nur zweifle ich daran.«
Kanai schob seinen leeren Teller weg und überlegte ohne echte
Begeisterung, was er an diesem Abend unternehmen sollte, als das
Fon trillerte.
Er wandte sich dem Apparat zu, betrachtete ihn misstrauisch, und
seine Hand glitt unbewusst nach der Tasche mit den shuriken.
Es gab mindestens ein Dutzend Leute, die als Anrufer infrage kamen;
die meisten von ihnen waren wütend auf ihn, aber er hatte auch
keine Lust, mit einem der anderen zu sprechen. Im Geist befahl er
dem Fon, den Mund zu halten.
Aber der Anrufer war hartnäckig, und Kanai war zu lange Kontaktmann
der Blackcollars gewesen, um auf einen Anruf nicht zu reagieren. Er
griff seufzend nach dem Hörer. »Ja?«
»Kanai?«
Kanais Hand krampfte sich um den Hörer. »Lathe?«
»Richtig. Ist Ihre Leitung angezapft?«
»Ganz bestimmt nicht.« Kanai verwendete das alte Codewort der
Blackcollars für ja.
»Okay. Ich möchte mit Bernhard sprechen, ihm erzählen, was heute
Abend los war. Können Sie das arrangieren?«
»Wahrscheinlich«, antwortete Kanai vorsichtig.
Was heute Abend los war? War das ein Rauchvorhang, um den
Sicherheitsdienst abzulenken, oder hatte Bernhard hinter Kanais
Rücken etwas eingefädelt?
»Wann wollen Sie mit ihm sprechen?«
»Sechs Blocks nördlich von der Klappschachtel von gestern Abend
gibt es eine Straße - wir werden in dem Haus sein, das zwei Blocks
westlich von dieser Kreuzung liegt. Haben Sie das mitgekriegt?«
»Ich glaube schon.« Klappschachtel musste das Haus sein, in das sie
aus Anne Silcox' Tunnel gelangt waren. Kanai stellte sich die Karte
von Denver vor...
»Ja, ich weiß, wo es liegt. Wollen Sie, dass ich Bernhard heute
Nacht dorthin bringe?«
»Ja. Natürlich allein.«
»Natürlich.« Klartext: keine Beschatter des Sicherheitsdienstes.
Das ließ sich machen, aber nur, wenn er schnell handelte. »Wir sind
in Kürze dort.«
»Gut. Ach ja, richten Sie Bernhard aus, dass Anne Silcox auch
mitkommt.«
»In Ordnung.« Kanais Magen krampfte sich zusammen.
Lathe unterbrach die Verbindung, und Kanai starrte das Fon an, ohne
es zu sehen. Anne Silcox? Das war unmöglich - vor nicht
einmal vierundzwanzig Stunden hatte ihm Bernhard erklärt, dass er
sie Quinn ausliefern würde.
»Verdammt«, zischte Kanai. Etwas Seltsames war im Gang, und was es
auch war, es gefiel ihm nicht.
Er suchte seine Ausrüstung zusammen, zog den Mantel an und verließ
das Haus.
Der Sicherheitsmann vor den Monitoren sah Galway hilflos an. »Es
tut mir leid, Präfekt Galway, aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen.
Es waren vier Hochfrequenzlaserkommunikationsimpulse in jede dieser
drei Richtungen, und jeder Impuls bestand nur aus dem Wort:
Weihnachten! Der Sendeort befindet sich in einem nahen, eng
begrenzten Gebiet in den Bergen, aber ich kann ihn erst suchen,
wenn General Quinn die Aufklärer von der Suchaktion über Denver
zurückbeordert.«
»Und wenn der verdammte Sender mobil ist, dann kann er inzwischen
längst verpackt und in irgendeiner Garage verstaut worden sein«,
meinte Galway frustriert.
»Damit dürften Sie leider recht haben«, gab der Offizier zu.
»Verdammt.« Galway starrte die von den Monitoren erfassten Sterne
an, über die drei Kreise gezogen waren. Am Ende eines dieser
Vektoren befand sich das geheimnisvolle Raumschiff, das sich dort
herumtrieb, seit Lathes Team auf der Erde gelandet war. Es war
eindeutig der Empfänger der geheimnisvollen Botschaft; genauso
eindeutig stand für Galway fest, dass Lathe der Absender war.
Ein vorher festgelegtes Signal für den Beginn einer Aktion - aber
welcher Aktion? So oder so, es ist alles bald
vorüber, hatte Lathe gesagt, als er sich auf die Folgen von
Pittmans Handlungsweise bezog.
Was konnte er damit gemeint haben?
»Verdammt«, murmelte Galway, als ihm plötzlich etwas einfiel.
Es war verrückt, vollkommen verrückt, aber genau das, was Lathe
zuzutrauen war...
»Galway!«
Der Präfekt fuhr erschrocken herum und erblickte Quinn, der mit
zwei Sicherheitsmännern den Raum betrat. Er ging ihnen entgegen.
»General, an das Schiff da draußen ist ein Signal abgesandt
worden...«
»Bis zu einer offiziellen Untersuchung durch die Beamten der Ryqril
auf Plinry stehen Sie unter Hausarrest, Galway«, unterbrach ihn
Quinn. »Ihr Plan mit dem angeblichen Doppelagenten war ein
vollkommenes Fiasko und hat zu Verlusten an Menschenleben, zur
Beschädigung von Regierungseigentum und zur Flucht von wertvollen
Gefangenen geführt. Bringt ihn auf sein Zimmer, Männer.«
»Was?« Galway traute seinen Ohren nicht, als ihn die beiden
Sicherheitsmänner in die Mitte nahmen. »Das kann doch nicht Ihr
Ernst sein. Schön, Lathe und Pittman haben uns hereingelegt. Wir
haben den ganzen...«
»Was meinen Sie mit uns hereingelegt?«, knurrte Quinn.
»Sie sind hereingelegt worden.«
»Ich und die Ryqril auf Plinry«, widersprach Galway. »Vergessen wir
doch nicht, dass das Projekt von ihnen ausgearbeitet wurde.«
»Dafür haben wir nur Ihr Wort und einige womöglich gefälschte
Papiere«, erwiderte Quinn eisig. »Wenn wir das Ganze näher
untersuchen, werden wir vielleicht feststellen, dass Sie mehr damit
zu tun hatten.«
Galway war wie vor den Kopf gestoßen. Das konnte doch nicht wahr
sein, das war unmöglich.
War Quinn verrückt geworden? Er sah hilfesuchend zu dem Mann am
Monitor hinüber, doch dessen Gesicht war ausdruckslos. Er wandte
sich wieder Quinn zu und zwang sich, ruhig zu bleiben. »General, an
das feindliche Schiff dort draußen ist ein Signal gesandt worden,
und wenn ich mich nicht irre, dann sind wir im Begriff, das letzte
Druckmittel zu verlieren, das wir gegen Pittman in der Hand
haben...«
»Pittman kann der Teufel holen!«, donnerte Quinn. »Er hat die
Chance gehabt zu kooperieren, jetzt kann er mit den anderen braten.
Und wenn wir mit ihnen fertig sind, sind Sie an der Reihe. Los,
schafft ihn fort!«
Galway ballte ohnmächtig die Fäuste, als die beiden
Sicherheitsmänner ihn aus dem Lageraum führten. Es wird alles in
Ordnung kommen, sagte er sich, glaubte aber selbst nicht daran.
Es wird in Ordnung kommen. Er verständigt Plinry, das ist
das einzig Wichtige. Vielleicht erreicht sie die
Nachricht rechtzeitig. Bis dahin...
Bis dahin würde er sich in Geduld üben und hoffen müssen, dass
Quinn bald wieder zur Vernunft kam. Vor allem aber musste er
hoffen, dass Lathe die Stadt bis dahin nicht schon in Stücke
zerlegt hatte.
Die Stadt, und damit die Überlebenschancen von Plinry.