SIEBZEHN
Lonely, lonely, lonely – your
spirits sinkin’ down
You find you’re not the only stranger in this
town
BILLY SQUIER, »Lonely is the Night«
Moira bremste Jareds Wagen ab und kroch im Schneckentempo ans Ende der engen Straße. Obwohl die Scheibenwischer unentwegt hin- und hergingen, war die Sicht so schlecht, dass sie nicht genau wusste, ob sie noch in die richtige Richtung fuhr.
Dann sah sie das vom Wetter ausgebleichte zerbrochene Schild.
LLKOMMEN IM P AC GE RESO O ETS
Ihr Herz raste, als sie erkannte, dass es sich um ein verlassenes Motel oder eine Art von Unterkunft handelte, die aus einzelnen, mit Brettern zugenagelten Hütten bestand. Sie nahm den Fuß leicht von der Bremse, sodass der Wagen weiter auf der Straße nach vorn rollte, die sich in einen Kiesweg mit kleinen Büschen darauf verwandelte. Auf einem Schild an der ersten Hütte stand geschrieben:
Eigentum des
kalifornischen Staates
Betreten verboten
Die verlassenen Hütten schienen allesamt aus einem einzigen Zimmer mit Blick auf das Meer zu bestehen, weit weg von der Hauptstraße und durch die Bäume verdeckt. Im Dunkeln war Lily vielleicht einfach an ihnen vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken. Ein perfekter Ort, um sich zu verstecken.
Moira hielt den Pick-up an, stellte den Motor ab und ging vorsichtig über den mit Unkraut zugewucherten Hof, der in der Mitte lag. Die Hütten standen ungefähr zehn bis fünfzehn Meter entfernt. Das Gelände war durch die Zypressen und Eukalyptusbäume vor Blicken geschützt. Nur ein paar Hundert Meter weiter weg befand sich die Haupteinfallstraße zu den Bergen – jene Zufahrtsstraße, die Lily gefunden hatte –, doch diese Hütten entdeckte man nur, wenn man wusste, dass es sie gab.
Moira stolperte über Baumwurzeln und verfing sich in den Blättern eines dornigen Busches.
»Verdammt!« Sie zog zwei dünne Stacheln aus ihrer rechten Hand, während sie sich wieder aufrichtete. Sie zitterte unkontrolliert, die nassen Kleider klebten an ihr, genau wie das vom Regen schwer gewordene Haar auf ihrem Rücken. Am liebsten wäre sie zu dem warmen Auto zurückgekehrt und in ihr mieses Motel gefahren, um zu schlafen.
Sie glaubte zwar nicht an Glück, dennoch jagte ein Adrenalinstoß durch ihren Körper, als sie daran dachte, welches Glück sie doch hatte, diesen Ort gefunden zu haben. Sollte Rafe Cooper tatsächlich hier sein? Könnte das, rein logisch betrachtet, möglich sein? Vielleicht. Dennoch … das Ganze fühlte sich für sie nach einem eigenartigen Zufall an. Sie mochte es nicht, manipuliert zu werden, weder von Menschen noch von übernatürlichen Wesen.
»Es gibt immer Zeichen, es gibt immer eine helfende Hand. Es geht darum, die Zeichen zu verstehen und die Hilfe anzunehmen, was für alle schwierig ist – auch für dich. Und wenn du die Wahrheit nicht erkennst, dann werden deine Voreingenommenheit, deine Angst, deine Überheblichkeit und deine Unwissenheit dich umbringen.«
»Halt deinen Mund, Rico!«, murmelte Moira wieder. Sie wünschte sich, nicht von ihm ausgebildet worden zu sein, da sie seine verdammten Standpauken einfach nicht aus ihrem Kopf bekam. Sie schob ihre Besorgnis – den Gedanken, dass es sich bei diesem Ort um ein Zeichen handeln könnte, dem sie unwissentlich gefolgt war – beiseite und passierte die Hütten.
Sie standen seit Jahren leer und waren allesamt baufällig. Die Türen waren mit Schlössern verriegelt. Dennoch schien die drittletzte in der Reihe anders zu sein. Sie starrte zu der Hütte, neigte ihren Kopf seitlich und blinzelte durch den Nebel.
Sie näherte sich vorsichtig der Hütte und schritt langsam darum herum.
Dann erkannte sie, was sie hatte stutzig werden lassen.
Das Holz an der Eingangstür war nur ganz wenig abgesplittert, doch das helle Stück leuchtete in dem verwitterten Türrahmen.
Der Türriegel befand sich immer noch über dem Knauf, doch der Türpfosten war zerbrochen. Moira zögerte. Stammte das von einem Menschen oder einem Besessenen? Sie wusste zwar nicht, was mit Raphael Cooper los war, konnte jedoch kein Risiko eingehen. Sie nahm eine Kette mit einem großen Kreuz aus einer der tiefen Innentaschen ihrer Jacke und hängte sie sich um. Dann zog sie die Beretta aus ihrem versteckten Taschenhalfter.
Kein Anzeichen, dass sich jemand bewegte oder sie beobachtete. Sie stellte all ihre Sinne auf Empfang, hörte, spürte die Atmosphäre um sich herum. Keine Spannung in der Luft. Kein Geruch von Schwefel oder verfaulendem Fleisch. Keine übermäßige Hitze aus einem der Höllentore, auch kein eiskalter Schauer durch die Anwesenheit von Geistern. Nichts. Das bedeutete aber nicht, dass ihr Wagen nicht doch die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte oder Cooper durch eine Ritze der verbarrikadierten Fenster sehen konnte – sollte er sich in der Hütte befinden. Sie glaubte nicht daran, dass er gefährlich war – hatte er doch Lily das Leben gerettet und Fiona aufgehalten –, aber Moira konnte sich keinen Fehler leisten.
Sie drückte fest gegen die Tür, und ein dicker Holzsplitter fiel auf den Boden, als sie aufsprang.
Moira konnte eine ausgeräumte Kochnische auf der rechten Seite und eine Tür ganz hinten ausmachen. Während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten – das einzige Licht kam von dem immer dunkler werdenden Grau des Himmels –, sah sie einen Mann in einem OP-Kittel zusammengekauert in der äußersten Ecke des leeren Zimmers sitzen.
Sie näherte sich ihm vorsichtig und sprach ihn an: »Cooper? Raphael Cooper?«
Er bewegte sich nicht. Sie blinzelte, ihre Kette mit dem Kreuz baumelte zwischen ihnen, und sie prüfte seinen Puls, der deutlich zu spüren war. Sie atmete erleichtert aus.
»Was ist Ihnen gestern Nacht zugestoßen?«, fragte sie ihn flüsternd.
Sie zog eine Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und stellte sie mit dem breiten Griff auf den Holzboden. Der Lichtstrahl erhellte den ganzen Raum wie eine Laterne. Coopers OP-Kittel war zerrissen. Ihm war kalt; er hatte sich zusammengekauert, um sich zu wärmen. Dennoch war sein Gesicht, auf dem die Bartstoppeln eines Tages zu sehen waren, schweißbedeckt. Sein Haar, das von der Feuchtigkeit klamm war und sich an den Spitzen kräuselte, war länger als auf dem Bild. Während sie ihn anschaute, begann sein Körper zu zittern, und er rief eine Art von Befehl.
Er sprach Spanisch, eine Sprache, die Moira zwar kannte, aber mehr als in ihren Grundzügen nicht verstand. Er fuhr mit einer gleichzeitig ängstlichen und befehlenden Stimme fort. Sie berührte seine schweißnasse Stirn, strich sein Haar zurück und murmelte: »Schhh, Sie haben einen schlechten Traum!«
Plötzlich setzte er sich auf und schaute sie mit ängstlichem, verlorenen Blick an. Zitternd zog er sich in die Ecke zurück.
»Raphael, ich heiße Moira O’Donnell. Ich bin eine Freundin von Pater Philip.«
Er starrte sie an, und sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte.
»Erinnerst du dich, was gestern Nacht passiert ist? Auf den Klippen? Der Hexenzirkel?« Sie hielt inne. »Die sieben Todsünden?«
Er schüttelte langsam den Kopf. Seine Stimme klang rau und leise, als er sagte: »Sie ist tot.« Er hustete, um sich zu räuspern.
»Nein, das ist sie nicht. Du hast sie gerettet. Du hast Lily gerettet.« Moira nahm seine Hände und drückte sie. »Lily trug das weiße Kleid. Du hast zu ihr gesagt, sie solle weglaufen und nicht zurückschauen.« Sie zog eine Flasche Wasser aus ihrer Jacke und reichte sie ihm.
Er betrachtete das Wasser, dann Moira und nahm schließlich die Flasche.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte sie und beruhigte damit sowohl ihn als auch sich selbst.
»Sie ist tot«, wiederholte er. Er nippte an dem Wasser und musste husten.
»Ja, Abby ist tot«, sagte Moira. »Sie war auch da. Aber Lily, das Mädchen in dem weißen Kleid, das hast du gerettet. Sie lebt und ist in Sicherheit, und es geht ihr gut.« Zumindest hoffte sie, dass Anthony sie gefunden hatte und beschützte.
Als Rafe sich allmählich an die vorherige Nacht erinnerte, war ihm die Erleichterung anzusehen. »Lily?«, fragte er. Er nippte wieder an dem Wasser und trank dann richtig.
»Ich muss dich von hier wegbringen«, erklärte Moira.
»Nein, nein – gib mir eine Minute!«
»Entschuldigung, aber du siehst aus wie der Tod auf Urlaub. Anthony kann dich an einem Ort …«
»Anthony. Er ist hier.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Die ganze Zeit. Raphael, ich bin …«
»Rafe. Meine Freunde nennen mich Rafe.«
»Ich bin Moira.«
»Moi-rah«, flüsterte er und lächelte dabei. Er sprach ihren Namen richtig aus, was ihr gefiel.
Er atmete tief ein, streckte seine Beine aus und lehnte sich gegen die Wand. »Danke.« Er trank noch einen Schluck Wasser. »Ich bin normalerweise nicht so neben der Spur.«
Sie musste schmunzeln. »Ich denke, das kann ich in Anbetracht der Umstände verzeihen.«
»In Anbetracht der Umstände.« Er lächelte zaghaft zurück. »Meine Kräfte kehren schon wieder zurück.«
»Ein Wunder«, meinte sie und merkte erst, als ihr die Worte über die Lippen kamen, dass sie sarkastisch klangen.
»Du glaubst nicht an Wunder.«
»Doch. Ich habe in letzter Zeit nur keine erlebt.«
Er sah über das, woran sie nicht denken wollte, hinaus. Er war Seminarist; natürlich musste sein Glaube stärker sein als ihrer. So war es auch bei Peter gewesen – und wo hatte ihn das hingebracht?
Rafe schüttelte den Kopf. »Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie sind da draußen. Überall …«
Moira war sich nicht sicher, ob er über die Dämonen oder Fionas Hexenzirkel sprach.
»Wir werden sie einfangen.«
»Oo’la te-ellan l’niss-yoona: il-la paç-çan min beesha.«
Moira war sich nicht sicher, in welcher Sprache Rafe gerade redete, doch sie kam ihr bekannt vor. »Was hast du gesagt?«
Er schaute sie an. »Aramäisch.« Das beantwortete nicht ihre Frage, doch fuhr er stirnrunzelnd fort: »Die Conoscenza wurde gestohlen. Meine Schuld.«
Moira saß mit dem Rücken an der Wand neben ihm in der dunklen, nasskalten Hütte, die Tür ihr gegenüber. Rafe hatte zwar seit der Fotoaufnahme zu viel abgenommen, doch waren seine Schultern breit, und selbst im Sitzen erkannte sie, dass er groß war. Sie fühlte sich klein neben ihm, obwohl sie das nicht war.
Er strich mit seiner Hand über ihre Schulter, ihr feuchtes Haar und meinte: »Du kommst mir … bekannt vor.«
Er wechselte das Thema. Sie würde das Spiel vorerst einmal mitspielen, aber irgendwann müsste er ihr Antworten auf die schwierigen Fragen geben. »Ich habe vor sieben Jahren in St. Michael gelebt«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich ging vor zwölf Jahren von dort weg und kehrte nie wieder zurück.«
»Nie wieder?«
Er trank die Wasserflasche aus, stellte sie neben sich auf den Boden und spielte mit seinem Zeigefinger an dem Flaschenhals. »Ich musste ein paar Dinge herausfinden, und das hat länger gedauert, als ich dachte.«
Moira rutschte nervös auf dem Boden herum. Die Art, wie Rafe sprach und vor sich blickte, ohne dass dort etwas stand, erweckte den Endruck in ihr, als hörte oder sähe er etwas, das nicht da war.
Der Regen trommelte auf das Dach; der Wind fegte um die Hütte und schüttelte sie durch. Das Wetter wurde schlechter. »Wir müssen gehen«, meinte sie. »Es gibt noch einiges zu tun.«
»Zu tun?«
»Fiona aufhalten.« Rafe schloss seine Augen. Verflixt, sie brauchte schon ein bisschen Hilfe, um ihn zum Auto zu bringen! »Rafe – bitte, die Hohepriesterin des Hexenzirkels ist wütend auf dich!«
»Sie ist sterblich, die sieben Dämonen da draußen aber nicht. Sie sind unsterblich und sehr mächtig.«
»Was weißt du über die Sieben?«
Sie wollte zwar nicht wieder in das widerliche Wetter zurück, aber genauso wenig wollte sie in der Hütte bleiben und den Worten von jemandem lauschen, der sie viel zu sehr an Peter erinnerte, wodurch sie sich bedrückt fühlte.
Rafe antwortete: »Die Gefallenen Engel wurden wegen Ungehorsams und Stolzes in die Unterwelt verbannt. Sie beneideten Gott und auch die Menschen. Sie hassten uns, weil wir auserwählt, aber trotzdem leibhaftig und keine Geister waren. Sie wollten einfach alles, sowohl bevorzugt behandelt werden als auch auserwählt sein.
So wie bei den Engeln gibt es auch bei den Dämonen eine Hierarchie. Die Sieben existieren schon genauso lange wie die ersten Engel. Sie kennen alles, was es über Himmel und Hölle und über uns Menschen zu wissen gibt, einschließlich unserer geheimen Schwächen, Torheiten, Begierden und Ängste. Sie kontrollieren ihren Geist und brauchen keine menschlichen Körper, obwohl sie sie ohne Weiteres in Besitz nehmen können, wenn es ihnen gerade passt. Doch stattdessen laufen sie frei herum und ernähren sich von der Sünde. Sie zerren an unserem gottgegebenen Gewissen und nähren unsere dunkelsten Begierden. Die Wollust gerät außer Kontrolle, und sie nähren unser Bedürfnis danach. Unsere Gier wird unersättlich, und sie nähren sie. Sie werden nie zufrieden sein, sie suchen nach mehr … mehr Sex, mehr Geld, mehr Essen, mehr Zeit. Während sie ihr Virus verbreiten, werden sie stärker, zerstörerischer und tödlicher. Sie sind den sagenumwobenen Vampiren ähnlich, nur dass sie, statt Blut zu saugen, nach unseren größten Schwächen gieren, sie an die Oberfläche zerren und uns drängen, Sünden zu begehen, die nicht nur uns, sondern auch anderen schaden. Und je mehr wir nachgeben, desto mehr wollen sie. Desto mehr brauchen wir.«
Fasziniert und gefesselt hörte Moira Rafe Cooper zu, der noch vor einem Augenblick ganz schwach gewirkt hatte, jetzt aber ganz klar und bestimmt sprach. Was er sagte, jagte ihr Angst ein. Das Wissen, das er über diese Dämonen besaß, war ungewöhnlich; selbst Anthony hatte über ihr Wesen noch nicht alles herausgefunden. Wie hatte Rafe das nur so schnell geschafft?
Sie schluckte und rückte ein paar Zentimeter von ihm ab, betrachtete die Wasserflasche von vorhin. Ein Gedanke stieg in ihr hoch. Wie leichtsinnig sie gewesen war! Wie hatte Rico immer zu ihr gesagt?
Das Allerwichtigste: Bleib am Leben!
»Sie sind da draußen«, fuhr Rafe fort, fast wie in Trance. »Verbreiten Frevel. Verleiten uns zur Sünde. Sie gehen dorthin, wo sie begehrt werden. Wir haben es hier nicht nur mit dem Bösen an sich zu tun, sondern auch mit dem Bösen in uns. Wie können wir vor uns selbst weglaufen?«
Moira reichte Rafe eine halb volle Wasserflasche. Ihre Hand zitterte. Sie versuchte, es zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht.
Er schaute sie an. »Sie sind anders«, sagte er, und sie wusste nicht, ob das etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete. Er nahm die Flasche und trank daraus.
Schluckte.
»Gut, ich bin so weit«, verkündete er. »Vielleicht brauche ich ein bisschen Hilfe.«
Moira atmete erleichtert auf. Das Weihwasser, das sie in die Plastikflasche gefüllt hatte, rann problemlos Rafes Hals hinunter. Er war weder besessen, noch wurde er von einem Dämon beherrscht. Er war ein Mensch, ein richtiger Mensch, und sie weinte fast vor Erleichterung.
Langsam drehte sie wohl durch – was an dem Schlafmangel, dem Angriff ihrer Mutter, dem Wiedersehen mit Anthony und der Erinnerung an Peter liegen musste.
»Moira.«
Rafe fasste sie am Kinn, sodass sie ihn in dem schummrigen Licht anschauen musste.
»Warum weinst du?«
»Das tue ich nicht.«
Er strich mit seinem Daumen über ihre Wange. »Doch, tust du.«
Sie räusperte sich. »Das ist der Regen.«
Er musterte sie und glaubte ihr nicht; was sie auch nicht von ihm erwartete.
»Du zitterst.« Er fuhr mit seiner Hand über ihre Schläfe. »Und bist ganz nass. Du hast dich durch den Sturm gekämpft, um mich zu finden. Wie hast du das geschafft?«
»Zufallstreffer.«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, meinte er, »sondern an göttliche Vorsehung.«
»Rafe, fang bitte nicht damit an!«, flüsterte sie.
Er rieb ihre Arme, legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich. Ihr Herz raste. Warum machte er sie so nervös? Er war weder besessen noch ein Geist; er war ungewöhnlich und eigenartig, aber er war ein Mensch, ein Mann.
»Lass uns gehen!«, sagte sie.
»Mein Leben liegt in deiner Hand.«
Schmerz stieg in Moira hoch. Sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen, besonders nach Peters Tod. Doch seit Kurzem waren Menschen auf sie angewiesen. Jared. Lily. Und jetzt Rafe Cooper.
Sie wollte diese Verantwortung nicht. Das Einzige, was Moira wollte, war, ihre Mutter aufzuhalten.
Sie schob sich von Rafe weg, stand auf und streckte ihre Hand aus. Er schaute sie einen Augenblick an und griff dann mit einer solchen Kraft zu, dass sie überrascht war, denn er sah doch ziemlich elend aus. Sie zog ihn hoch; durch ihr Training bei Rico und ihre täglichen Übungen war sie fit. Plötzlich aber türmte Rafe sich vor ihr auf, und sie trat erschrocken einen Schritt zurück.
Daraufhin wankte er benommen, Moira fing ihn jedoch auf.
»Lass uns langsam gehen«, riet sie.
Sie half ihm aus der Hütte und ging mit ihm durch das dunkle, feuchte Wetter die ungepflasterte Straße hinunter zum Auto. Als sie ihn auf den Beifahrersitz beförderte, verließen ihn seine Kräfte, und der Schmerz überfiel ihn erneut. Sie wollte ihn eigentlich nicht ins Krankenhaus bringen, doch wie es aussah, blieb ihr nichts anderes übrig.
Sie stieg schnell auf den Fahrersitz und fragte: »Bist du sicher, dass du keinen Arzt brauchst?«
»Ich bin mir bei gar nichts sicher, aber ich kann nicht in dieses Krankenhaus zurück. Ich lag nicht im Koma, aber ich war auch nicht wach. Ich weiß nicht, was sie mit mir gemacht haben, aber etwas … Ich glaube nur …« Er hielt inne und schaute sie an. Sie spürte, wie Kummer und Verwirrung von ihm abfielen.
»Ist schon in Ordnung.« Sie nahm seine Hand, hielt sie und drückte sie. »Es gibt einen Ort, wo wir sicher sind.«
Er starrte sie mit seinen dunklen Augen an, sein Blick unergründlich und besorgt.
»Einen solchen Ort gibt es nicht, weder für dich noch für mich, aber wenn wir zum Krankenhaus zurückfahren, werden sie mich umbringen.«
Sie hatten das Spiel gewonnen, trotz Chris.
»Mach dir nichts draus, du hattest einfach einen schlechten Tag! Kommt bei uns allen vor.« Travis klopfte Chris kurz auf den Rücken, während sie in den Bus stiegen, der sie zur Schule zurückbrachte. »Nächste Woche bist du wieder in Form.«
Chris tat die Bemerkungen seines Freundes mit einem Achselzucken ab. Travis Ehrlich hatte nie einen schlechten Tag. Er war perfekt, hatte einfach alles. Ein Stipendium der UCLA, war bester Spieler und hatte in dem Spiel achtundzwanzig verdammte Punkte gemacht – davon sechs Körbe mit drei Punkten!
»Komm doch noch mit zu mir«, schlug Travis vor. »Meine Mom muss lange arbeiten; wir haben die Wohnung für uns allein. Ja?«
»Von mir aus.« Chris wollte Travis nicht ins Gesicht schauen, geschweige denn Zeit mit ihm verbringen. Er setzte sich ganz hinten in den Bus und schmollte, während der Trainer und der Rest der Mannschaft Travis für sein Spiel beglückwünschten.
Als der Bus die dunkle Landstraße hinunterfuhr, setzte sich der Trainer Chris gegenüber. »Hör zu, Kidd, du hast zwar dein Spiel heute in den Sand gesetzt, aber ich weiß, was in dir steckt. Krieg deinen Kopf frei! Wir zwei spielen morgen nach dem Training gegeneinander, Mann gegen Mann.« Er gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ging wieder nach vorn.
Es war für Chris offensichtlich, dass der Trainer ihn nur beschwichtigen wollte. Er war ihm völlig egal. Genauso wie seine Zukunft. Alles drehte sich nur um Travis. Den Star des Teams von Santa Louisa; den Jungen, dem alles gelang. Mistkerl! Blödmann!
Warum besaß Travis nur so viel Talent? Weil er schwarz war, deshalb. Weil Gott den schwarzen Jungs die Schnelligkeit in die Wiege gelegt hatte. Es hatte nichts mit Übung und Training zu tun, sondern nur mit ihrer Hautfarbe und der Tatsache, dass der Sport ihnen leichtfiel. Chris musste sich jeden Punkt hart erkämpfen und dafür schwitzen. Verdammt, das sollte zählen, etwas bedeuten, doch es bedeutete nichts. Travis wurde im Durchmarsch bester Spieler und erhielt von überall her Stipendien.
Vierzig Minuten später fuhr der Bus auf den Parkplatz, und alle stiegen, ohne viel zu sagen, aus, was nach einem Sieg eher ungewöhnlich war. Als sie ihre Sachen aus dem Gepäckstauraum unter dem Bus nahmen, bekam Chris zufällig mit, wie der Trainer zu Travis sagte: »Du bist Kidds bester Kumpel – sieh zu, was du mit ihm machen kannst!«
Mit ihm machen kannst? Na, klasse!
Travis ging mit Chris’ Rucksack auf den Schultern zu ihm hinüber. Er reichte ihn Chris. »Gehen wir zu mir?«
Chris starrte auf seine Tasche. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Travis war sein bester Freund; sie waren Kumpels, seit Travis vor sechs Jahren nach dem Tod seines Vaters von L.A. nach Santa Louisa gezogen war. Sein Vater, ein Streifenpolizist, war von Gangmitgliedern bei einem ihrer rituellen Morde umgebracht worden. Travis wollte Polizist werden; sein Basketballstipendium bedeutete für ihn die Aufnahme ins College, da seine Mutter es sich nicht leisten konnte, ihn auf eine Universität zu schicken.
Und Chris wollte ihn töten. Seine Hände gierten danach, Travis ins Gesicht zu schlagen, ihn totzuschlagen. Wut und Eifersucht stiegen in ihm hoch, und er schüttelte den Kopf, um das brutale Bild aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Nein!
Wie aus dem Nichts durchfuhr Chris ein entsetzlicher, furchtbarer Schmerz, als ob seine Kopfhaut mit einem Messer von seinem Schädel geschält werden würde. Er fiel auf die Knie, die Hände am Kopf.
»Chris? Trainer! Trainer! Chris blutet!«
Chris konnte außer dem Trommelschlag in seinem Kopf nichts hören. Seine Hände waren klebrig, und er musste würgen, doch der widerliche metallische Geschmack war nichts im Vergleich zu dem betäubenden Schmerz.
Er murmelte etwas vor sich hin, immer und immer wieder, doch wusste er nicht, ob die Worte ihm auch über die Lippen kamen.
Es tut mir leid, Travis. Es tut mir leid, es tut mir leid …
Der Trainer lief zu ihm hinüber und kniete sich neben ihn. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Er fiel einfach um. Warum blutet es aus seinen Ohren? Was ist los?«
»Chris, kannst du mich hören?«, rief der Trainer.
Oh Gott, dieser Schmerz soll aufhören! Es tut mir leid, Travis. Mensch, Kumpel, ich würde dir nie etwas antun! Oh Gott, oh Gott, dieser Schmerz soll aufhören!
Travis kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. »Halt durch, Chris!«
»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.«
»Ruf den Notarzt!«, befahl der Trainer, streifte seine Jacke ab und schob sie unter Chris’ Kopf. Dann zog er sein T-Shirt aus und wickelte es um Chris’ Ohren und Kopf und drückte dagegen, während Travis den Notarzt anrief.
Die letzten Worte, die Chris wahrnahm, bevor er sein Bewusstsein verlor, waren die von Travis, als er ins Telefon sprach: »Wir brauchen dringend einen Krankenwagen hier an der Santa Louisa Highschool. Mein Kumpel blutet. Trainer …«
Der Trainer nahm das Telefon, aber Chris hörte nicht mehr, was er sagte.
Er starb noch im Krankenwagen.