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Bei strahlendem Sonnenschein fuhr ich durch den frühen Morgen. Hier und da tauchte die Straße ein in dichte Kiefernwälder und führte vorbei an zahlreichen Ferienhütten im Schatten der Bäume. Nur eine Autostunde weiter nördlich lag Atlanta. Die Leute in dieser Gegend versuchten offenkundig, aus ihrer Nähe zur Metropole Kapital zu schlagen. Ich kam durch ein Städtchen namens Pine Mountain. Dort schien es alles zu geben, was man sich in einem Ferienort im Inland nur wünschen konnte. Das Städtchen war hübsch und hatte nette Geschäfte. Nur einen Berg gab es dort nicht, was in Anbetracht des Namens schon ein wenig enttäuschte. Einfältig, wie ich war, hatte ich mich für diese Fahrtroute entschieden, weil der Name Pine Mountain in mir die Vision von sauberer Luft, von felsigen Abgründen, wohlriechenden Wäldern und rauschenden Bächen heraufbeschwor. Vor meinem geistigen Auge sah ich einen dieser Orte, wo einem John-Boy Walton über den Weg laufen könnte. Aber wer will es den Einheimischen schon verübeln, dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, wenn es darum geht, ein paar Dollars zu verdienen? Die Leute würden wohl kaum einen Umweg fahren, um einen Ort zu besuchen, der Pine Flat-Place heißt.

Allmählich wurde die Landschaft hügeliger, wenn auch nicht gerade bergig. Schließlich fiel die Straße leicht ab und erreichte Warm Springs. Seit Jahren verspürte ich das Bedürfnis, diese Stadt kennen zu lernen. Ich weiß selbst nicht, warum. Franklin Roosevelt war dort gestorben. Das war alles, was ich von Warm Springs wusste. Im Hauptkorridor des Gebäudes von Register and Tribune in Des Moines hingen Titelseiten alter Tageszeitungen, die mich als kleinen Jungen seltsam fasziniert hatten. Auf einer der Seiten hieß es: »Präsident Roosevelt in Warm Springs gestorben«. Schon damals dachte ich, hinter einem solchen Namen müsse sich ein hübsches Städtchen verbergen, ein Ort, wo es sich gut sterben ließ.

Warm Springs war tatsächlich ein hübsches Städtchen. An seiner Hauptstraße standen ein altes Hotel auf der einen und eine Reihe von Geschäften auf der anderen Seite. Alle Geschäfte waren restauriert und beherbergten teure Boutiquen und Souvenirläden für die Besucher aus Atlanta. Sogar auf den Gehsteigen wurde man mit Musik berieselt. Alles wirkte irgendwie unnatürlich, aber mir gefiel es.

Ich fuhr zum Little White House, etwa zwei Meilen außerhalb der Stadt. Auf dem Parkplatz stand nur ein alter Bus, aus dem scharenweise alte Leute stiegen. Der Bus gehörte der Cavary Baptist Church von Firecracker, Georgia, oder Bareassed, Alabama, oder einem ähnlichen Kaff. Die alten Leute waren so lärmig und aufgeregt wie Schulkinder. Sie drängelten sich vor mir an die Kasse, nicht ahnend, dass ich auch bei einem älteren Menschen nicht davor zurückschrecken würde, ihn beiseite zu schubsen, schon gar nicht, wenn es sich um einen Baptisten handelt. Doch ich lächelte nur gütig und ließ ihnen den Vortritt.

Ich kaufte eine Eintrittskarte und überholte die alten Leute kurz darauf an einem Hang, über den der Weg zu Roosevelts Haus führte. Der Weg wand sich durch einen Wald aus riesigen Kiefern. Die Bäume schienen ins Unermessliche zu wachsen und ließen nicht einen Sonnenstrahl hindurch, so dass der Boden zu ihren Füßen so nackt war, als hätte man ihn soeben gefegt. Zu beiden Seiten des Weges lagen Felsbrocken. Jeder Felsen stammte aus einem anderen Staat. Anscheinend hatte man jeden Gouverneur um einen Beitrag in Form eines Gesteinsbrockens aus seinem Staat gebeten. Und hier lagen sie nun, aufgereiht wie die Soldaten einer Ehrengarde. Eine so blödsinnige Idee wird wohl nur selten in die Tat umgesetzt. Oft hatte man das Gestein in die Form des jeweiligen Staates gehauen und anschließend auf Hochglanz poliert. Aber auch unbearbeitete Brocken waren darunter, nur mit einer kleinen Tafel und der lapidaren Inschrift »Delaware. Granit.« versehen. Diese Staaten hatten den Sinn des Unternehmens offensichtlich nicht verstanden. Iowas Beitrag gehörte, wie erwartet, in die Kategorie »mittelmäßig«. Der Stein präsentierte sich in der Form seines Heimatstaates, allerdings musste ihn jemand bearbeitet haben, der nie zuvor mit einer solchen Aufgabe betraut worden war. Vermutlich hatte er das preisgünstigste Angebot gemacht und war selbst überrascht, als er den Auftrag bekam. Wenigstens hatte Iowa einen Stein für diesen Zweck auserkoren. Ich hatte schon befürchtet, sie hätten einen Klumpen Erde geschickt.

Von dieser ungewöhnlichen Steinsammlung führte der Weg zu einem weißen Haus mit flachem Dach. Einst lebten dort Nachbarn der Roosevelts. Heute dient das Haus als Museum. Wie alle amerikanischen Museen dieser Art war es gut gemacht und interessant. Fotos von Roosevelt in Warm Springs bedeckten die Wände, während hinter Glas jede Menge persönliche Dinge zu sehen waren – seine Rollstühle, seine Krücken, Stützapparate und andere Geräte dieser Art. Die oft erstaunlich kunstvoll verzierten Ausstellungsstücke erweckten ein morbides Interesse, denn F. D. R. hatte stets sorgsam darauf geachtet, dass die Öffentlichkeit ihn nicht als den Krüppel zu sehen bekam, der er war. Und hier stand er nun sozusagen ohne Hosen vor uns. In einem anderen Raum waren all die selbstgebastelten Geschenke ausgestellt, die er während seiner Zeit als Präsident erhalten und dann vermutlich in der hintersten Ecke irgendeines riesigen Schrankes verstaut hatte. Da gab es Dutzende handgeschnitzter Spazierstöcke, in Holz eingelegte Landkarten der Vereinigten Staaten und Porträts von F. D. R., die man in Walrosszähne geritzt oder mit Säure in Schieferplatten geätzt hatte. Erstaunlich, welche Perfektion jedes einzelne Stück aufwies – das Resultat von Hunderten von Stunden unermüdlichen Schnitzens und Polierens. Und all das, um es einem Fremden zu schenken, dem es nichts weiter bedeuten würde als ein Posten mehr in einem ganzen Arsenal von Geschenken. Ich war so in die Betrachtung dieser Dinge vertieft, dass ich es kaum bemerkte, als die alten Leute hereinplatzten, ein wenig außer Atem, aber nichtsdestoweniger lebhaft. An einem der Schaukästen drängelte sich eine Lady mit blaustichigem Haar vor meine Nase. Sie warf mir einen Blick zu, der wohl bedeuten sollte »Ich bin alt. Ich kann mich hinstellen, wo ich will«, um sich dann dem Schaukasten zuzuwenden. »Sag mal, Hazel«, rief sie laut, »weißt du, dass du am selben Tag Geburtstag hast wie Eleanor Roosevelt?«

»Ist das wahr?«, antwortete eine schrille Stimme ans dem Nebenraum.

»Ich selbst habe am selben Tag wie Eisenhower Geburtstag«, fuhr die Lady mit dem bläulichen Haar in unveränderter Lautstärke fort und verteidigte ihre Stellung vor dem Schaukasten mit einem energischen Schwung ihres üppigen Hinterteils. »Und einer meiner Cousins hat am selben Tag wie Harry Truman Geburtstag.«

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, die Frau bei den Ohren zu packen und ihre Stirn gegen mein Knie zu hämmern. Aber stattdessen ging ich in den Nebenraum, wo ich den Eingang zu einem kleinen Kino entdeckte. Dort zeigten sie einen knisternden Schwarzweißfilm über Roosevelts Kampf gegen Polio und seine langen Aufenthalte in Warm Springs. Man sah, wie er sich die spindeldürren Beine rieb, um sie zu beleben, als wären sie nur eingeschlafen. Der Film war ausgezeichnet. Er bewegte, ohne rührselig zu sein. Ein UPI-Korrespondent hatte das Drehbuch geschrieben und den Kommentar gesprochen. Auch Stummfilme wurden gezeigt. Alle Personen bewegten sich darin so ruckartig hektisch, als würden sie von jemandem außerhalb der Reichweite der Kamera zur Eile getrieben. Diese Filme waren im Haus Roosevelts gedreht worden und erregten dieselbe voyeuristische Faszination wie zuvor die Stützapparate für F. D. R.s Beine.

Nun ging es endlich zum Little White House. Um nicht noch einmal mit den alten Leuten zusammenzutreffen, legte ich den Rest des Weges fast im Sprint zurück. Das Haus stand am Ende eines von Kiefern gesäumten Weges hinter einem weißen Wachhäuschen. Überrascht stellte ich fest, wie klein es war – ein kleines, weißes Cottage mitten im Wald. Es hatte fünf kleine, mit dunklem Holz getäfelte Räume, die alle zu ebener Erde lagen. Dass dies das Zuhause eines Staatspräsidenten gewesen sein soll, und zwar eines so reichen Staatspräsidenten wie Roosevelt, war kaum zu glauben, vor allem, da ihm der größte Teil des umliegenden Landes gehörte, einschließlich des Hotels an der Main Street, sowie mehrere Cottages und die heißen Quellen selbst. Durch seine Kompaktheit sah das Häuschen nur umso hübscher und behaglicher aus. Es wirkte, als wäre es noch immer bewohnt. Man konnte den Wunsch nicht unterdrücken, es selbst zu besitzen, auch wenn das bedeutete, in Georgia leben zu müssen. In jedem Zimmer informierte ein Tonband darüber, wie Roosevelt arbeitete und welchen Therapien er sich im Cottage unterzog. Dass er eigentlich hierher kam, um in diesem ländlichen Idyll mit seiner Sekretärin, Lucy Mercer, erotische Schäferstündchen zu halten, wurde diskret verschwiegen. Ihr Schlafzimmer lag an der einen Seite des Wohnzimmers, seins an der anderen. Wenn der Kommentator auf dem Band dies auch unerwähnt ließ, so wies er doch darauf hin, dass Eleanors Schlafzimmer am anderen Ende des Häuschens – und entschieden weniger komfortabel als das der Sekretärin – meistens als Gästezimmer genutzt wurde, da Eleanor ihren Mann nur selten auf seinen Reisen in den Süden begleitete.

Hinter Warm Springs machte ich einen kleinen Umweg, um über eine angeblich landschaftlich reizvolle Straße nach Macon zu fahren, aber allzu viele Reize konnte ich der Strecke nicht abgewinnen. Sie war nicht gerade reizlos, aber eben auch nicht reizvoll. In mir stieg der Verdacht auf, dass die Markierungen für die landschaftlich schönen Strecken mehr oder weniger willkürlich auf meiner Karte verteilt worden waren. Ich stellte mir vor, wie irgendein Mensch, der nie südlicher als bis Jersey City gekommen war, in seinem New Yorker Büro sitzt und sich sagt: »Von Warm Springs nach Macon? Hört sich nett an«, und wie er dann mit der Zunge im Mundwinkel sorgfältig die orange Linie strichelt, die eine Landschaft voller Reize verspricht.

Macon war ein hübsches Städtchen. (Im Süden schien es nur hübsche Städtchen zu geben.) Ich hielt vor einer Bank, um einen Scheck einzulösen, und wurde von einer Dame aus Great Yarmouth bedient, was uns beide ein wenig in Aufregung versetzte. Dann fuhr ich weiter, über die Otis-Redding-Gedächtnisbrücke. In weiten Teilen Amerikas und ganz besonders im Süden pflegt man Bauwerke aus Beton nach ortsansässigen Berühmtheiten zu benennen – die Sylvester-C.-Grubb-Gedächtnisbrücke, der Chester-Ovary-Damm und so weiter. Ich halte das für eine sehr merkwürdige Angewohnheit. Da arbeitet jemand sein ganzes Leben lang, klammert sich mit aller Macht an den Erfolg, macht Überstunden, vernachlässigt seine Familie, hintergeht seine Mitmenschen, nimmt in Kauf, dass jeder, mit dem er in Berührung kommt, ihn für ein Arschloch hält, nur damit eines Tages eine Highway-Brücke über den Tallapoosa River seinen Namen trägt! Da stimmt doch etwas nicht. Na ja, immerhin war diese Brücke nach jemandem benannt, von dem auch ich gehört hatte.

Ich fuhr auf die Interstate 16 und nahm Kurs auf Savannah im Osten. Zwischen mir und Savannah lagen 173 Meilen unbeschreiblicher Langeweile. Die Fahrt durch die lehmrote Ebene von Georgia kostete mich fünf heiße, schwer erträgliche Stunden, während Sie, glücklicher Leser, nur den Blick zum nächsten Absatz schweifen lassen müssen.


In gespannter Erwartung stand ich auf dem Lafayette Square in Savannah, inmitten plätschernder Brunnen und alter Bäume, von denen Spanisches Moos herabhing. Vor mir erhob sich eine blendend weiße Kathedrale mit gotischen Zwillingstürmen. Ringsherum standen 200 Jahre alte, verwitterte Backsteinhäuser, deren sturmsichere Fensterläden offensichtlich auch heute noch benutzt wurden. Ich hatte nicht gewusst, dass in Amerika eine solche erhabene Ruhe möglich war. Etwa zwanzig dieser kühlen, stillen Plätze unter einem Baldachin aus Bäumen mochte es in Savannah geben, eingebettet in ein Netz aus ebenso schattigen und ruhigen Seitenstraßen. Erst wenn man diesen städtischen Regenwald verlässt und sich in den offenen Straßen der Neustadt der Glut der sengenden Sonne aussetzt, merkt man, wie heiß der Süden sein kann. Es war Oktober, in Iowa die Zeit der Flanellhemden und des heißen Grogs. Doch hier brannte die Sommersonne mit unverminderter Intensität. Es war erst acht Uhr morgens, und schon lockerten Geschäftsleute ihre Krawatten und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Wie heiß muss es hier erst im August sein? Jedes Geschäft und jedes Restaurant verfügt über eine Klimaanlage. Geht man hinein, gefriert einem der Schweiß auf der nackten Haut. Geht man wieder auf die Straße, stößt einem die Luft heiß und unangenehm wie der Atem eines Hundes entgegen. Nur auf den Plätzen erreichen die Temperaturen ein wohltuendes Mittelmaß.

Savannah ist eine verführerische Stadt. Fast gegen meinen Willen wanderte ich stundenlang durch ihre Straßen. Die Stadt verfügt über mehr als 1000 historische Gebäude, von denen viele bis heute bewohnt sind. Bisher hatte ich nur in New York erlebt, um wie viel lebendiger eine Downtown wirkt, wenn die Menschen dort nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen, wenn Kinder in den Straßen Ball spielen oder auf den Treppen der Häuser Seilspringen. Über den kopfsteingepflasterten Gehsteig der Oglethorpe Avenue schlenderte ich zum Colonial Park Cemetery. Der Friedhof war voll gestopft mit verfallenden Denkmälern und Grabsteinen von Leuten, die in der Geschichte des Staates eine wichtige Rolle gespielt haben – Archibald Bulloch, der erste Präsident von Georgia, James Habersham, »ein führender Kaufmann«, und Button Gwinnett, der als einer der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung landesweiten Ruhm genießt und zudem als Träger des albernsten Vornamens der Kolonialgeschichte von sich reden machte. Die Bürger von Savannah scheinen den alten Button im Laufe der Jahre jedoch aus den Augen verloren zu haben. Auf einem historischen Wegweiser hieß es, er läge möglicherweise an der Stelle begraben, an der ich gerade stand. Woanders las ich, er könnte seine letzte Ruhestätte auch unter jenem Grabmal in der Ecke gefunden haben – aber ebenso gut auch irgendwo anders. Man wusste also nie, ob man nicht gerade auf Button herumtrampelte.

Im Geschäftsviertel von Savannah fühlte ich mich in das Jahr 1959 zurückversetzt. Zumindest schien das Warenangebot des Woolworth-Kaufhauses aus jener Zeit zu stammen. Ich fand ein schönes, altes Lichtspieltheater, das Weis’s, doch es war geschlossen. In amerikanischen Städten gehören Kinos in Downtown leider, leider der Vergangenheit an. Ständig liest man, wie wichtig die Filmindustrie für Amerika ist, doch die Kinos sind heutzutage ausnahmslos in die Einkaufszentren der Vorstädte verbannt. Dort hat man die Wahl zwischen einem Dutzend verschiedener Filme, doch jedes Kino ist gerade so groß wie ein überdimensionales Gefrierfach und bietet nur unwesentlich mehr Komfort. Galerien gibt es nicht mehr. Können Sie sich das vorstellen? Können Sie sich ein Kino ohne Galerie vorstellen? Ins Kino gehen bedeutet für mich, in der vordersten Reihe der Galerie zu sitzen, die Füße auf die Balustrade zu legen, leere Bonbonschachteln auf die Leute in den unteren Rängen fallen zu lassen (oder während der langweiligeren Liebesszenen Cola auf ihre Köpfe zu tröpfeln) und Nibs in Richtung Leinwand zu schleudern. Nibs waren vermutlich aus Kautschuküberresten aus dem Korea-Krieg hergestellte Bonbons mit Lakritzgeschmack, die sich in den fünfziger Jahren einer eigentümlichen Beliebtheit erfreuten. Sie waren praktisch ungenießbar. Lutschte man sie jedoch eine Minute lang und warf sie dann an die Leinwand, blieben sie mit einem interessanten »pock« daran kleben. Traditionsgemäß verbrachten wir unsere Samstagnachmittage damit, in den Bus nach Downtown zu steigen, ins Orpheum zu gehen, eine Packung Nibs zu kaufen und stundenlang die Leinwand zu bombardieren.

Das war nicht ganz ungefährlich, denn der Manager des Kinos hatte brutale Platzanweiser engagiert, Schulabbrecher der Tech High School, die nur eines in ihrem Leben bedauerten: nicht im Deutschland Hitlers zur Welt gekommen zu sein. Mit leistungsstarken Taschenlampen patrouillierten sie in den Gängen und hielten nach Kindern Ausschau, die sich danebenbenahmen. Zwei- oder dreimal während eines Films erfasste ein Lichtkegel pfeilartig einen glücklosen Knirps, der halb stehend, mit einem klebrigen Nib in der Hand, in Wurfstellung erstarrte. Sie stürzten sich auf ihn und schleppten den kreischenden Jungen hinaus. Meinen Freunden oder mir ist das, dem Himmel sei Dank, nie passiert. Wir mutmaßten jedes Mal, dass sie die verschleppten Opfer mit elektrischen Folterinstrumenten traktierten, bevor sie sie der Polizei übergaben, die ihrerseits dafür sorgen würde, dass die Pechvögel für lange Zeit hinter den Mauern einer Besserungsanstalt verschwanden. Das waren noch Zeiten! Mir kann keiner erzählen, dass sich diese vorstädtischen Kinokomplexe mit ihren Schuhkartonkinos und den Leinwänden von der Größe eines Badehandtuchs mit den Reizen eines dieser höhlenartigen Lichtspieltheater in Downtown messen können. Niemand scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass unsere Generation vielleicht die letzte ist, für die sich ein Kinobesuch noch mit einem gewissen Zauber verbindet.

Während ich darüber nachdachte, erreichte ich die Water Street am Savannah River. Ein neu angelegter Spazierweg führte den Fluss entlang. Der Fluss selbst wirkte finster. Er stank. Am gegenüberliegenden Ufer lag South Carolina. Dort gab es nichts zu sehen als baufällige Lagerhäuser und, weiter stromabwärts, Fabriken, aus deren Schornsteinen Rauchschwaden gen Himmel stiegen. Die alten Baumwolllagerhäuser, die das Flussufer auf der Savannah-Seite säumten, waren dagegen großartig. Im Erdgeschoss dieser gelungen restaurierten Gebäude befanden sich Boutiquen und Austernbars, während man den oberen Stockwerken einen Hauch ihrer ursprünglichen Schäbigkeit gelassen hatte. Sie verlieh dem Ganzen diese gewisse Verwegenheit, nach der ich seit Hannibal gesucht hatte. Ich muss schon sagen, einige der Läden waren fast ein wenig zu niedlich. Einer nannte sich The Cutest Little Shop in Town. Der süßeste kleine Laden der Stadt. Da dreht sich einem doch der Magen um! An der Tür wies ein Schild daraufhin, dass der Genuss von Speisen und Getränken in diesem Geschäft »absolutlich und ein für allemalig« verboten sei. Ich fiel auf die Knie und dankte Gott, dass ich nie dem Besitzer begegnen würde. Der Laden war geschlossen. Ich konnte also nicht hineingehen und herausbekommen, was so süß daran war.

Fast am Ende der Straße stand ein großes, neues Hyatt Regency Hotel. Ein bedrückender Anblick. Bei dem massiven Betonklotz handelte es sich um ein Produkt jener architektonischen Schule, deren Baumeister nach dem Grundsatz Lecktmich-doch-alle-am-Arsch die Landschaft verschandeln, also um ebenjene Stilrichtung, die von den meisten großen amerikanischen Hotelketten bevorzugt wird. Nichts an diesem Bau, weder seine Größe noch sein Erscheinungsbild, passte sich in irgendeiner Weise den alten Gebäuden in seiner Nachbarschaft an. Der ganze Bau schien sagen zu wollen: »Du kannst mich mal, Savannah.« In dieser Hinsicht ist die Stadt ziemlich verunstaltet. Alle paar Häuserblocks stößt man auf eine Scheußlichkeit wie das De Soto Hilton, das Ramada Inn oder das Best Western Riverfront – alle miteinander so bildschön wie Spucke auf einem Scheißhaufen, wie man in Georgia zu sagen pflegt. Eigentlich benutzen die Leute in Georgia diese Redewendung nicht wirklich. Ich habe sie eben erfunden. Aber klingt sie nicht, als käme sie aus dem Mund eines Südstaatlers?

Ich begann gerade, die Hässlichkeit der Hotels als persönliche Beleidigung zu empfinden, und spürte, dass ihre Trostlosigkeit sich auf mein Gemüt zu legen drohte, als ein Arbeiter vor dem städtischen Gerichtsgebäude meine Aufmerksamkeit erregte. Er trug ein Laubgebläse mit sich herum, ein lärmendes Gerät mit einem meilenlangen Kabel, das sich hinter seinem Rücken zurück ins Innere des Gebäudes schlängelte. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Es sah aus wie ein Staubsauger – eigentlich eher wie einer der Marsmenschen in dem Film Gefahr aus dem Weltraum – und machte einen ungeheuren Lärm. Vermutlich sollte man damit alle Blätter auf einen Haufen blasen und sie dann mit den Händen einsammeln. Doch immer, wenn der Mann einen kleinen Haufen Blätter beisammen hatte, wehte ein Windstoß sie in alle Himmelsrichtungen. Manchmal jagte der Mann mit seinem Gebläse einem einzelnen Blatt einen halben Häuserblock und weiter hinterher, während die anderen Blätter auf dem Haufen die Gelegenheit nutzten, um kreuz und quer durch die Gegend zu wirbeln. Ich vermute, dass das Gerät im Katalog einen durchaus tauglichen Eindruck gemacht hat, aber im wirklichen Leben niemals funktioniert. Im Vorbeigehen fragte ich mich, ob wohl die Leute von der Zwingle Company hinter dieser Fehlkonstruktion steckten.


Ich verließ Savannah über die Herman Talmadge Memorial Bridge. Diese lange, von eisernen Pfeilern getragene Brücke schwingt sich höher und höher in die Lüfte und befördert den nach Luft schnappenden Reisenden in hohem Bogen über den Savannah River nach South Carolina. Ich fuhr über eine Straße, die auf meiner Karte wie eine sich windende Küstenstraße aussah, sich aber in Wirklichkeit durch das Inland schlängelte. Dieser Küstenstreifen ist von Inseln, Meeresarmen, Buchten, Dünen und Sandstränden gesäumt, doch von alledem sah ich kaum etwas. Die Straße war schmal, und ich kam nur langsam voran. Im Sommer, wenn sich Millionen von Urlaubern aus den Städten entlang der Ostküste auf den Weg zu Stränden und Ferienorten wie Tybee Island, Hilton Head, Laurel Bay und Fripp Island machen, muss hier die Hölle los sein. Erst bei Beaufort (ausgesprochen Bjufurt) bekam ich zum ersten Mal wirklich das Meer zu Gesicht. Hinter einer Kurve stand ich plötzlich und unverhofft vor einer spiegelglatten Bucht, mit Schilfbänken und voller Boote, still und heiter und so blau wie der Himmel. Laut Mobil Travel Guide stellen Tourismus, Militär und Rentner die drei Haupteinnahmequellen dieser Region dar. Das mag sich schrecklich anhören; Beaufort mit seinen vielen Villen und einem altmodischen Geschäftsviertel erwies sich dennoch als wirklich hübsches Städtchen. Ich parkte an der Bay Street, der Hauptdurchfahrtsstraße der Stadt, und stellte beeindruckt fest, dass die Parkgebühr ganze fünf Cent betrug. Das war wohl so ungefähr das Einzige, was man in Amerika noch für ein Fünfcentstück bekam – dreißig Minuten Seelenfrieden in Beaufort, South Carolina. Ich schlenderte zu einem kleinen Park und zum Yachthafen, der dem Anschein nach erst vor kurzem angelegt worden war. Erst zum vierten Mal im Leben sah ich den Atlantik von dieser Seite. Ein Landei aus dem Mittleren Westen verschlägt es nicht eben oft an einen der Ozeane. Im Park wimmelte es von Verbotsschildern. Im Abstand von nur wenigen Metern wurde man davon in Kenntnis gesetzt, dass jegliches ungebührliche Verhalten sowie Vergnügungen aller Art zu unterlassen seien: BADEN UND TAUCHEN AN DER KAIMAUER VERBOTEN. FAHRRADFAHREN IM PARK VERBOTEN. WER BLUMEN, PFLANZEN, BÄUME ODER STRÄUCHER ENTFERNT ODER BESCHÄDIGT, WIRD BESTRAFT. DER KONSUM ODER DAS MITFÜHREN VON BIER, WEIN ODER ANDEREN ALKOHOLISCHEN GETRÄNKEN IST IN STÄDTISCHEN PARKS NUR MIT SONDERGENEHMIGUNG DER STADT GESTATTET. ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN STRAFRECHTLICH VERFOLGT. Anscheinend hatte im Stadtrat von Beaufort ein kleiner Stalin das Sagen. Noch nie habe ich eine Stadt mit so feindselig gesinnten Behörden erlebt. Augenblicklich verging mir die Lust, länger an diesem ungastlichen Ort zu verweilen. Ich stieg ins Auto und fuhr weiter. Eigentlich ein Jammer, denn laut Parkuhr standen mir noch zwölf Minuten zu.

Dementsprechend kam ich zwölf Minuten früher als geplant in Charleston an, was sich als vorteilhaft erweisen sollte. War bislang Savannah mein persönlicher Spitzenreiter der schönsten amerikanischen Städte gewesen, so rutschte die Stadt kurz nach meiner Ankunft in Charleston auf den zweiten Platz ab. Unweit des Hafens erstreckt sich Charleston über eine abgerundete Halbinsel, auf der sich, entlang schnurgeraden, schattigen Straßen, ein schönes, altes Haus an das andere reiht. Wie überdimensionale Bücher auf einem voll gepackten Regalbord stehen sie da. Einige der Häuser sind mit einer Fülle von Ornamenten geschmückt, ganz im viktorianischen Stil und so fein ziseliert wie eine Spitzenborte. Dazwischen mischen sich schlichte weiße Schindelhäuser mit schwarzen Fensterläden. Keines der Häuser hat weniger als drei Stockwerke. Durch ihre Nähe zur Straße wirken sie umso höher und noch eindrucksvoller. Zwar sah ich vor fast jedem Haus einen vietnamesischen Gärtner, der sich hingebungsvoll um einen Rasenflecken von der Größe einer Tischdecke kümmerte, doch richtige Gärten gibt es dort so gut wie gar nicht. Aus diesem Grund spielen die Kinder auf der Straße, während auf den Treppen vor den Eingangstüren Frauen sitzen und schwatzen. Und alle sind sie weiß und jung und reich – ein Anblick, den man in Amerika nicht erwartet. Kinder wohlhabender Eltern spielen in Amerika nicht auf der Straße; das haben sie nicht nötig. Sie faulenzen am Swimmingpool oder spielen in der 3000-Dollar-Baumhütte, die Daddy ihnen zum neunten Geburtstag gebaut hat. Und wenn ihre Mütter mit einer Nachbarin plaudern wollen, dann tun sie das am Telefon oder steigen in ihren Kombi mit Klimaanlage und fahren die hundert Meter. Ich begann zu begreifen, wie sehr Autos und Vorstädte – und unverarbeiteter Wohlstand – das Leben in Amerika verdorben haben. Das Klima und die Atmosphäre von Charleston erinnern an Neapel, während man in Reichtum und Lebensart die amerikanische Großstadt wiedererkennt. Ich war entzückt und wanderte den ganzen Nachmittag die friedlichen Straßen auf und ab. Im Stillen bewunderte ich diese gut aussehenden Menschen, die so unglaublich glücklich wirkten, ihre wundervollen Häuser und ihr reiches, perfektes Leben.

Im Park an der Spitze der Halbinsel tobten Kinder auf ihren BMX-Rädern herum, Pärchen spazierten Hand in Hand, und Frisbeescheiben segelten durch die Luft, während in der untergehenden Sonne die Schatten der Magnolienbäume länger und länger wurden. Um mich herum sah ich nur jugendliche, attraktive und gut gekleidete Menschen. War ich in einen Werbespot für Pepsi Cola geraten? Von der breiten Uferpromenade außerhalb des Parks reichte der Blick über den grünen Fluss bis zum Hafen. Das Wasser schwappte gegen die Steine und roch nach Fisch. In einer Entfernung von zwei Meilen konnte ich die Insel Fort Sumter erkennen. Dort hatte der Bürgerkrieg begonnen. Die Promenade war von Radfahrern und schwitzenden Joggern bevölkert, die sich gekonnt an Fußgängern und Touristen vorbeischlängelten. Ich kehrte um und ging zum Auto zurück. Während mir die Sonne warm auf den Rücken schien, beschlich mich das unbestimmte Gefühl, dass es nach einer solchen Vollkommenheit nur bergab gehen konnte.