FÜNFUNDZWANZIG
Als Moira sich dem Haus der Familie Ellis näherte, spürte sie die Zauberei in der Luft, noch bevor sie das viktorianische Haus an der Kreuzung erreicht hatte. Die Zaubersprüche waren so mächtig, dass sie befürchtete, entdeckt zu werden, noch bevor sie die Türschwelle überschreiten würde.
Sie fuhr an dem Haus vorbei, ohne langsamer zu werden, bog in die nächste Straße ein und parkte das Auto weiter unten. Der Morgen dämmerte gerade über den Bergen, als sie im Nebel, geschützt durch dunkle Schatten, die mit Bäumen gesäumte Straße entlanglief.
Sie ging um das Haus herum, betrat aber vorsichtshalber nicht das Grundstück. Sie suchte mit all ihren Sinnen nach einer Schwachstelle.
Du bist eine Hexe, kehr den Zauberspruch um!
Das konnte sie. Sie spürte immer noch die Macht in sich – das Böse, mit dem sie geboren worden war. Sie konnte es entfesseln. Sie würde Fiona finden, sollte diese sie nicht zuerst finden. Sie konnte den Hexenzirkel aufhalten, sie musste es nur planen.
Was unweigerlich den Tod von Menschen bedeuten würde.
Die Erkenntnis, dass Moira etwas tun konnte, bedeutete nicht, dass es richtig oder ungefährlich war. Sie und Peter hatten monatelang geplant, bevor sie Zauberei eingesetzt hatten, um ihre Mutter aufzuhalten. Sie hatten alles getan, um Moira zu schützen und abzusichern.
Und dann hatte dieser Plan im Tod geendet.
Genug, Moira. Mach deine Arbeit!
Sie betrachtete das Haus der Ellis. Sie nahm die Zauber wahr, merkte aber, dass sie nur gegen böse Geister schützen sollten. Die Kräuter, die im Garten wuchsen, die Pflanzen in den Fenstern und die Talismane über den Türen würden weder eine Person davon abhalten hineinzugehen, noch die Hexe vor einem Eindringling warnen. Vielleicht hatte Moira am Ende doch eine Chance.
Sie entschied sich für den schmalen Hof neben der seitlich am Haus angebauten Garage, da er sie sowohl vor den Blicken der Nachbarn als auch vor denen von Lilys Mutter schützen würde. Außerdem befand sich eine Tür dort, die vom Haupthaus nicht zu sehen war.
Sie trat auf den Hof und konzentrierte all ihre Sinne auf die Umgebung. Zwei Häuser entfernt war ein Fernseher auf einen Nachrichtenkanal eingeschaltet, doch Moira konnte die einzelnen Worte nicht verstehen. Vögel zwitscherten in allen Tonlagen und wurden stetig lauter, während der Morgen erwachte. Sie war ruhig, aber auf der Hut. Sie hatte nicht das Gefühl, der Zauber, mit dem der Ort belegt war, gälte ihr und würde der Hexe ihre Ankunft melden.
Ermutigt näherte sie sich der Tür. Sie war verschlossen.
Für Hexen gab es keine verschlossenen Türen, doch musste man auch keine sein, um mit einem Dietrich umzugehen. Sie zog ein kleines Sortiment aus ihrer Tasche, und drei Sekunden später befand sie sich in der Garage. Still und leise dankte sie Rico, der ihr nicht nur beigebracht hatte, wie man Dämonen umbrachte, sondern auch auf ganz altmodische Weise einzubrechen.
In der Garage stand ein Kleinwagen, und in den vielen Regalen häuften sich Kräuter und Einweckgläser. Auf den ersten Blick sah die Garage aus wie ein Bastelraum, doch Moira wusste, welchen Zweck diese Kräuter und Pflanzen erfüllten – keinen guten. Über der Tür hing ein Trockenblumenstrauß, der, oberflächlich betrachtet, den Raum schmückte, dessen Kräuter aber Geister vertreiben und die Bewohner des Hauses schützen sollten.
Sie war nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollte, und hielt einen kurzen Moment inne. Sie kannte sich zwar im Haus nicht aus, doch in der Garage konnte sie nicht bleiben, da sie keinen Platz bot, um sich zu verstecken, falls jemand hereinkäme.
Sie versuchte langsam und vorsichtig die Tür zu öffnen, die ins Haus führte. Sie war nicht verschlossen. Sie horchte nach Geräuschen im Innern. Nichts.
Moira wollte gerade durch die Tür gehen, als der Warmwasserboiler hinter ihr ansprang. Sie zuckte zusammen, fluchte und wartete. Der Boden über ihr knarrte und erinnerte sie daran, dass dies ein altes Haus war und sie sich nicht geräuschlos fortbewegen konnte, egal wie vorsichtig sie auch sein würde. Moira wäre zu gerne hineingeeilt, um Lily zu holen, doch widerstand sie der Versuchung, zählte langsam bis zwanzig und ermahnte sich zur Vorsicht. Sie trat in die kleine Waschküche, die zwischen Garage und Küche lag, aus der der Duft frisch gebrühten Kaffees drang. Sie schloss ihre Augen für einen Moment und konzentrierte sich auf die wenngleich auch nur leichten Regungen im Haus. Sie hatte Monate damit verbracht, ihren »Spinnensinn«, wie Rico ihn einmal in einem seiner wenigen heiteren Momente genannt hatte, zu trainieren. Volle Konzentration, Angst hinter sich lassen, Herzschlag verlangsamen. Hören, fühlen, sein.
Oben wurde geduscht, das Rauschen des Wassers war zu hören. Je länger die Dusche lief, umso wärmer und feuchter wurde es im Haus. Moira konnte den Dampf fast spüren. Ein schlurfender Gang – nicht von der zierlichen Lily, von jemand Größerem. Das Tropf-tropf-tropf des Wassers in die Kaffeekanne. Die warme Luft, die durch den Boden drang und nach oben stieg.
Heidekraut. Sein typischer Geruch stieg Moira in die Nase. Bilsenkraut. Häufiger Bestandteil zahlreicher Zaubersprüche und Beschwörungen, deren Ziele meist schändlich waren. Wermut. Ein weiteres Kraut, das von Hexen vorrangig zum Schutz des Heims eingesetzt wurde. Sie betrat die Küche.
Sie hörte einen dumpfen Schlag von unten. Von unten? Gab es etwa einen Keller? Waren da vielleicht Ratten? Ihr lief es kalt den Rücken hinunter. Sie konnte Nagetiere, egal welcher Art, nicht ausstehen. Sie hatten nichts Erlösendes an sich.
Das Geräusch konnte nicht von einer Ratte stammen, dafür war es zu laut gewesen. Dann hörte Moira ein Schluchzen, ganz weit entfernt. Hätte sie nicht mit jeder Zelle ihres Körpers gelauscht, hätte sie es nicht mitbekommen.
Die Tür zum Keller ging wahrscheinlich von der Küche ab oder befand sich unter der Treppe.
Sie öffnete die einzige Tür in der Küche. Der Geruch von Brot und Konserven stieg ihr in die Nase, und sie wusste, ohne das Licht angemacht zu haben, dass sie vor der Speisekammer stand.
Sie schloss die Tür wieder, ohne ein Geräusch zu verursachen, und ging in den Flur. Die Dusche oben lief immer noch.
In der kleinen Diele, die zur Eingangstür führte, befanden sich zwei Türen: auf der rechten Seite und links unter der Treppe. Der Boden knarrte unter Moiras Füßen, obwohl sie äußerst behutsam auftrat. Wenn das Wasser aufhören würde zu laufen, würde Lilys Mutter das Quietschen der Holzböden bestimmt hören.
Die Tür unter der Treppe war verschlossen.
Moira zog den Dietrich heraus. Das Schloss war zwar moderner, doch sie bekam es trotzdem schnell auf.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihr der penetrante Geruch eines Pulvers entgegen – Wermut, Frauenwurzel und etwas, das Moira nicht genau bestimmen konnte –, alles Kräuter, um einen Staub herzustellen, der sowohl vor bösen Geistern als auch vor feindlichen Hexen schützen sollte. Und der eine Person zum einen gefügig machen, zum anderen vor der Inbesitznahme durch einen Dämon bewahren sollte. Lily würde nicht kämpfen, schreien oder versuchen zu fliehen. Sie würde ruhig sein …
Eine tränenerstickte Stimme drang nach oben. »Mom? Kann ich jetzt wieder hochkommen?«
Eine verängstigte Stimme.
Moira bekreuzigte sich und flüsterte ihr eigenes, besonderes Gebet. »Heiliger Michael, du passt jetzt besser mal auf, was hinter meinem Rücken passiert, und stell mir keine Feinde in den Weg!« Und schnell schob sie hinterher: »Bitte!«
Sie stieg die Holztreppe nach unten. Auf der einen Seite befand sich eine Wand; die andere Seite war offen und auch nicht durch ein Geländer gesichert. Die Treppenstufen knarrten schlimmer als der Boden oben. Der Keller war feucht und modrig.
»Lily«, flüsterte sie in den pechschwarzen Raum hinein. »Ich bin’s, Moira.«
»Geh! Es ist zu gefährlich hier!«
»Ich gehe nicht ohne dich.«
»Es ist zu spät. Meine Mutter …«
»Erzähl mir das später. Los jetzt!«
Schleppend kam Lily auf sie zu.
»Schneller!«
Oben wurde die Dusche abgestellt.
Moira schob das Mädchen vor sich die Treppe hinauf. Schwaches Licht drang vom Flur nach unten, während die Sonne weiter aufging und sich ihren Weg durch den morgendlichen Nebel bahnte.
Lily stolperte, doch Moira schob sie weiter. Lily kannte die Bedeutung des Wortes leise nicht, aber immerhin war sie klein, und das schlug sich auch in ihren Bewegungen nieder. Sie bogen um die Ecke. Moira wusste, dass Elizabeth Ellis oben im ersten Stock am Ende der Treppe stand und horchte. Lilys Mutter roch die Kräutermischung, deren Duft unbeabsichtigterweise aus dem Keller nach oben gezogen war, als Moira die Tür geöffnet hatte.
Moira schob Lily in die Küche.
Jemand lief die Treppe hinunter.
Moira wies Lily an: »Los, raus hier!«
»Hekate, Beliel und Achiel …«, begann Elizabeth, als sie die beiden sah.
Moira, die nicht die Absicht hatte, Lilys Mutter ihren Zauberspruch zu Ende sagen zu lassen, wirbelte herum und trat diese in den Bauch. Dabei war sie von ihrer Zielgenauigkeit und der Tatsache, sie dort gespürt zu haben, wo sie tatsächlich stand, fast selbst überrascht.
Ohne zu zögern, trat sie noch einmal zu. Das weiße Handtuch, das Lilys Mutter um sich gewickelt hatte, fiel herunter. Moira musste fast lachen, als sie mit ihrer rechten Hand in das Gesicht der Frau schlug und sie zu Boden zwang.
Lily schrie auf.
»Lauf !«, befahl Moira ihr.
»Du wirst es nie schaffen, du Miststück!«, schrie Elizabeth Ellis, als sie wieder auf die Beine kam. »Ich werde alle Geister rufen …«
»Halt die Klappe!« Sie schlug noch zweimal mit ihrem Handrücken zu. Ihre linke Schulter pochte und begann wieder zu bluten. Das warme Blut sickerte durch den Verband. Verflucht, das tat weh!
Moira warf den Küchentisch um, um der Frau die Verfolgung zu erschweren, und schob Lily dann durch beide Türen nach draußen.
Das Mädchen humpelte zur Straße, doch Moira drängte es in die andere Richtung zum Hinterhof. »Hier entlang, über den Zaun da hinten!«
Lily gehorchte, obwohl ihr langes, dünnes Nachthemd ihr im Weg war. Sie zitterte, aber in diesem Moment war es Moira egal, wie es dem Mädchen ging.
»Schneller!«
Moira machte eine Räuberleiter und hievte Lily über den Zaun. Ihr tat der Arm weh, und die Prellungen, die ihre Mutter ihr am vorherigen Tag zugefügt hatte, schmerzten. Sie hätte am liebsten laut aufgeschrien, aber sie riss sich zusammen.
Die Tür des Nebeneingangs wurde aufgerissen.
Lily befand sich bereits jenseits des Zauns. Moira fasste ihn oben an und zog sich mit dem rechten Arm hoch, während Elizabeth Ellis mit einem Zauberspruch begann, den Moira nur zu gut kannte. Er war einfach und effektiv.
Die Hunde in der Nachbarschaft fingen an zu bellen. Sie taten es, weil ein Dämon in der Nähe war.
»Oh Mist!«, murmelte sie. »Ein Erdbeben.«
Die Erde bebte, als ein Erddämon sich vor Moira aus dem Boden erhob. Er stellte im Allgemeinen keine Gefahr dar, weil der Zauberspruch an sich schwach war und nur schlafende Dämonen aus lebenden, nicht menschlichen Organismen heraufbeschwor, doch würde er sie aufhalten – denn dass ein Dämon herumstreifte und anderen Schaden zufügte, konnte sie nicht zulassen.
Lily stolperte und fiel hin. Moira zog sie hoch und wies sie an: »Lauf zu Jareds Wagen um die Ecke! Sofort!«
Elizabeth Ellis war nicht stark genug, um einen mächtigeren Dämon nach Belieben heraufzubeschwören – das Ritual würde entweder mehr Zeit oder mehr Hexen in Anspruch nehmen –, doch Erddämonen heraufzubeschwören war ein Trick, der nicht so schwer zu erlernen war. Moira hätte zu gerne einen kleinen Blitz erzeugt, um Lilys Mutter eins auszuwischen. Dieser tiefe, ungebetene Wunsch ärgerte sie, und sie berührte das Medaillon um ihren Hals, das einmal Peter gehört hatte.
Sie streckte ihre Hand aus und sprach eine Formel der Teufelsaustreibung, als der Dämon schwankend auf sie zukam. Es handelte sich eher um einen Kobold als um eine verlorene Seele, und obwohl sie ihn nur in den Boden zurückschicken wollte, übten ihre Worte eine solche Wirkung aus, dass er sich stattdessen um sich selbst drehte, sein Inneres nach außen stülpte und schließlich verschwand.
»Was zur Hölle war das denn?«
Elizabeth Ellis hatte es auch mitbekommen und blieb wie angewurzelt stehen. Moira, plötzlich entsetzt über das, was sie getan hatte – weil sie nicht genau wusste, was sie überhaupt getan hatte –, lief los. Sie holte Lily ein, noch bevor diese den Pick-up erreicht hatte, und schob sie vor sich her.
Lily weinte nicht mehr, was ihr hoch anzurechnen war, denn sie trug keine Schuhe. Nur auf Strümpfen lief sie über den rauen Beton- und Kiesboden.
Lauf, lauf, lauf!, drängte Moira ihr ihren Willen auf.
»Jared!«, rief Lily plötzlich keuchend auf.
»Das ist nur sein Wagen. Steig ein!«
Sie gehorchte, offensichtlich enttäuscht. Moira ließ das Auto an und gab Gas. Erst dann schaute sie in den Rückspiegel und sah Elizabeth Ellis, die sich mehr als einen Häuserblock hinter ihnen befand. Sie verfolgte sie zwar nicht mehr, war aber immer noch nackt.
Moira grinste. »Wie schön ist doch so ein Sieg, aber noch schöner ist er, wenn der Gegner dabei mit nacktem Hintern verliert!«