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Südlich von Grand Junction, Tennessee, überquerte ich die Staatsgrenze von Mississippi. Am Straßenrand verkündete ein Schild WILLKOMMEN IM STAATE MISSISSIPPI. HIER WIRD GEZIELT GESCHOSSEN. Das Schild stand nicht wirklich da. Ich habe es mir nur ausgedacht. Dies war erst meine zweite Reise in den Tiefen Süden, und ich hatte ein ungutes Gefühl. Es ist sicher kein Zufall, dass alle namhaften Filme über den Süden – Easy Rider, In der Hitze der Nacht, Brubaker – die Südstaatler als brutale, zum Inzest neigende, rassistische Rednecks darstellen. Der Süden ist wirklich ein anderes Land. Es herrschen andere Gesetze. Vor Jahren, in den Zeiten des Vietnamkriegs, unternahm ich mit zwei Freunden eine Ferienreise nach Florida. Wir hatten lange Haare. Um den Weg abzukürzen, fuhren wir über die Nebenstraßen von Georgia und hielten eines späten Nachmittags in einem traurigen Nest, um in einem Lokal eine Kleinigkeit zu essen. Als wir uns an den Tresen setzten, wurde alles still im Raum. Vierzehn Menschen hörten abrupt auf zu essen, vergaßen das Kauen und starrten uns an. Es war so still, dass man einen Fliegenfurz hätte hören können. Ein Raum voller rotbackiger good ole Boys in Latzhosen – alle richteten schweigend ihre Blicke auf uns und überlegten, ob ihre Schrotflinten geladen seien. Es war beängstigend. Einige unter ihnen hatten offensichtlich noch nie einen langhaarigen Nordstaatler in natura gesehen, einen Bolschewikenhippie mit Collegebildung, einen dieser Niggerfreunde. Für sie hier draußen, am Ende der Welt, waren wir echte Kuriosa und gleichzeitig etwas unsagbar Abscheuerregendes. Es war eine sonderbare Erfahrung, einen solchen Hass von Menschen zu spüren, die uns überhaupt nicht kannten. Ich kann mich daran erinnern, gedacht zu haben, dass unsere Eltern nicht die leiseste Ahnung hatten, wo wir uns gerade aufhielten. Alles, was sie wussten, war, dass wir uns irgendwo in der Weite zwischen Des Moines und den Florida Keys befanden. Würde uns etwas zustoßen, so würde uns niemand finden. Ich stellte mir vor, wie sich meine Familie jahraus, jahrein im Wohnzimmer versammelte, und hörte meine Mutter sagen: »Ich frage mich, wo Billy und seine Freunde wohl stecken. Ist es nicht merkwürdig, dass wir noch keine Postkarte bekommen haben? Möchte vielleicht jemand ein Sandwich?«

Solche Dinge passierten da unten tatsächlich. Erst fünf Jahre vor unserem Erlebnis hatte man in Mississippi drei Freiheitskämpfer umgebracht: den einundzwanzigjährigen Schwarzen James Chaney aus Mississippi und zwei weiße Jungs aus New York, Andrew Goodman, zwanzig, und Michael Schwerner, zwanzig. Ich nenne ihre Namen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Die drei wurden wegen überhöhter Geschwindigkeit festgenommen, in das Neshoba-County-Gefängnis in Philadelphia, Mississippi, gesteckt und nicht mehr gesehen – bis man Wochen später ihre Leichen aus den Sümpfen zog. Es waren Kinder. Die Polizei hatte sie dem wartenden Mob vorgeworfen, der sie fortschleppte und auf grausamste Weise massakrierte. Den verantwortlichen Sheriff, einen grinsenden, tabakkauenden Fettwanst namens Lawrence Rainey, stellte man wegen Fahrlässigkeit vor Gericht. Des Mordes wurde niemand angeklagt. Das war für mich der Süden und wird es immer bleiben.

Ich folgte dem Highway 7 in Richtung Süden und nahm Kurs auf Oxford. Die Straße streifte den Westrand des Holly Springs National Forest, der zu meinem Kummer überwiegend aus Sümpfen und Gestrüpp zu bestehen schien. Halb hatte ich erwartet, in Mississippi hinge von jedem Baum Spanisches Moos herab und sonnenschirmschwingende Frauen in bauschigen Kleidern würden mir begegnen. Und auf den Wiesen würden weißhaarige Offiziere mit Schnauzbärten sitzen und Whisky mit Eis und frischer Minze trinken, während auf den Feldern singende Schwarze Baumwolle pflückten. Doch diese Landschaft war von Gestrüpp überwuchert und nichts sagend. Und heiß war es. Abgesehen von vereinzelten Hütten, auf deren Veranden alte, schwarze Männer in Schaukelstühlen saßen, bemerkte ich kaum Anzeichen von Leben.

In der Stadt Holly Springs versetzte mich ein Hinweisschild nach Senatobia für kurze Zeit in Begeisterung. Senatobia! Welch ein großartiger Name für eine Stadt in Mississippi! All die Borniertheit und Arroganz des alten Südens schien sich in diesen fünf Silben widerzuspiegeln. Vielleicht nähmen die Dinge jetzt eine interessantere Wendung. Vielleicht bekäme ich nun Sträflingskolonnen zu sehen, die sich unter der sengenden Sonne abmühten, oder könnte beobachten, wie ein von Bluthunden verfolgter Sträfling mit schweren Fußeisen über Felder lief oder durch Bäche stolperte, wie der Mob durch die Straßen zog und wie auf den Wiesen Kreuze verbrannten. Plötzlich war ich wieder hellwach, doch ich musste meine freudige Erregung zügeln, denn vor einer Ampel hielt neben mir ein Polizist und begann, mich lässig mit dieser gewissen Geringschätzung zu mustern, wie sie häufig außerordentlich dumme Leute an den Tag legen, sobald man ihnen ein Gewehr und einen Streifenwagen anvertraut. Er war übergewichtig und schwitzte. Vermutlich stammte er ebenso von den Affen ab wie der Rest der Menschheit, doch in seinem Fall war die Natur seltsame Wege gegangen. Ich hielt meinen Blick starr geradeaus gerichtet und hoffte, meine äußere Erscheinung verriete entschlossene Zielstrebigkeit, gepaart mit Herzensgüte, und vor allen Dingen einen über jeden Zweifel erhabenen Lebenswandel. Ich konnte seinen Blick förmlich fühlen und war darauf gefasst, dass er mir zumindest eine Ladung Tabaksaft ins Gesicht speien würde. Stattdessen vernahm ich: »How yew doin?« Vor lauter Verwirrung konnte ich nur ein heiseres »Pardon?« herausbringen. Er wiederholte seine Frage, woraufhin ich für sein freundliches Interesse dankte und versicherte, es ginge mir bestens. Ich fügte noch hinzu, dass ich nach mehreren Jahren, die ich in Großbritannien verbracht hatte, nun eine Urlaubsreise unternähme.

»Hah doo lack Miss Hippy?«

»Pardon?«

»I say, hah doo lack Miss Hippy?«

Meine Unruhe steigerte sich ins Unerträgliche. Ich hatte es mit einem bewaffneten Südstaatler zu tun und verstand nicht eines seiner Worte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, ich sei ein wenig schwer von Begriff und verstünde ihn daher nicht, wiederholte er betont deutlich: »I say, how doo yew lack Mississippi?«

Es dämmerte mir: Er wollte lediglich wissen, wie es mir im Staate Mississippi gefiele. »Oh! Es gefällt mir sehr gut! Ich finde es ganz wundervoll hier. Die Menschen sind so freundlich und hilfsbereit.« Ich wollte noch ergänzen, dass man noch nicht einmal auf mich geschossen hatte, obwohl ich mich nun schon seit einer Stunde hier aufhielt, doch die Ampel schaltete auf Grün, und er war verschwunden. Erleichtert sandte ich ein Dankgebet gen Himmel.

Ich fuhr weiter nach Oxford, dem Sitz der University of Mississippi, auch bekannt als »Ole Miss«. Die Bürger hatten ihrem Städtchen den Namen der englischen Universitätsstadt gegeben, weil sie hofften, den Staat auf diese Weise überzeugen zu können, keine Stadt in Mississippi eigne sich besser für die Gründung einer Universität als ihr Oxford. Ihre Rechnung ging auf. Ein anschauliches Beispiel für die Denkweise der Südstaatler. Oxford schien ein angenehmes Städtchen zu sein. Es war rund um einen Platz angelegt, in dessen Mitte sich das Lafayette County Courthouse erhob. Das Gebäude mit seinem hohen Uhrenturm und den dorischen Säulen wirkte im Sonnenlicht des Indian Summer ausgesprochen würdevoll. Rund um den Platz reihte sich ein hübsches Geschäft an das andere. Auch ein Tourist Information Office befand sich darunter. Ich ging hinein, um mich nach dem Weg zum Rowan Oak, dem Haus von William Faulkner, zu erkundigen. Sein ganzes Leben hatte Faulkner in Oxford verbracht. Sein Haus blieb seit seinem Todestag im Jahr 1962 unverändert und dient heute als Museum. Es muss zermürbend sein zu wissen, man ist so berühmt, dass sich die Nachwelt, sobald man den Löffel abgegeben hat, auf die Privatsphäre stürzen wird, dass Leute die Türen mit Samtkordeln behängen und ehrfürchtig jeden einzelnen Gegenstand unter die Lupe nehmen werden. Wie peinlich für den, der ein Reader’s-Digest -Heft auf dem Nachttisch liegen ließ, bevor er das Zeitliche segnete.

Am Informationsschalter saß eine große, außergewöhnlich gut gekleidete schwarze Frau. Ich war ein wenig überrascht, in Mississippi eine so stattliche Erscheinung zu sehen. Sie trug ein für diese Hitze viel zu warmes, dunkles Kostüm. Ich fragte sie nach dem Weg zum Rowan Oak. »Parken Sie auf dem Courthouse Square?«, wollte sie wissen. (Aus ihrem Mund klang die Frage etwa so: »You pocked on the Courthouse Skwaya?«)

»Ja.«

»Okay, Honey, Sie steigen in Ihr Auto, drehen eine Runde, verlassen den Platz am anderen Ende, fahren drei Blocks in Richtung Universität, biegen an der Ampel rechts ab, fahren den Berg hinunter und schon sind Sie da. Alles klar?« (Originalton: »Un’stan?«) Sie sprach mit einem so derben Akzent, dass ich sie schon allein deshalb nicht verstand.

»Nein.«

Sie seufzte und begann von neuem: »Sie steigen in Ihr Auto, drehen eine Runde –«

»Heißt das, ich muss um den Platz herumfahren?«

»Genau, Honey. Sie drehen eine Runde.« Sie sprach mit mir, wie ich mit einem Franzosen sprechen würde. Als sie ihre Wegbeschreibung beendet hatte, gab ich vor, alles verstanden zu haben, obwohl ich so gut wie nichts damit anfangen konnte. Ich war verblüfft, solch sonderbare Laute aus dem Mund einer so eleganten Frau zu hören. Ich stand schon in der Tür, als sie mir nachrief: »Hit doan really matter anyhow cuz bit be’s closed now.« Sie sagte hit, und sie sagte wirklich be’s.

»Bitte?«

Sie wiederholte, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie mir zu verstehen geben wollte, Rowan Oak sei jetzt geschlossen. Ich könne mir zwar das Grundstück ansehen, aber ins Haus könne ich nicht.

Während ich um den Platz schlenderte, gelangte ich zu der Erkenntnis, dass Miss Hippy ein hartes Stück Arbeit darstellte. Ich sah mir die Geschäfte an. Attraktive, gut gekleidete Frauen gingen ein und aus. Sie waren sonnengebräunt und machten durchweg einen vermögenden Eindruck. An einer Straßenecke entdeckte ich eine Buchhandlung. Ich ging hinein und sah mich um. Am Zeitschriftenstand schmökerte ich in einem Playboy-Heft und stellte bestürzt fest, dass das Magazin inzwischen auf diesem schrecklichen Hochglanzpapier gedruckt wird, das die Seiten wie nasse Papierhandtücher zusammenkleben lässt. Man kann einen Playboy nicht mehr schnell überfliegen, man muss Seite für Seite voneinander lösen, wie man Papier von einem Stück Butter abzieht. Ich blätterte mich also durch bis zu den ganzseitigen Fotos. Sie zeigten eine unbekleidete Schönheit in den verschiedensten Posen auf Betten und Diwans. Sie wirkte kess und war unbestritten attraktiv, aber ich schwöre bei Gott, sie war doppelseitig gelähmt. Für jedes Foto hatte man kunstvoll seidige Stoffe über ihre höchstwahrscheinlich verkümmerten Beine drapiert. – Oder hatte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank?

Als ich erkannte, dass auch der Playboy nicht mehr ist, was er einmal war, fühlte ich mich alt, niedergeschlagen und fremd in diesem Land. So weit ich zurückdenken konnte, war der Playboy ein Eckpfeiler im Leben eines jeden Amerikaners. Jeder Mann und jeder Junge in meinem Bekanntenkreis lasen ihn. Manche Männer leugneten es. Zu Letzteren gehörte mein Dad. Erwischte man ihn, wie er im Supermarkt verstohlen einen Blick hineinwarf, wurde er verlegen und tat, als gelte sein Interesse eigentlich der Zeitschrift Better Homes and Gardens. Aber auch er las den Playboy. Er besaß sogar einen kleinen Stapel Herrenmagazine, die er in einer alten Hutschachtel in der dunkelsten Ecke seines Kleiderschranks aufbewahrte. Die Väter aller Kinder, die ich kannte, hielten irgendwo einen kleinen Stapel Herrenmagazine versteckt und dachten, sie allein wüssten davon, was natürlich ein gewaltiger Irrtum war. Gelegentlich tauschten wir Kinder untereinander die Magazine unserer Väter aus und stellten uns ihre Verblüffung vor, wenn sie statt der letzten Ausgabe von Gent nun zwei Jahre alte Nugget-Hefte und, als Zugabe, ein Taschenbuch mit dem Titel Ranchhouse Lust in ihrem Kleiderschrank vorfanden. Da wir sicher sein konnten, dass unsere Väter nicht ein Wort darüber verlieren würden, riskierten wir dabei rein gar nichts. Allerdings mussten wir den Stapel beim nächsten Mal woanders suchen. Ich weiß nicht, ob die Frauen in den fünfziger Jahre nicht mit ihren Männern schliefen, jedenfalls war diese Vorliebe für Magazine mit nackten Mädchen ein weit verbreitetes Phänomen. Vielleicht hing es in irgendeiner Weise mit dem Krieg zusammen.

Die Magazine, die unsere Väter lasen, hatten Namen wie Dude und Swell. Sie enthielten Fotos von ziemlich reizlosen Frauen mit gut gepolsterten Hüften und Brüsten wie Fußbällen, denen allmählich die Luft ausgeht. Die Frauen im Playboy waren jung und hübsch und sahen nicht aus wie die Mädchen, die ein Matrose beim Landgang aufsucht. Neben seinen unschätzbaren Diensten als Verbreiter von Nacktfotos attraktiver Frauen leistete der Playboy einen Beitrag zur Vermittlung des adäquaten Lebensstils. Wie ein monatlich erscheinender Ratgeber in Lebensfragen machte er den Leser mit den Grundsätzen von Börsenspekulationen vertraut, vermittelte Richtlinien für den Kauf einer Hi-Fi-Anlage, lehrte die Kunst des Cocktailmixens und die Hohe Schule des kultivierten Umgangs mit Frauen. Für jemanden, der in Iowa aufwuchs, waren dies wertvolle Lebenshilfen. Ich las jede Ausgabe von vorne bis hinten, selbst das Impressum unter der Inhaltsangabe. Das taten wir alle. In unseren Augen war Hugh Hefner ein wahrer Held. Heute kann ich das kaum mehr glauben, denn eigentlich kam mir Hugh Hefner schon immer wie ein kleiner Arsch vor. Wer würde sein Leben schon, in einen seidenen Morgenmantel gehüllt und mit Pantoffeln an den Füßen, auf einem riesigen, kreisrunden Bett vertun wollen, selbst wenn er alles Geld der Welt besäße? Wer wäre scharf darauf, sich mit Scharen dieser Art Mädchen zu umgeben, die sich nackt bei Kissenschlachten fotografieren lassen, nur um ihr Bild in einer Zeitschrift zu sehen? Und wer wäre begeistert bei der Vorstellung, eines Abends nichts ahnend ins Wohnzimmer zu treten und Buddy Hackest, Sammy Davis Jr. und Joey Bishop am Piano versammelt vorzufinden? Höre ich da ein einhelliges »Um Himmels willen, ist ja furchtbar!« unter der Leserschaft? Jedenfalls kaufte ich, wie alle die anderen, dennoch jede Ausgabe.

Für meine Generation war der Playboy so etwas wie ein älterer Bruder. Im Laufe der Jahre veränderte er sich – genau wie ein älterer Bruder. Er hatte einige finanzielle Rückschläge erlitten, hatte ein kleines Problem mit dem Glücksspiel gehabt und war schließlich an die Küste umgesiedelt – wie das auch die echten Brüder tun. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Tatsächlich hatte ich jahrelang nicht an ihn gedacht. Und dann plötzlich, ausgerechnet in Oxford, Mississippi, begegneten wir uns wieder. Es war, als stünde ich nach vielen Jahren einem alten High-School-Idol gegenüber, das inzwischen kahlköpfig und langweilig geworden war und noch immer diese grellen Pullover mit V-Ausschnitt und glänzend schwarze Schuhe mit Goldtressen trug, wie sie um 1961 in Mode waren. Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass sowohl der Playboy als auch ich selbst um einiges mehr gealtert waren, als ich mir bis dahin eingestanden hatte, und dass es nichts mehr gab, das uns verband. Traurig legte ich den Playboy ins Regal zurück. Ich wusste, bis ich wieder ein Heft in die Hand nähme, würde viel Zeit vergehen – dreißig Tage, um genau zu sein.

Ich sah mir die anderen Zeitschriften an. Es waren mindestens 200, und alle wandten sich an eine sehr spezialisierte Leserschaft. Es gab Zeitschriften für den Sammler von Maschinengewehren, für die korpulente Braut und für den christlichen Tischler. Für einen normalen Menschen war nichts dabei. Also verließ ich die Buchhandlung.

Über die South Lamar Street fuhr ich in Richtung Rowan Oak, nachdem ich zuvor eine Runde um den Platz gedreht hatte. Ich folgte den Anweisungen der Lady aus dem Tourist Information Office so gut ich eben konnte, aber das Haus fand ich beim besten Willen nicht, was mich, ehrlich gesagt, nicht sonderlich betrübte. Schließlich wusste ich, dass das Haus geschlossen war. Außerdem habe ich es nie geschafft, einen Roman von William Faulkner weiter als bis Seite drei zu lesen (also ungefähr bis zur Hälfte des ersten Satzes). Mein Interesse an seinem Haus hielt sich dementsprechend in Grenzen.

Während ich durch die Straßen irrte, kam ich jedoch am Gelände der University of Mississippi vorbei, und das war wesentlich interessanter. Auf dem Campus stand ein prächtiges Bauwerk neben dem anderen, jedes so stattlich wie eine Bank oder ein Gerichtshof. Über dem Rasen lagen lange Schatten. Junge Leute liefen umher und trugen Bücher unter den Armen, oder sie saßen an Tischen und arbeiteten. Alle wirkten sie so kerngesund wie eine Flasche Milch. Ein schwarzer Student saß mit seinen weißen Kommilitonen an einem Tisch. Die Zeiten hatten sich offenbar geändert. Als sich auf die Woche genau vor fünfundzwanzig Jahren ein junger Schwarzer namens James Meredith in Ole Miss immatrikulierte, begleitet von einer Eskorte von 500 Bundespolizisten, wurde ebendieser Campus zum Schauplatz blutiger Krawalle. Der Gedanke, ihren Campus mit einem »Niggra Boy« teilen zu müssen, hatte die Bürger von Oxford so erzürnt, dass sie dreißig Polizeibeamte verletzten und zwei Journalisten töteten; Unter denen, die damals Steine warfen und Autos in Brand steckten, müssen sich auch viele Eltern dieser so unbeschwert wirkenden Studenten befunden haben. Sollte es wirklich möglich sein, dass dieser tiefsitzende Hass innerhalb von nur einer Generation erloschen war? Es schien unwahrscheinlich. Andererseits war es unvorstellbar, dass sich diese ruhigen Studenten aus rassistischen Gründen Straßenschlachten liefern könnten. Genau genommen war es unvorstellbar, dass diese adretten, zielstrebigen jungen Leute überhaupt aus irgendeinem Grund auf die Barrikaden gingen – es sei denn, man käme auf die Idee, ihnen in der Mensa ihre Ration Schokoladenkekse zu kürzen.


Ich beschloss, einem Impuls nachzugeben, und fuhr nach Tupelo; der Heimatstadt von Elvis Presley, fünfunddreißig Meilen weiter östlich. Es war eine angenehme Fahrt. Die Sonne stand tief, und es war warm. Zu beiden Seiten säumten dichte Wälder die Straße. Auf einzelnen Lichtungen standen Hütten, vor denen in der Regel Scharen schwarzer Kinder Fußball spielten oder Fahrrad fuhren. Gelegentlich waren auch schönere Häuser mit weitläufigen, gepflegten Rasenflächen zu sehen – die Häuser weißer Leute. Dort parkten geräumige Kombiwagen auf den Auffahrten, und über jedem Garagentor hing ein Basketballkorb. Oft stand in bemerkenswerter Nähe zu diesen Häusern – manchmal direkt daneben – eine ärmliche Hütte. Im Norden wäre so etwas unmöglich. Es kam mir außerordentlich paradox vor, dass Südstaatler Schwarzen gegenüber so viel Verachtung empfanden, aber gleichzeitig gemütlich neben ihnen leben konnten. Ein typischer Nordstaatler dagegen hatte nichts gegen Schwarze, respektierte sie sogar als Menschen und gönnte ihnen jeden Erfolg, solange er nicht gezwungen war, Seite an Seite mit ihnen zu leben.

Als ich in Tupelo ankam, war es dunkel. Die Stadt war größer, als ich erwartet hatte. Inzwischen war ich allerdings darauf eingestellt, dass die Dinge nie so waren, wie ich sie erwartete. Durch Tupelo zog sich ein langes, breites Band von Einkaufszentren, Motels und Tankstellen. Hungrig und müde wie ich war, wusste ich zum ersten Mal die Vorteile dieser Straßen zu schätzen. Hier lag alles beieinander und wartete auf einen erschöpften Reisenden wie mich – eine funkelnde Ansammlung von Einrichtungen, die sauber, bequem, zuverlässig und zu angemessenen Preisen alle erdenklichen Annehmlichkeiten darboten. Hier konnte man schlafen, essen, ausspannen und sich mit einem Minimum an körperlichem und geistigem Kraftaufwand mit allem Nötigen ausstaffieren. Obendrein bekam man eisgekühltes Wasser und eine zweite Tasse Kaffee als Gratiszugabe serviert, nicht zu vergessen all die kostenlosen Zündholzheftchen und parfümierten, einzeln verpackten Zahnstocher, mit denen man dem Gast das Leben erleichtern wollte. Welch ein wundervolles Land, dachte ich, als ich dankbar an Tupelos einladenden Busen sank.