8
Am nächsten Morgen verstauten wir unser Gepäck im Begleitfahrzeug und brachen um halb zehn auf. Unser Fahrer hieß Joe – ein kräftiger Kerl mit Dreifachkinn. Sein Sohn hatte die Tour ein paar Jahre zuvor mitgemacht und seitdem stellte er der Schule seine Zeit und seinen Geländewagen kostenlos zur Verfügung. Wir waren die zweitletzte Gruppe, die aufbrach. Das war Mr Camdens Idee. Wahrscheinlich fürchtete er, dass er uns nie Wiedersehen würde, wenn er uns als Letzte gehen ließ.
»Keine Angst«, rief er uns zu, als wir auf unseren Rädern durch das Tor auf die Straße hinausfuhren. »In den fünfzehn Jahren, in denen ich das schon mache, ist es noch nie vorgekommen, dass eine Gruppe den Abschnitt mit dem Fahrrad nicht geschafft hat.« Eigentlich hätte er wissen müssen, dass jemand wie Jonathan gar nicht anders konnte, als das als Herausforderung aufzufassen.
Eine Woche vor der Exkursion hatte Mr Camden eine ehemalige Profiradfahrerin in den Kurs eingeladen. Sie erklärte uns, wie man den Windwiderstand im Pulk reduzieren und den Kraftaufwand um ein Drittel verringern konnte. Damals hatte sich alles so einfach angehört. Ohne die Komplikationen des wahren Lebens. Ohne Komplikationen wie Jonathan.
Er und Rebecca fuhren voraus, gefolgt von Lisa und mir. Zum Schluss kam Ms Jenkins. Jonathan versuchte, uns von Anfang an das Leben schwer zu machen. Er kam auf die geniale Idee, einen so unregelmäßigen Rhythmus vorzugeben, dass man ihm unmöglich folgen konnte. Erst raste er in einem Affenzahn davon. Und dann drosselte er so abrupt das Tempo, dass wir bremsen mussten, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Rebecca ließ sich nicht so leicht abschrecken und passte sich seinem unsteten Fahrstil trotzig an. Doch uns andere machte seine Fahrweise völlig fertig. Genau wie er es beabsichtigt hatte. Schon nach kurzer Zeit brannten meine Beine vom unregelmäßigen Fahren. Genau davor hatte man uns im Vorfeld ausdrücklich gewarnt. Wir waren erst dreißig Minuten unterwegs und Jonathan hatte schon den ersten Sieg errungen. Er hatte es geschafft, das Fahren im Pulk zu einer extrem kraftraubenden Technik zu machen.
Trotzdem kamen wir erstaunlich gut voran. Für die ersten dreißig Kilometer brauchten wir gute eineinhalb Stunden. Vor uns erstreckte sich der einzige echte Anstieg des Tages, und als Jonathan spürte, dass wir kurz vor dem Zusammenbruch waren, konnte er nicht widerstehen. Er ging aus dem Sattel und preschte davon. Rebecca ließ sich nicht abhängen und folgte ihm Tritt für Tritt, sodass er nur noch entschlossener in die Pedale trat. Ich quälte mich eine Weile lang auf meinem Rad ab, und vielleicht hätte ich es sogar geschafft, mit ihnen mitzuhalten, wenn ich es wirklich versucht hätte. Doch nachdem ich den ganzen Morgen zusammen mit Lisa gefahren war, fühlte ich mich ihr auf unbestimmte Weise verbunden. Überrascht stellte ich fest, dass uns Ms Jenkins mühelos überholte und sich beherrschen musste, um nicht selbstzufrieden zu lächeln.
»Ich hasse diesen Arsch von Jonathan«, murmelte Lisa und blickte starr geradeaus über ihren Lenker. Ihr dunkelrotes Gesicht war schweißüberströmt und der Helm war ihr ins Gesicht gerutscht.
»Ich auch«, gab ich keuchend zurück. Es waren die ersten Worte, die wir an diesem Morgen wechselten, und sie genügten, um uns zu Freunden zu machen.
Als wir auf der Bergkuppe ankamen, warteten die anderen drei am Straßenrand auf uns und versuchten, entspannt auszusehen, obwohl man ihren Gesichtern die Anstrengung noch immer ansah.
»Beeil dich, Lisa«, stichelte Jonathan. »Du hältst die ganze Gruppe auf.«
»Ich finde, sie schlägt sich prima«, erwiderte ich zu schnell.
»Ach, sieh mal einer an. Da haben sich wohl zwei gefunden, was, Marko?«, sagte Jonathan. Rebecca grinste spöttisch hinter ihm.
»Halt dein blödes Maul, du Arschloch!«, zischte Lisa. »Du vermasselst hier doch alles.«
»Lisa, wenn du etwas auszusetzen hast, solltest du das etwas höflicher ausdrücken«, sagte Ms Jenkins in dem vergeblichen Versuch, einen Streit zu verhindern. Zu spät. Das Feuer war entfacht und wir waren alle in der Stimmung, noch etwas Öl hineinzugießen. Es folgten weitere Beschimpfungen und Schuldzuweisungen und unter den zahlreichen Beleidigungen lösten sich die ersten zarten Bande unversehens wieder auf. Als Mr Camden eine Viertelstunde später zu uns kam, gab es keine Gruppe mehr, sondern nur noch vier völlig zerstrittene Schüler und eine Lehrerin, die sich vermutlich fragte, warum sie nicht zu Hause geblieben war.
Mr Camden bemühte sich aufrichtig, das Problem zu lösen.
Er schlug vor, dass von nun an Lisa und ich vorne fahren sollten. Danach fuhr er mit seiner Gruppe rasch davon. Ich glaube nicht, dass er großen Wert darauf legte mitzuerleben, wie seine tolle Idee scheiterte. Was sie tat. Jonathan und Rebecca klebten die ganze Zeit an unseren Hinterreifen und beschwerten sich über das Schneckentempo. Je mehr sie sich beschwerten, desto langsamer fuhr Lisa. Schließlich hatten Jonathan und Lisa zu allem Übel einen Platten und meine Kette riss, als ich am Berg in einen anderen Gang schaltete. Alles Dinge, die man problemlos beheben konnte – vorausgesetzt, die Gruppe bestand aus Leuten, die zusammenhielten oder zumindest miteinander redeten. Stattdessen schmollten wir und behinderten uns gegenseitig, sodass wir den nächsten Haltepunkt ganze eineinhalb Stunden später als geplant erreichten. Für Jonathan ein gefundenes Fressen.
»Euch beide nach vorn zu setzen war wirklich eine grandiose Idee!«
»Immerhin halten wir die Gruppe zusammen«, erwiderte Lisa.
»Stimmt. Ob wir wollen oder nicht.«
»Wir wären besser zu Fuß gegangen. Dann wären wir schneller gewesen.«
»Pannen kann man nicht vorhersehen«, meinte Ms Jenkins beschwichtigend. »Ich finde, wir schlagen uns ganz gut.«
Aus irgendeinem Grund machte diese Bemerkung Lisa noch viel wütender als Jonathans Sticheleien. Sie packte ihr Fahrrad an der Sattelstange und schleuderte es wie eine Hammerwerferin von sich. Das Rad flog beeindruckend weit durch die Luft und landete scheppernd weiter unten auf der Straße.
»Nein!«, schrie sie. »Wir schlagen uns überhaupt nicht gut. Wir schlagen uns sogar verdammt schlecht!« Sie starrte uns herausfordernd an. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging die Straße in die Richtung hinunter, aus der wir gekommen waren.
»Willst du ihr nicht nachgehen?«, fragte mich Jonathan grinsend. Ms Jenkins schien das überhaupt nicht komisch zu finden.
»Lisa!«, rief sie und ihre Stimme klang zum ersten Mal ungeduldig. Wir waren erst einen Tag zusammen und sie hatte schon die Schnauze voll von uns. Lisa drehte sich zu uns um.
»Ich geh kacken. Oder ist das vielleicht verboten?«
Wir warteten in unbehaglichem Schweigen. Ich setzte mich auf die Wiese und versuchte, die anderen zu ignorieren. Jonathan versuchte, Rebecca aufzuziehen, aber sie reagierte nicht. Ms Jenkins holte Lisas Rad zurück und schaltete durch die Gänge, um zu überprüfen, ob es beschädigt war. In der Zeit, die Lisa benötigte, um sich zu erleichtern – und vermutlich ein bisschen zu weinen –, verloren wir alle unseren Willen weiterzufahren. Wir gaben es sogar auf, so zu tun, als führen wir zusammen. Stattdessen überholten wir uns gegenseitig und fielen in unregelmäßigen Abständen kraftlos zurück. Ms Jenkins hielt sich im Hintergrund wie ein nervöser Hirtenhund, der nicht zu bellen wagt. Wir machten nur den Mund auf, um eine Mücke auszuspucken oder zu fluchen. Eigentlich hatten wir geplant, gegen Mittag in Masterton anzukommen. Um halb drei erreichten wir den Stadtrand. Das Begleitfahrzeug wartete auf uns, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, log Joe, der sich aus dem Wagenfenster lehnte. Er hatte so eine spezielle Art, einen grundlos anzulächeln, als wüsste er etwas, was man nicht wusste. »Gibt's Probleme?«
»Ach was. Wir amüsieren uns prächtig«, erwiderte Jonathan spöttisch, obwohl er sich vermutlich tatsächlich bestens amüsierte – wenn auch als Einziger. Wie dem auch immer war, Joe war jedenfalls nicht der Typ für versteckte Botschaften.
»Na prima! Also bis später am Fluss.« Und dann war er weg, ehe einer von uns auch nur die Chance hatte, ihn aufzuhalten.
»Was erzählst du denn da für einen Schwachsinn!«, fauchte Rebecca Jonathan an.
»Wieso denn? Gefällt es dir etwa nicht?«, erwiderte er grinsend. »Tut mir leid. Das ist mir entgangen.«
»Er hätte uns mitnehmen können«, sagte Lisa.
»Na ja. Das schlimmste Stück haben wir hinter uns«, versuchte uns Ms Jenkins zu trösten. Ihre Stimme klang so kraftlos, dass wir ihr nicht einmal widersprachen.
Mit drei zu zwei Stimmen entschieden wir uns für ein verspätetes Mittagessen bei McDonalds. Da unsere bisherige Leistung beim Radfahren sowieso zu wünschen übrig ließ, gingen wir davon aus, dass es keine Rolle mehr spielte, ob wir etwas Vernünftiges aßen oder nicht. Immerhin wussten wir hier genau, was uns erwartete. Und in diesem Moment hatte das etwas Tröstliches, wenn schon alles andere unberechenbar erschien. Schon die vertraute Einrichtung wirkte beruhigend: die gesprenkelten Tische mit den Plastikstühlen, die Fotos der pickligen »Mitarbeiter des Monats« an den Wänden und der kleine Ronald, der uns mit irren Augen aus der Kinderecke anstarrte. Und dann dieser typische Geruch nach heißem Öl und Reinigungsmittel. Es war, als würden wir nach Hause kommen. Vielleicht war das der Grund, warum wir uns plötzlich ein wenig entspannten. Während wir uns gegenseitig Pommes vom Tablett klauten und uns über das Eis beschwerten, vergaßen wir völlig, uns zu streiten. Gespräche begannen.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diesen Kurs überhaupt belegt habe«, sagte Lisa und tunkte ein Stück ihres Cheeseburgers in meine Soße. »Ich finde es total scheiße.«
»Stimmt«, bestätigte Rebecca, anstatt die Chance zum Angriff zu nutzen.
»Wisst ihr, was?«, sagte Jonathan mit funkelnden Augen, als ein vager Plan in seinem kranken Hirn Gestalt annahm. »Mr Camden wird sich schwarzärgern, wenn wir heute Abend nicht am Zeltplatz aufkreuzen.«
Die Idee war genial einfach. Der Zeitpunkt war perfekt. Ich erinnerte die anderen an das, was uns Mr Camden vor der Abfahrt zugerufen hatte: »In fünfzehn Jahren ist es noch nie vorgekommen, dass jemand diese Etappe nicht geschafft hat.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Ms Jenkins Jonathan mit besorgtem Blick.
»Auf gar nichts«, erwiderte Jonathan und stand auf. »Ich hab mir nur gerade überlegt, dass ich mir noch einen Nachtisch hole. Das ist alles.«
Wir folgten ihm zur Theke. Ich war pappsatt und hatte fast kein Geld mehr, aber das war mir egal. Es fühlte sich gut an, dass wir endlich alle am gleichen Strang zogen.
Je länger wir an unseren Nachtischen löffelten, desto häufiger sah Ms Jenkins auf die Uhr.
»Was genau habt ihr denn jetzt vor?«, erkundigte sie sich.
»Ganz einfach«, antwortete Jonathan zufrieden lächelnd stellvertretend für uns alle. »Wir fahren weiter, bis es dunkel wird, und suchen uns dann einen Platz, wo wir übernachten können.« Er sagte das so beiläufig, als wäre es das Naheliegendste auf der Welt.
War es aber nicht. Erstens befand sich unsere komplette Ausrüstung im Begleitfahrzeug. Zweitens hatten wir nichts zu essen dabei. Und wenn wir nicht bis zum Ende der Tagesetappe fuhren, wurde die nächste Etappe nur noch länger. Es verstieß gegen sämtliche Sicherheitsregeln und würde uns ziemlich sicher ein Ungenügend bescheren. Aber keiner von uns erwähnte auch nur einen dieser Punkte. Der Reiz war einfach zu groß. Es war sonnenklar, dass wir diesen Tag nicht mehr erfolgreich abschließen würden. Jonathan bot uns die Chance, unserer Niederlage wenigstens einen Hauch Exotik zu verleihen. Ms Jenkins hätte uns nur zu gerne gesagt, dass wir einen Fehler machten, das war ihr deutlich anzusehen. Aber das durfte sie nicht. Während der Tour trafen wir die Entscheidungen. So waren die Regeln.
Lisa und Jonathan hatten noch Geld übrig und gingen zum Supermarkt um die Ecke, um etwas zum Abendessen zu kaufen. Dann setzten wir uns wieder auf die Räder. Der neue Plan beflügelte uns so sehr, dass wir schneller vorankamen denn je. Wenn das keine Ironie des Schicksals war. Natürlich wäre es übertrieben zu behaupten, dass wir plötzlich alle Freunde waren. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Es gab sogar Ansätze von Gesprächen, die wie elektrische Funken zwischen den Radfahrern hin und her sprangen.
Eine Stunde später mündete die Teerstraße in einen Feldweg. An dieser Stelle ging das Weideland langsam in die Ausläufer der Tararua-Berge über. Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden und ließ sie kalt und düster erscheinen. Unter uns schlängelte sich der dunkle Waiohine River durch eine Schlucht. Laut Straßenschild waren wir nur noch neun Kilometer von den anderen entfernt.
»Das schaffen wir noch locker«, meinte Ms Jenkins. Wir waren zwar müde und die Straße wand sich bergauf, bergab durchs Tal, aber sie hatte recht. Wir hatten noch eine ganze Stunde Zeit, ehe es dunkel wurde. Doch Jonathan hatte andere Ideen.
»Lasst uns da unten übernachten.« Er deutete auf eine alte Scheune, die in Flussnähe im Schatten mehrerer Kiefern stand.
»Aber warum denn?«, fragte Ms Jenkins. »Alles, was ihr braucht, ist da oben: euer Essen, eure Schlafsäcke und eure Ausrüstung.«
»Und jede Menge Fragen«, ergänzte Jonathan. »Außerdem noch diverse Vorträge, Pläne und die anderen Gruppen.« Ich wusste, was er meinte. Der Tag war alles andere als perfekt gewesen, aber es wurde langsam besser. Wenn wir weiterfuhren, würden wir alles wieder kaputt machen.
»Wenn ihr im Moment zu müde zum Weiterfahren seid«, versuchte Ms Jenkins zu argumentieren, »setzen wir uns einfach an den Straßenrand und ruhen uns aus. Ich bin mir sicher, dass sie Joe zurückschicken, wenn wir bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht da sind.«
»Tut mir leid. Die Gruppe entscheidet. Kommt schon.« Jonathan hievte sein Rad über den Zaun und blickte uns erwartungsvoll an. Einer nach dem anderen folgte ihm, bis Ms Jenkins allein auf der Straße stand und keine Wahl hatte.
»Wir sollten uns wenigstens erkundigen, ob wir überhaupt in der Scheune übernachten dürfen. Weiter unten war ein Haus. Soll ich kurz hinfahren und nachfragen?«
Aber wir zogen bereits Richtung Scheune. Die Gruppe übernahm die Führung und traf ihre eigenen Entscheidungen, genau wie es sein sollte. Es fühlte sich gut an.
Die Scheune auch. Es war eine alte Holzhütte mit einer winzigen Fensterreihe direkt unter dem Dach. Vermutlich hatte man sie irgendwann zum Schafescheren benutzt. Die Scheune war leer bis auf einen mannshohen Stapel Heuballen in einer Ecke. Es roch nach Heu und Kuhscheiße, Traktorenöl und Rost und nach modrigen Spinnweben in dunklen Ecken. Wir schoben unsere Räder ins Innere – aus Sicherheitsgründen, wie Jonathan sagte. In Wirklichkeit ging es natürlich vor allem darum, nicht entdeckt zu werden.
Lisa und ich hatten unsere Jacken dabei. Wir breiteten sie auf dem Boden aus und Rebecca kippte das Essen darauf aus. Ein wahres Festmahl: zwei Tüten Chips, ein Laib Brot, Bananen, zwei große Flaschen Cola und ein Schokoriegel für jeden. Essen, das miese Laune garantiert vertrieb. Schon bald lachte Ms Jenkins mit uns und trank aus den Gemeinschaftsflaschen.
Wir zogen uns früh in unser »Schlafzimmer« auf den Heuballen zurück. Weil die Fläche nicht allzu groß war, mussten wir uns dicht nebeneinanderlegen und schon bald wurde uns unter der behaglichen Decke von Gesprächen mollig warm. Es waren die typischen Gespräche, die entstehen, wenn sich Menschen, die sich kaum kennen, einander öffnen. Geschichten, mit denen man die anderen beeindrucken oder zum Lachen bringen will. Bis man irgendwann auch über den Erzähler lacht, weil man weiß, dass das alles nicht so ernst gemeint ist.
Lisa redete am meisten. Die stille Lisa. Plötzlich war sie kaum noch zu bremsen. Als wäre sie in der Dunkelheit heimlich verschwunden und ein anderes Mädchen an ihre Stelle geschlüpft. Sie erzählte uns von der Privatschule, auf die ihr Vater sie geschickt hatte, um sie vor den bösen Jungs zu schützen. Ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte. Wie sie Seite an Seite zwischen Jonathan und mir in einer wildfremden Scheune lag.
Ms Jenkins hörte lange Zeit nur zu, doch irgendwann rückte auch sie mit ein paar Geschichten heraus. Mit überraschenden Geschichten. Dass sie als Kind mal in Afrika gelebt und ein Jahr lang als Busfahrerin gejobbt hatte.
Wenn Jonathan redete, versuchte er immer wieder, das Gespräch auf die Gegenwart zu lenken. Wahrscheinlich weil die Sache mit der Scheune seine Idee gewesen war. Wir unterhielten uns über die anderen, die am Ende der Etappe übernachteten und früh schlafen gehen mussten. Und wie es Mr Camden ankotzen würde, wenn wir erst am nächsten Tag bei ihm aufkreuzten.
So war es auch. Allerdings war er fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Es war acht Uhr morgens und wir waren bereits unterwegs. Als wir die Staubwolke des Geländewagens auf uns zukommen sahen, hielten wir am Straßenrand und machten uns auf einen gehörigen Anschiss gefasst. Ich sah, wie sich Ms Jenkins' Miene anspannte, als Mr Camden vom Beifahrersitz kletterte. Jetzt war sie eine von uns, eine ungezogene Schülerin mehr.
Ich erwartete eine Standpauke, aber es kam keine. Vielleicht fürchtete er, die Beherrschung zu verlieren, wenn er erst einmal loslegte. Stattdessen nahm er uns ins Verhör und tarnte seine Missbilligung mit Formalitäten.
»Wo habt ihr letzte Nacht geschlafen?«
»In einer Scheune«, antwortete Jonathan sichtlich zufrieden. »Vielleicht sollten Sie diese Übernachtungsmöglichkeit in Zukunft berücksichtigen. Es war echt gemütlich.«
»Ihr habt vergessen, euch um halb acht per Funk zu melden.«
»Unsere Funkgeräte sind in unserem Gepäck im Begleitwagen. Wir dachten, Sie hätten das vielleicht für uns übernommen.«
In diesem Moment hätte Mr Camden Jonathan bestimmt am liebsten geohrfeigt, so wie die meisten Leute. Aber es gibt Gesetze und Arbeitsplätze, also drehte er sich um und stellte Ms Jenkins die restlichen Fragen. Auch wenn er damit seine eigenen Regeln missachtete.
»Sehe ich das richtig, dass sich ihre Pläne für heute geändert haben?«
»Ja. Ich glaube, sie wollen heute nur bis nach Cone fahren. Morgen dann Alpha und am Dienstag über den Gipfel runter nach Parawai.«
»Falls nichts mehr dazwischenkommt«, fügte er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu. Vermutlich wollte er noch viel mehr sagen, aber er versuchte es nicht einmal. »Eure Ausrüstung ist oben am Ende der Straße. Wenn ihr um neun noch nicht da seid, wird Joe ohne eure Räder weiterfahren.«
»Vielen Dank auch«, sagte Jonathan leise, als Mr Camden wieder in den Wagen stieg. »Es war uns eine Freude, Sie zu sehen.«
Wir fuhren los und Joe zwinkerte uns zu, als wir an ihm vorüberstrampelten, als käme ihm das alles sehr bekannt vor.
Wir schafften es bis neun Uhr, aber nur knapp. Die anderen Gruppen waren bereits aufgebrochen und wir luden in aller Ruhe die Räder ein, damit wir auf keinen Fall eine Chance hatten, sie noch einzuholen. Dann schulterten wir zum ersten Mal unsere Rucksäcke und gaben die üblichen Kommentare von uns.
»He, wer hat denn die Steine in meinen Rucksack gepackt?«
»Wenn du denkst, deiner wäre schwer, dann probier erst mal meinen.«
»Wenn ihr glaubt, dass ich mit diesem Ding den Berg hochstiefele, habt ihr euch geschnitten.«
»Wie wär's, wenn wir einfach direkt zum Fluss runtergehen und uns treiben lassen?«
»Schwimmen Rucksäcke denn?«
»Dummerweise landen wir dann an der falschen Küste.«
»Ich glaube eher, dann landen wir im See.«
»Und wennschon. Da gehe ich jedenfalls nicht hoch.«
»Ach was. Wenn wir erst mal losgegangen sind, ist es nur noch halb so schlimm.«
»Du meinst wohl, wenn ich erst einmal eine Zigarette geraucht habe, ist es halb so schlimm.«
Irgendwann brachen wir auf. Als Erstes erwartete uns eine schwankende Stahlseilhängebrücke hoch über der Schlucht. Der Blick von der Mitte der Brücke ließ mich einige Sekunden lang das Gewicht meines Rucksacks vergessen. Der Anblick war atemberaubend. Gebannt blickte ich auf das zielstrebig dahinströ-mende Wasser unter mir und den Weg, den sich der Fluss durch die massiven Felswände gebahnt hatte. Hoch über den Felsen erstreckte sich dichtes Gebüsch. Und genau dort wollten wir hin.
Man hatte uns gewarnt, dass der erste Anstieg zum Bergkamm an der Ostflanke des Waiohine-Tals einer der steilsten der gesamten Tour sein würde. Immer wieder mussten wir uns an Baumwurzeln und Ästen festklammern, um nicht abzurutschen. Meine Lungen brannten wie noch nie, meine Beine schmerzten und mir war speiübel. Zum Glück war der Anstieg nicht allzu lang, dann wurde es flacher. In den eineinhalb Stunden legten wir zahlreiche Pausen ein, um uns gegenseitig zu bedauern. Jeder von uns wusste genau, dass wir es problemlos bis zu den anderen nach Alpha schaffen konnten, wenn wir wollten. Aber keiner erwähnte diese Möglichkeit. Nicht einmal Ms Jenkins.
Wir trödelten über die Anhöhe, wo die Vegetation lichter wurde und der Matsch gerade tief genug, um in unsere Wanderschuhe zu dringen. Als wir an dem Schild anlangten, das talabwärts nach Cone zeigte, zog Lisa eine Digitalkamera aus der Tasche. Als hätte sie die ganze Zeit über gewusst, dass unser Trip es doch noch wert sein würde, festgehalten zu werden. Sie brauchte drei Versuche, bis sie wusste, wie der Selbstauslöser funktionierte. Dann liefen wir den Abhang hinunter. Die Aussicht, dass wir es beinahe geschafft hatten, brachte die Gespräche zurück. Fröhliches Geplapper, als wären wir alle alte Freunde.
Cone Hut ist eine altmodische Schutzhütte aus massiven Baumstämmen, die auf einem Felsvorsprung über dem Fluss steht. Das Innere der Hütte ist düster und staubig und es muss draußen schon sehr stürmisch sein, damit sie behaglich wirkt. Wir entschieden uns für den verwitterten Picknicktisch vor der Hütte und breiteten unser Mittagessen aus: ein üppiges Mahl dank der Tatsache, dass wir unsere Ration vom Vorabend noch nicht verspeist hatten.
Den Nachmittag verbrachten wir selbstvergessen am Fluss, während uns der berüchtigte Wind der Tararua-Berge weitestgehend verschonte. Es war einer jener Tage, an denen man am liebsten fragen würde, warum das Leben nicht immer so sein kann. Trotzdem tut man es nicht, weil man genau weiß, wie dumm diese Frage ist. Weil das Leben unmöglich immer so sein kann.