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22. April

Gestern Abend ist er noch mal zu mir gekommen, um nach mir zu sehen. Ich war wach und wartete. Mittlerweile kann ich ihn schon am Geruch erkennen. Er ist Raucher und verwendet kein Rasierwasser. Er riecht nach frisch gewaschenen Kleidern. Ich hielt die Augen geschlossen und konzentrierte mich darauf, meinen Herzschlag zu verlangsamen. Ich weiß jetzt, wie das geht. Reine Übungssache. Einen Moment lang verzögerte sich auch sein Atem, als hätte er was gemerkt. Wir verharrten beide in der Dunkelheit und fragten uns, ob dies der richtige Moment zum Töten war. Wir warteten beide darauf, dass der andere seinen ersten Zug machte. Ich rührte mich nicht und er auch nicht. Ich hörte, wie er zur Krankenkarte am Fußende meines Betts ging. Dann umschlossen seine kalten Finger mein Handgelenk und fühlten meinen Puls. Bestimmt hat er gespürt, wie mein Herz kurz schneller schlug. Dann ging er langsam und beinahe geräuschlos wieder weg. Nur seine knackenden Fußknöchel verrieten ihn. Er blieb eine Weile vor meiner Tür stehen, in der Hoffnung, dass er mich ausgetrickst hatte. Vielleicht bekommt er allmählich Angst. Das sollte er auch.

Als ich hörte, wie er endlich den Flur entlangging, schlüpfte ich lautlos aus dem Bett. Nachts sieht die Station ganz anders aus als tagsüber. Ein schummriger Ort voller seltsamer Geräusche. Überall Gurgeln und Murmeln ruhiggestellter Menschen. Verrückte mit verrückten Träumen, wahrscheinlich ohne dass sie sich dessen bewusst sind.

Ich schlich langsam über den Flur und lauschte angespannt. Ich hörte alles: die schwache Melodie aus einem leise gedrehten Radio im Schwesternzimmer. Das Geräusch meiner nackten Füße auf dem schmutzigen Fußboden. Weiter vorne eine Bewegung, im zweiten oder dritten Zimmer vor mir. Der Arzt machte seine Runde fertig und sah nach echten Patienten. Nach Patienten, die er nicht zum Schweigen bringen musste. Ich schlich rasch zum Besucherzimmer, mit der Absicht, ihm zu folgen, wenn er wieder vorüberkam. Ich versuchte, kein Geräusch zu machen, und verfluchte die Tatsache, dass ich so lange ungeschützt hier draußen herumlaufen musste. Ich gelangte in die schützende Dunkelheit des Raums, verbarg mich hinter der halb offenen Tür und wartete, dass sich mein Puls wieder normalisierte. Ich kroch zu dem Stuhl mit den abschraubbaren Beinen und drehte eines ab. Als ich das Stuhlbein in der Hand hielt, beschleunigte sich mein Herzschlag wieder. Ich wartete.

Ich hörte, wie er näher kam, und stellte mir vor, wie er mit großen, ahnungslosen Schritten und Unschuldsmiene den Flur entlangging. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, ihm den ersten Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen, und meine Handflächen wurden feucht. Doch das Knacken seiner Knöchel hörte auf, ehe er an der Tür war. So, wie es sich anhörte, stand er genau vor meinem Zimmer und sah hinein. Ich hatte die Bettdecke so zusammengeknautscht, dass es von der Tür aus schien, als schliefe ich. Aber nicht, wenn er hineinging. Knack. Seine Füße bewegten sich. Eine kurze Pause, dann eilige Schritte den Flur entlang, viel zu schnell an mir vorbei.

»Schwester! Schwester!«, hörte ich ihn alarmiert flüstern.

»Was ist denn?« Es war Margaret.

»Er ist weg. Er ist nicht in seinem Bett.«

»Wer?«

»Na, wer wohl? Der Junge.« Mehr musste er nicht sagen. Sie wusste sofort Bescheid.

»Vielleicht ist er nur auf der Toilette«, flüsterte sie. Kein »Na und?« oder »Und wennschon«.

»Warum ist er überhaupt wach? Mit fünfzehn Milligramm müsste er die ganze Nacht durchschlafen.«

»Man kann nicht immer genau sagen -«

»Das weiß ich selbst.«

Sie gingen leise zum Schwesternzimmer zurück und ihr Flüstern wurde unverständlich. Ich hatte immer noch den verzweifelten Tonfall in der Stimme des Arztes im Ohr, der mir sagte, dass er vor Schwester Margaret nichts zu verbergen hatte. Ihre knappen Antworten flogen wie Warnpfeile durch die Luft. Ich stand wie gelähmt da und fragte mich, wie viel sie herausbekommen und dem Arzt erzählt hatte. Wenn er weiß, dass ich keine Medikamente mehr nehme, dann schlägt er bestimmt bald zu. Er muss einen Plan haben.

Ich hörte Schritte in Richtung Toilette. Es klang aber nur wie ein Paar Füße. Der andere hielt vermutlich Wache. Ich zählte bis zwanzig und hoffte, dass das zweite Paar ebenfalls weggehen würde. Nichts. Ich ging auf alle viere und wagte einen kurzen Blick nach draußen. Der Arzt stand mit dem Rücken zu mir und wartete auf Margarets Rückkehr. Er stand etwa fünf Meter von mir entfernt. Auf der Hut. Kein guter Zeitpunkt für einen Angriff.

Ich stand langsam auf und überlegte, wie groß die Chance war, unbemerkt in mein Bett zu gelangen. Die Tür lag fast gegenüber. Nur vier oder fünf Schritte von mir weg. Ich musste es versuchen.

Ich stellte mich auf ein Bein, dann auf das andere. Dabei drehte ich den freien Knöchel jeweils in der Luft, um sicher zu sein, dass er locker war und nicht verräterisch knackte. Ich lief los. Hastige Schritte auf Zehenspitzen. Ich hatte nicht die Nerven, langsam zu gehen. Wenn er sich umgedreht hätte, wäre ich einfach weitergelaufen, den Flur entlang in die andere Richtung. Weg von der Station. Weg von allem.

Er drehte sich nicht um. Ich schaffte es unbemerkt bis zu meinem Bett. Die Angst hatte meinen Körper voller Adrenalin gepumpt und ich dachte immer noch fieberhaft über einen Ausweg nach. Nach einer Chance, die Oberhand zu behalten. Schließlich legte ich mich auf den nackten Fußboden auf der anderen Seite des Betts, wo er vorher vielleicht nicht nachgesehen hatte. Ich schloss die Augen und wartete.

Zehn Minuten später kamen sie wieder und flüsterten immer noch hektisch miteinander.

»Sehen Sie! Ich hab's doch gesagt. Er ist weg!«

»Warten Sie mal.« Margarets Schritte kamen näher. »Da ist er doch. Der dumme Kerl hat sich auf den Boden gelegt.«

Langes Schweigen. Der Arzt betrachtete mich misstrauisch und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

»Hat er das schon mal gemacht?«

»Keine Ahnung.«

»Dann legen Sie ihn wieder ins Bett.« Immer noch wütend. Immer noch unsicher.

Margaret rüttelte mich an der Schulter und ich tat so, als wäre ich benommen und verwirrt. Der Arzt war schon gegangen. Margaret sah wortlos zu, wie ich wieder in mein Bett kletterte.

Und jetzt schreibe ich all das so hastig auf, dass ich meine eigene Schrift kaum entziffern kann. Denn sicher ist nur eins: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.