SECHSUNDDREISSIG
Als Skye abends in ihr Büro zurückkam, war es bereits nach acht. Sie war erschöpft, hungrig und besorgt. Es hatte bereits zwei Morde, drei versuchte Vergewaltigungen, eine Körperverletzung und vierundzwanzig schwere Diebstähle gegeben. Zusätzlich zu den fast einhundert leichten Diebstählen – darunter der einer Frau, die in eine Boutique ging, ein Hochzeitskleid anprobierte und damit einfach aus dem Laden marschierte. Ohne zu zahlen.
Bevor Skye sich hinsetzen konnte, kam Roy Fielding herein. »Ich hab da was für dich«, kündigte er an.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Schön, dann stell dich mal hinten an!«
Er setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtischs und sagte mit leiser Stimme: »Es steht im Zusammenhang mit unserem Gespräch von heute Morgen.«
»Schon wieder eine Leiche mit einem Mal?«, fragte sie.
»Nicht ganz, aber die gleiche Vorgehensweise.«
»Die gleiche Vorgehensweise? Wir haben es hier nicht mit einem Serienmörder zu tun.« Obwohl Skye in dem Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, nicht umhinkam zu denken, es handle sich bei den sieben Todsünden sehr wohl um Serienmörder, um übernatürliche, deren Wege mit mehr Opfern gepflastert waren als die irgendeines gewöhnlichen Mörders aus Fleisch und Blut.
»Ich habe die Leiche nicht, sie befindet sich oben in San Louis Obispo und liegt damit außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Aber ich rief die Gerichtsmediziner und Pathologen an, die ich in der Umgebung kenne, und fragte sie unauffällig nach dem Mal. Es ist zwar noch keiner auf eins gestoßen, doch Karen in San Louis Obispo bekam heute einen Fall herein, der sich sehr ungewöhnlich anhört, und sie hat mit mir ein wenig darüber geplaudert. Eine Frau, die vor ein paar Monaten ihr Haus durch eine Zwangsvollstreckung verlor, hat es heute Morgen in Brand gesteckt – die Familie, die darin wohnte, konnte sich gerade noch retten. Die Großmutter jedoch, die bei ihnen lebte, starb.«
»Konnten sie die Brandstifterin fassen?«
»Sie sitzt im Bezirksgefängnis.«
»Und was hat das mit der Vorgehensweise zu tun?«
»Ich habe einen der Polizisten von dort oben angerufen, um noch ein bisschen mehr über den Fall zu erfahren, und jetzt halt dich fest: Die Brandstifterin wohnt in der Anlage von Ned Nichols!«
Der Schütze von Rittenhouse. »Was für ein eigenartiger Zufall!«
»Zufall? Das denkst du ja wohl nicht allen Ernstes, oder?«
»Nein. Behalte diese Verbindung für dich. Solltest du noch mehr in dieser Richtung hören – oder von Leichen mit ähnlichen Malen –, sag mir Bescheid!«
»Mach ich.«
»Danke, Rod. Und – sei vorsichtig, ja?«
Er stand auf und meinte düster: »Ich habe mir heute zehn Mal meinen Rücken im Badezimmerspiegel angeschaut.«
Wäre Rods Ton nicht so ernst gewesen, hätte Skye gelacht.
»Sei du aber auch vorsichtig, Skye! Nur weil du einen Dämonologen an deiner Seite hast, heißt das nicht, dass du unverwundbar bist!«
Womit er recht hatte. Sie war letzten November, als sie die Morde in der Mission untersuchte, dem Tod ein paarmal nur knapp entkommen.
Auf seinem Weg aus Skyes Büro meinte Rod noch: »Ich wollte dir nur noch schnell sagen, dass ich mich um Abbys Leiche gekümmert habe. Sie wurde heute Nachmittag eingeäschert.«
»Danke.« Sie sah ihm nach, wie er zur Tür hinausging, und rief dann eine Bekannte an, die nachts im Bezirksgefängnis von San Louis Obispo arbeitete. Sie fragte, ob die Brandstifterin irgendwelche auffälligen Male aufweise. Zehn Minuten später kehrte die Frau wieder ans Telefon zurück und fragte: »Woher hast du das gewusst? Sie hat ein riesiges Muttermal oben auf der Schulter. Hat ’ne komische Form, sieht zum Teil aus wie ein Sichelmond.«
»Danke für deine Hilfe«, erwiderte Skye und legte auf. Was würde Anthony davon halten?
Bevor sie ihn anrufen konnte, klingelte ihr Handy. Es war Anthony.
»Witzig, ich habe gerade an dich gedacht!«
»In der Kirche des Guten Hirten hat es Ärger gegeben.«
Sie setzte sich gerade auf ihren Stuhl. »Was für Ärger?«
»Die Art von Ärger, mit der ich anscheinend gesegnet bin«, antwortete er mit einem seltenen Hauch von Sarkasmus in seiner Stimme.
»Wir treffen uns dort.«
»Nein – komm noch nicht. Lass mich zuerst dorthin fahren und die Lage einschätzen. Ich weiß nicht, was uns dort erwartet.«
Leider wusste Skye, was er meinte. »Ich bin im Büro und nur zehn Minuten von der Kirche entfernt«, sagte sie. »Weißt du, was passiert ist?«
»Moira spürte Ari und Jared in der Kirche auf, wo das Mädchen mit einem gefährlichen Ritual begonnen hatte. Am Schluss war sie besessen, und Moira trieb ihr den Dämon wieder aus – dabei wurde sie von Matthew Walker, dem früheren Pfarrer, unterstützt. Er sagte, du hättest ihn heute wegen Pennington angerufen?«
»Ja. Er schien deswegen ziemlich aufgebracht zu sein. Geht es Jared und Ari gut?«
»Anscheinend. Doch als sie gehen wollten, liefen sie zwei Mitgliedern von Fionas Hexenzirkel in die Arme: Pennington und einer Lehrerin von der Schule, Donovan. Sie hat ein Verhältnis mit Jareds Vater. Das passt wiederum zu dem, was du über Santos gesagt hast, und erklärt auch das Mal auf seinem Nacken.«
Sie erinnerte sich wieder an Rafes Worte. Vertraue deinen Instinkten! »Wir hatten eine Flut von Anrufen heute Abend«, erzählte Skye. »Ich habe versucht, Rafe ausfindig zu machen, aber …«
»Das habe ich mitbekommen. Wir hören doch den Polizeifunk.«
Das stimmte – Anthony hatte ja ihr Auto. »Was hat das alles zu bedeuten? Ist halb Santa Louisa besessen?«
»Sie sind nicht besessen. Sie haben keine Hemmungen, kein Gewissen mehr. Man hat es ihnen genommen. Neid ist ihre Antriebsfeder, und sie nehmen sich das, was sie wollen. Die Folgen sind fatal. Ich habe ein Tabernakel, um den Dämon Neid zu fangen. Wir sind bereit.«
»Das hoffe ich.«
»Moira glaubt zu wissen, wo Rafe steckt. Sie ist auf dem Weg dorthin, um ihrer Vermutung nachzugehen. Was mir zurzeit aber noch mehr Kopfzerbrechen bereitet, ist der Hexenzirkel. Moira meinte, sie würden gerade ein weiteres Ritual vollziehen. Ich befürchte, dieses Ritual wird so enden wie Ari Blairs Versuch.«
»Aber das würde doch bedeuten, dass sie scheitern. Was ist daran so schlecht?«
»Skye, je mehr Seelen sie mit in den Abgrund reißen, desto stärker werden sie. Am Schluss können sie unbezwingbar sein – zumindest für Sterbliche. Wenn das passiert, kann nur noch die letzte große Schlacht sie aufhalten, und die findet nur ein Mal statt – am Ende aller Tage.«
»Anthony, das habe ich ironisch gemeint, doch jetzt hast du es geschafft, mir eine Riesenangst einzujagen.«
»Das tut mir leid. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch. Sei vorsichtig!« Widerwillig legte sie auf.
Ihr Schreibtisch war voll, aber sie konnte sich auf die Papierstapel nicht konzentrieren, deren Anzahl im Laufe der Nacht noch wachsen würde. Sie schaute sich verschiedene Akten an und stieß dabei auf eine Notiz von Deputy Jorgenson, die sich auf einem Stapel befand, der mit einem Gummi zusammengehalten wurde. Er war vorgestern Morgen unwissentlich betäubt worden und fühlte sich deswegen furchtbar – obwohl Skye ihm versichert hatte, dass ihn keine Schuld träfe. Sie hatte ihn für zwei Tage zum Schreibtischdienst verdonnert, bis die Ergebnisse seiner Bluttests vorlägen. Er hatte sich wohl sofort an die Recherchearbeiten begeben, um die sie ihn gebeten hatte.
Sheriff –
hier die Auszüge der Strafregister, um die Sie mich heute Morgen gebeten haben. Warte immer noch auf den Bericht des Militärs von Nichols. Im Fall Fiona O’Donnell liegt nichts vor. Habe die Einwanderungsbehörde kontaktiert, aber noch nichts von ihnen gehört. Ein paar Dinge erschienen mir eigenartig, ich habe sie Ihnen in den Akten markiert. Der Arzt hat mich für heute Nachmittag vom Dienst befreit, ich bin also wieder am Sonntag zur Nachtschicht zurück.
– Deputy Jorgenson
Skye hatte fast vergessen gehabt, um wie viele Strafregisterauszüge sie Jorgenson gebeten hatte. Sie hatte nicht vor Montag mit ihnen gerechnet. Sie hatte sie von allen Toten haben wollen sowie von Pennington, Walker, Fiona O’Donnell, Rafes Arzt Richard Bertrand und Andy Rucker, dem Ehemann, der von seiner Frau behauptete, sie hätte eine Schwangere die Treppe hinuntergestoßen. Das Opfer befand sich im Krankenhaus und musste strengste Bettruhe einhalten, nachdem die Ärzte ihre vorzeitigen Wehen hatten stoppen können.
Der Deputy hatte ihr alle Berichte zusammengestellt und jede Akte mit einer Notiz versehen, auf der geschrieben stand, was noch fehlte. An Matthew Walkers Bericht klebte eine Fahne.
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte seinen Namen heute Morgen eingegeben, doch nachdem sie mit ihm gesprochen hatte, waren bei ihr keine Alarmglocken losgegangen. In Anbetracht dessen, was alles passiert war und noch passierte, hätte sie sich den Bericht heute Abend sicherlich nicht angeschaut, doch Jorgenson hatte ihn gekennzeichnet.
Sie klappte die Akte auf und überflog die Zusammenfassung. Mit gerunzelter Stirn blätterte sie die Seiten durch. Da konnte etwas nicht stimmen … Sie nahm den Hörer in die Hand und rief Jorgenson an. »Hallo, sind Sie sicher, den richtigen Matthew Walker zu haben?«
»Ja. Ich habe ihn drei Mal überprüft, nachdem Sie seine kranke Mutter erwähnten. Es handelt sich um genau jenen Matthew Walker, Pastor der Kirche des Guten Hirten. Eigentlich könnte man meinen, die Kirche oder wer auch immer würde ihre Mitarbeiter schon selbst überprüfen, denn wer will schon das Wort Gottes aus dem Mund eines perversen Exhäftlings hören.«
»Danke«, murmelte Skye. »Ich weiß Ihre gewissenhafte, zügige Arbeit zu schätzen.«
»Gern geschehen. Ich wollte Sie nur wissen lassen«, fügte er hinzu und räusperte sich, »dass ich Ihnen im Juni meine Stimme geben werde.«
»Auch das weiß ich zu schätzen.« Sie legte auf, starrte die Akte an und schüttelte den Kopf.
Matthew Walker war ein versierter Lügner. Er hatte zusammen mit Vance Lamb das Bethany Bible College besucht, so wie Mrs. Lamb erzählt hatte. Dann war er nach Sacramento gezogen, wo er als Hilfspfarrer in einer großen Kirche gearbeitet hatte. Er war der Vergewaltigung beschuldigt worden, doch die Anklage war fallen gelassen worden, nachdem das Opfer seine Aussage widerrufen hatte. Auf einer Notiz von Jorgenson stand geschrieben, dass noch Anfragen zu Matthew Walker bei Nachbarstaaten liefen, doch hatte er ein Telefongespräch, das er mit einem Kriminalbeamten aus Portland, Oregon, geführt hatte, aufgezeichnet und übertragen:
Walker ist aalglatt. Er baute diese Ladenkirche in der Innenstadt auf und hatte nach zwei Jahren bereits eine riesige Gemeinde. Tönte herum, Christ zu sein, aber das war genau wie dieses gesamte dumme Gewäsch von positivem Denken nur Blabla. War ziemlich dick mit Edith Lyttle, einer exzentrischen Frau mit Millionen auf dem Konto. Edith änderte ihr Testament und hinterließ seiner Kirche ihr ganzes Geld. Zwei Monate später starb sie. Ich ließ den Gerichtsmediziner die Leiche obduzieren, aber er schwor, sie wäre an einem Herzinfarkt gestorben. Keine Medikamente, keine Gewalteinwirkung, nichts. Aber, verdammt noch mal, ich bin ein alter Hase und mache meinen Job seit zweiundzwanzig Jahren, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass Walker sie umgebracht hat! Er verließ Portland, als seine Mutter krank wurde. Eigenartiger Zufall, denn das geschah, kurz nachdem ich diesen Penner für die Vergewaltigungen dranbekam, die Sie ja schon erwähnten. Sagte, ich hätte ihn verleumdet und seine Pfarrei zerstört. Er wäre ein guter Mensch. Klar, deshalb verließ er auch Portland mit Edith Lyttles drei Millionen Dollar!
Das hatte sich vor vier Jahren zugetragen. Von da ab bis zu dem Zeitpunkt, als er vor zwei Jahren die Kirche des Guten Hirten eröffnete, hatte Jorgenson über ihn nichts mehr gefunden, außer dass er sich in San Francisco einen Führerschein des Staates Kalifornien hatte ausstellen lassen.
Aber der Knaller überhaupt? Jorgenson hatte Georgia Walkers Todesanzeige gefunden – von vor neun Jahren …
… Witwe des Richters Neil Walker. Sie hinterlässt eine Schwester, Corinne Davies aus Portland, Oregon, und einen Sohn, Pastor Matthew Walker aus Austin, Texas.
Walker hatte nie zu seiner sterbenden Mutter gemusst – sie war bereits tot. Warum also hatte er Santa Louisa verlassen? Warum all diese sorgfältig erdachten Lügen?
Dieser Mann hatte Skye belogen, und das ließ sie nicht auf sich sitzen. Sie hätte ihre Dienstmarke verwettet, dass er Garrett Pennington, seinen Nachfolger in der Kirche, kannte. Sie wusste nicht, ob die Lambs ebenfalls in die Sache verstrickt waren, aber das würde sie über das Wochenende noch herausfinden.
Sie rief Jorgenson an. »Wenn Sie dieses Wochenende hereinkommen, schreiben Sie sich die Überstunden auf. Ich möchte eine vollständige polizeiliche Überprüfung von Matthew Walker. Ich will den Namen jeder Kirche, bei der er gearbeitet, jeden Artikel, in dem er erwähnt wurde, eine Geburtsurkunde, die Sterbeurkunde seiner Mutter, seinen Geburtsort und wie die Nachbarn in dem Ort hießen, wo er aufwuchs. Rufen Sie jeden Polizisten an, der ihn je eines Verbrechens verdächtigt hat! Dieser Kerl bedeutet Ärger – Riesenärger!«
»Wird gemacht, Sheriff.«
»Danke.«
Sie legte auf und schaute sich noch einmal die Todesanzeige von Walkers Mutter an.
Schwester von Corinne Davies.
Corinne Davies, die Köchin, die die Priester in der Mission vergiftet hatte. Kein Wort über Lisa Davies, ihre Tochter, die ebenfalls in der Mission gearbeitet hatte.
Skye rief Anthony an, um ihm die Neuigkeiten zu erzählen, doch er nahm nicht ab.
Mist, Mist, Mist!
Sie lief zum diensthabenden Polizisten. »Ich brauche vier Streifenwagen. Zwei sollen zur Kirche des Guten Hirten fahren, die anderen beiden zu den Klippen, wo Abby Weatherby gestorben ist.«
»Es sind keine da. Sie sind alle draußen. Die Tagesschicht macht schon Überstunden.«
»Es ist keine einzige Streife da?!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde Ihrer Anordnung Priorität einräumen. Soll zuerst zur Kirche gefahren werden?«
Sie zögerte und nickte dann. »Ich mache mich jetzt auf den Weg dorthin.« Sie ging hinaus und kam wieder zurück. »Ist eine Streife bei Rittenhouse?«
Er schaute auf das Blatt vor ihm. »Ja, das Geschäft liegt im Revier von Tom Young. Er fährt einmal in der Stunde daran vorbei. Machen Sie sich Sorgen, irgendwelche Jugendliche könnten es verwüsten oder so?«
Sie nickte. »Genau.« Oder so.
Skye lief zu ihrem Wagen zurück und betete, dass Anthony nichts zugestoßen war. Oder Moira.