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27. April
Jonathan hatte mir gesagt, wo Lisa wohnt. Er hatte mir auch ihre Telefonnummer gegeben, aber ich rief nicht an. Ich wollte nicht riskieren, dass mir jemand sagte, dass es jetzt gerade nicht gehe. Ich hielt es nicht mehr länger zu Hause aus. Ich kannte die Straße, wo sie wohnte. Es war nicht allzu weit weg. Ich fuhr mit dem Rad.
Es war ein großes, neues Backsteinhaus mit einer langen, geschwungenen Auffahrt und automatischem schmiedeeisernem Tor. Ein Ort, der nicht so aussah, als könnte hier etwas schiefgehen. Ich stellte mein Rad neben der Doppelgarage ab und klingelte. Ich wartete. Es tat gut, aus dem Haus zu kommen, aber ich war trotzdem schrecklich nervös.
»Ja, hallo?« Das musste ihre Mutter sein. Jung, mit großen Augen. Gut aussehend. Traurig.
»Hallo. Ähm, ich bin Marko. Ich wollte zu Lisa, wenn das geht.«
»Marko? Ach ja, natürlich. Marko. Ich war so froh, ich meine, wir waren alle so froh, als wir gehört haben, dass dir nichts passiert ist.«
»Mhm. Ähm, das mit Matthew tut mir sehr leid.« Mein Glück und ihr Unglück starrten sich einen Moment lang an. »Ist Lisa da?«
»Nein, sie ist gerade weggegangen. Zum Friedhof.«
»Makara?«
»Genau.«
»Meinen Sie, sie hat was dagegen, wenn ich zu ihr gehe?«
»Wenn sie was dagegen hat, wird sie es dir sagen.« Ihr Blick fiel auf mein Rad. »Du musst aufpassen, dass du dich nicht verfährst. Sie haben die Straße umgeleitet. Aber die Umleitung ist ausgeschildert. Du musst unten am Bauernhof rechts vorbei.«
Auf dem Parkplatz standen zwanzig Autos. Auf einem frisch gemähten Hügel auf der linken Seite war der Abschnitt mit den Erdbebenopfern. Unzählige Reihen kleiner Haufen von frisch aufgeschütteter Erde, die alle mit den gleichen provisorischen Holzkreuzen versehen waren. Eine Frau ging mit Blumen an mir vorbei. Als sie meinen verlorenen Gesichtsausdruck sah, lächelte sie verständnisvoll. Einige Besucher saßen auf Bänken, andere standen einfach nur herum und sahen aus wie Statuen auf alten Friedhöfen. Andere ärgerten sich, weil der Wind ihre Blumen auf fremde Gräber wehte. Nur Lisa konnte ich nirgends entdecken. Ich überlegte, ob ich nach dem Namen ihres Bruders – Matthew Heading, elf Jahre – suchen sollte. Aber es schien mir nicht richtig, an diesem traurigen Ort wie ein Tourist herumzulaufen. Genauso wenig wollte ich herumstehen und die Leute anstarren. Ich wollte lieber wieder gehen. Ich spürte, wie aus der pochenden Angst Panik wurde. Ich versuchte, mich zu entspannen, und hoffte, dass die Attacke vorüberginge. Ich sehnte mich so sehr danach, Lisa zu sehen, dass ich mich zurückhalten musste, um nicht laut ihren Namen zu rufen. Dann hörte ich ihre Stimme hinter mir.
»Marko!«
Sie saß auf einer Bank auf einer Anhöhe des Friedhofs, von der man die Gräber überblickte. Am liebsten wäre ich zu ihr gerannt, aber ich beherrschte mich und ging langsam zu ihr. Ich setzte mich neben sie auf die Bank. Plötzlich merkte ich, dass ich lächelte.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
»Ich hab dich gesucht. Deine Mutter hat mir gesagt, dass du hier bist. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
»Überhaupt nicht. Ich bin froh, dass du da bist. Mama kommt nicht gerne hierher. Noch nicht. Papa auch nicht. Und Liz ist schon wieder in Auckland. Es ist schön, nicht allein hier zu sein.«
Sie rückte näher und legte den Kopf auf meine Schulter. Es war fast wieder wie in den Bergen. Ich spürte, wie meine Panik nachließ.
»Schrecklich, oder?«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die fein säuberlich angelegten Gräber.
»Mhm.«
»Zu viel kahle Erde. Ich meine, natürlich weiß ich, dass es ein Grab ist. Also müsste es mir eigentlich egal sein. Aber so sieht alles noch so frisch aus. Ich kann es kaum erwarten, bis endlich Gras darübergewachsen ist. Ich habe sogar überlegt, ob ich ein bisschen Rasensamen draufstreuen soll. Meinst du, das ist erlaubt?«
»Wahrscheinlich weht der Samen sowieso aufs nächste Grab.«
»Wie die Blumen.« Sie lächelte. »Ich glaube, ich möchte gerne da drüben begraben werden, wo der Wind immer hinweht. Dort liegen bestimmt die meisten Blumen.«
»Wo ist denn Matthews Grab?«
»Zweite Reihe, das dritte von rechts. Klingt wie auf einem Klassenfoto, was?«
»Alles okay mit dir? Ich meine ...«
»Ja, schon. Das heißt, eigentlich nicht. Ich weiß nicht. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr so genau, wie sich das anfühlt, wenn es einem gut geht. Mir geht's total schlecht. Aber ich will mich gar nicht anders fühlen. Ich will nicht, dass es mir gut geht. Ich will nicht so sein, als wäre nichts passiert. Mama meint, wir sollten zu einem Psychologen gehen und mit ihm über Matthews Tod sprechen, aber ich weiß nicht, ob ich das will. Es wäre, als würde man einen Fremden hereinlassen. Und was ist mit dir? Wir haben gestern Abend ja kaum was geredet. Bitte entschuldige. Wie geht es dir? Geht's dir denn gut?«
»Geht schon«, log ich. Ich wusste, dass dies der richtige Moment war, alles zu erzählen, aber ich hatte Angst anzufangen. Wenn ich die Worte erst einmal ausgesprochen hatte, gab es kein Zurück mehr. »Das heißt, es geht so. Ich muss dir was erzählen. Etwas, das niemand außer mir weiß. Und das niemand erfahren darf. Du musst mir versprechen, es keinem weiterzuerzählen.«
»Was denn?«
»Bitte versprich es mir.«
»Worum geht's denn?«, fragte sie.
»Um etwas aus den Bergen. Um den Kerl, der Ms Jenkins umgebracht hat. Es sind gute Neuigkeiten. Du wirst bestimmt sehr froh sein. Aber zuerst musst du mir versprechen, keiner Menschenseele davon zu erzählen.«
Sie sah mir in die Augen.
»Na gut.« Sie klang nicht einmal sonderlich interessiert. Sie klang müde. »Ich verspreche es dir.«
Ich begann langsam. Tastete mich behutsam vorwärts und rechnete jeden Moment damit, dass sie mich unterbrechen würde. Tat sie aber nicht. Also erzählte ich weiter. Irgendwann war ich so in die Erzählung vertieft, dass ich nicht mehr sah, wie die Friedhofsbesucher kamen und gingen und wie der Wind Blumen über die Gräber wehte. Ich erzählte ihr, wie ich gestolpert war und sein Gesicht gesehen hatte. Ich erzählte ihr vom Krankenhaus, den Medikamenten und dass Margaret mich gerettet hatte. Von Andrew, der mich reingelegt hatte, und diesem Buch, in dem ich alles aufgeschrieben habe. Die Worte rauschten nur so aus mir heraus und mit den Worten kamen auch die Gefühle. Plötzlich schien alles wieder viel klarer. Ich war das Opfer. Ich war wütend. Ich war im Recht. Und ich hatte gewonnen: für mich, für Ms Jenkins' Familie, für Lisa und die anderen. Nach allem, was geschehen war, hüllten mich die Worte ein wie eine warme Decke. Die unerträgliche Last auf meiner Seele ließ nach. Endlich würde alles gut werden. Ich wollte Lisa in den Arm nehmen und ihr dafür danken, dass sie mir zugehört hatte. Und ich wollte, dass sie mir sagte, wie gut ich meine Sache gemacht hatte. Es gibt so viele Möglichkeiten, dumm zu sein, und das war meine.
»Mein Gott, du kannst wirklich froh sein, dass du noch lebst«, sagte sie leise.
»Ich weiß.«
»Und das war vorgestern, als du ihn im Krankenhaus zurückgelassen hast?«, fragte sie mit ernster Miene.
»Ja.«
»Das heißt, er lebt bestimmt noch.«
»Aber nicht mehr lange«, sagte ich, ohne zu begreifen, worauf sie hinauswollte. Wir schwiegen beide. Dann sagte sie es. Ruhig und bestimmt. Und einmal mehr bebte die Erde unter mir.
»Du weißt, was du tun musst, Marko.«
Niemals. Ich schüttelte den Kopf. Sie war auch da gewesen. Sie hatte ihre Leiche gesehen. Sie war gemeinsam mit mir verfolgt und angegriffen worden. Sie wäre auch fast umgebracht worden. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Unmöglich. Ich wollte auf mein Rad steigen und davonfahren, ehe ich hörte, wie sie es sagte.
»Du musst ihn wieder freilassen.«
»Warum?«, hörte ich mich sagen. Ich zitterte und mein Mund war trocken. Sie zitterte auch. Es war nicht fair, dass wir das entscheiden mussten. Wir waren noch so jung.
»Sieh dich doch mal um«, sagte sie. »Verstehst du nicht? Die Welt braucht nicht noch jemanden, der Scheiße baut, Marko. Ohne uns gibt es schon genug Leid auf der Welt.«
»Aber wenn ich zur Polizei gehe, muss ich ins Gefängnis.«
»Du musst ihn wieder freilassen«, wiederholte sie.
»Aber er hat sie umgebracht.«
Ich spürte, wie sie neben mir ganz still wurde, und hörte sie schlucken. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich eine Träne auf ihrer Wange. Der Wind wehte sie über ihr Gesicht und blies sie fort.
»Soll ich dir mal sagen, wie es auf Matthews Beerdigung war?«, sagte sie und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das Thema wechselte. Ich war mir bei überhaupt nichts mehr sicher. »Warst du schon mal dabei, wenn ein elfjähriges Kind begraben wird? Sie haben sechs Tage gewartet. Sie haben gewartet, bis ich wieder da war. Und als ich dann zur Beerdigung ging, war ich schrecklich müde und alles fühlte sich so überstürzt an. Ich stand die ganze Zeit unter Schock und kann mich an das meiste nur noch verschwommen erinnern. Es gab so viele Beerdigungen. Für unser Bestattungsunternehmen war es das fünfte Begräbnis an diesem Tag. Alles musste genau nach Plan ablaufen. Als wir aus der Kirche kamen, warteten schon die Nächsten darauf reinzugehen und wichen unseren Blicken aus. In der Kirche war es so voll, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment zu ersticken. Er war erst elf und es kamen so viele Menschen. Wenn ein elfjähriger Junge begraben wird, kann man nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Weil sein Tod einfach sinnlos ist. Dann geht einer nach dem anderen nach vorn und erzählt von den guten Zeiten, obwohl die guten Zeiten für immer vorbei sind. Die Leute sagen: ›Wenigstens war das oder wenigstens haben wir noch das.‹ Und weißt du, woran sie sich am meisten erinnert haben?«
Sie sah mich an, als erwartete sie eine Antwort, dabei kannte ich ihn überhaupt nicht.
»An die kleinen Dinge. An irgendwelche Kleinigkeiten aus dem Alltag, über die man gar nicht nachdenkt. Dass er mal jemanden zum Lachen gebracht oder jemandem einen Gefallen getan hat. Das ist eigentlich nicht viel, findest du nicht auch? Nicht viel, wenn man bedenkt, dass das am Ende von einem übrig bleibt. Und gleichzeitig ist es gerade das, was zählt. Zu dem Schluss bin ich jedenfalls gekommen, als ich in der Kirche saß. Dass wir trotz allem gute Dinge tun können, die irgendwie wichtig sind.«
Dann schwieg sie. Als hätte sie alles gesagt, was es zu sagen gab. Als müsste ich jetzt verstehen. Aber es war nicht mein kleiner Bruder. Ich war nicht in der Kirche gewesen und sie nicht im Krankenhaus. Ich konnte nicht einfach am Gesicht des Arztes vorbeisehen. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, bis ich das Gefühl hatte, dass sich alles in mir auflöste.
»Das kann ich nicht, Lisa. Er wollte mich umbringen. Er hat sie umgebracht. Ich kann ihn nicht einfach gehen lassen.«
»Dann kann ich dir auch nicht helfen!«, zischte sie und sprang auf. Sie stürmte zu seinem Grab. Zweite Reihe, drittes von rechts. Ich saß einfach nur da und sah zu, wie sie auf die Knie sank und weinte.
Sie blieb zehn Minuten dort, vielleicht auch länger. Ich versuchte nachzudenken, während sie weg war. Ich versuchte, etwas zu fühlen. Ich versuchte zu verstehen. Aber mein Verstand wollte sich einfach nicht anschalten. Ich war leer und gefühllos. Ein absoluter Versager. Als sie zurückkam, setzte sie sich nicht. Sie stand breitbeinig vor mir, als machte sie sich auf den nächsten Schlag gefasst.
»Du kotzt mich echt an, Marko. Weil ich weiß, dass ich recht habe, und mir einfach nichts mehr einfällt, wie ich dir das noch klarmachen soll. Ich will dir nur noch eins sagen: Ich weiß nicht, warum er versucht hat, uns umzubringen, und ich weiß auch nicht, warum er Ms Jenkins getötet hat. Ich weiß überhaupt nichts von ihm. Ich weiß nur, was passiert ist. Aber das ist vorbei. Jetzt geht es nicht mehr um ihn. Irgendwann muss es aufhören. Hör endlich auf, nur an ihn zu denken! Denk lieber mal an dich! Du bist nicht wie er. Noch nicht. Aber wenn du ihn da nicht rausholst, dann bist du auch ein Mörder. Vielleicht sogar noch ein schlimmerer als er. Für immer und ewig. Sieh dich um. Dazu hast du dann beigetragen. Noch ein Loch in der Erde, an dem eine Familie steht und sich machtlos fühlt. Das ist nicht richtig. Das kann niemals richtig sein. Wenn du das tust, verabschiedest du dich von all den Dingen, die wirklich wichtig sind. Und dann gibt es kein Zurück mehr. Wenn du es dir jetzt nicht anders überlegst, dann hat er gewonnen. Denn dann ist es immer noch nicht vorbei und es wird erst vorbei sein, wenn auch du tot bist. Dann bist du für immer vom Leben ausgesperrt. Es ist mir völlig egal, wie richtig es sich im Moment für dich anfühlt. Eines Tages wirst du begreifen, wie es wirklich ist, und es so sehen, wie ich es jetzt sehen kann. Aber dann wird es zu spät sein. Verdammt, Marko, kapier das doch endlich. Bitte, du musst es einfach kapieren!«
Sie schwieg und sah mich an. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Willst du wirklich, dass er davonkommt?«, fragte ich.
»Für ihn ist es längst zu spät. Ich will nur, dass du noch mal davonkommst.«
In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Alte Gedanken wurden verschoben und suchten einen neuen Platz. Ich blickte in ihr Gesicht, das so entschlossen war, wie ich es nicht einmal bei Rebecca gesehen hatte. Und plötzlich begann ich zu begreifen. Spät, aber vielleicht nicht zu spät.
»Und wie mache ich das?«
Sie antwortete nicht. Sie fiel mir um den Hals und drückte mich mit aller Kraft. Beinahe so fest und verzweifelt wie ich sie.