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»Im Northern Wisconsin General Hospital verhelfen wir Ihnen zu Ihrem Wunschkind«, verkündete eine Stimme im Radio. Oh Gott, seufzte ich. Das war auch eine dieser Neuerungen, die über das Land hereingebrochen waren, seit ich es verlassen hatte – Werbung für Krankenhäuser. Allerorten stößt man jetzt auf Werbeanzeigen von Krankenhäusern. Wozu die wohl gut sein sollen? Wenn jemand von einem Bus angefahren wird, ruft er dann etwa: »Schnell, bringt mich ins Michigan General. Die haben da einen neuartigen Magnetresonator«? Ich komme da nicht mit. Genau genommen ist mir das gesamte System der amerikanischen Gesundheitsfürsorge ein einziges Rätsel.

Kurz bevor ich zu dieser Reise aufgebrochen war, hatte ich erfahren, dass eine Freundin von mir im Mercy Hospital in Des Moines lag. Ich suchte also im Telefonbuch nach der Nummer und fand unter Mercy Hospital vierundneunzig verschiedene Telefonnummern aufgelistet. Sie begannen mit A wie Aufnahme, und weiter ging es in alphabetischer Reihenfolge mit Biofeedback, Krebs-Hotline, Osteoporoseprogramme, Public Relations, Säuglingsapnoe-Hotline, etwas mit dem Namen Share Gare Ltd. und so weiter und so fort. Aus Amerikas Gesundheitsfürsorge ist ein gigantischer Industriezweig geworden, der ganz und gar außer Kontrolle gerät.

Die Freundin, die ich besuchte, hatte soeben erfahren, dass sie an Eierstockkrebs litt. Hinzu kam eine Lungenentzündung. Wie Sie sich sicher vorstellen können, war sie ziemlich angeschlagen. Während ich an ihrem Bett saß, kam ein Sozialarbeiter herein und informierte sie behutsam über einige Kosten ihrer Behandlung. So hatte meine Freundin beispielsweise die Wahl zwischen dem Medikament A für 5 Dollar pro Dosis, das viermal am Tag eingenommen werden musste, und dem Medikament B für 18 Dollar, das nur einmal täglich einzunehmen war. Die Aufgabe des Sozialarbeiters bestand darin, zwischen Arzt, Patient und Versicherungsgesellschaft zu vermitteln und nach Möglichkeit zu vermeiden, dass der Patient mit allzu vielen Rechnungen überhäuft wurde, die die Versicherung nicht bezahlt – ein Service, für den man meine Freundin natürlich ebenfalls zur Kasse bitten würde. Es schien so verrückt, so unwirklich, zuzusehen, wie eine alte Freundin mehr tot als lebendig Luft aus einer Sauerstoffmaske sog und dabei mit einem schwachen Nicken oder Schütteln ihres Kopfes Fragen über die Fortsetzung ihres Lebens beantwortete, die sich allein auf ihre Zahlungsfähigkeit bezogen.

Entgegen der im Ausland vorherrschenden Meinung ist es sehr wohl möglich, sogar ziemlich unproblematisch, sich in Amerika unentgeltlich ärztlich versorgen zu lassen. Nämlich in den Bezirkskrankenhäusern. Das sind zwar im Allgemeinen alles andere als heitere Orte, aber sie sind nicht schlechter als jedes britische NHS-Krankenhaus. In einem Land wie Amerika, in dem 40 Millionen Menschen ohne Krankenhausversicherung leben, muss es die Möglichkeit unentgeltlicher ärztlicher Versorgung geben. Aber wehe dem, der Geld auf der Bank hat und trotzdem versucht, in einem Bezirkskrankenhaus kostenlos ein wenig Gesundheitsfürsorge zu ergattern. Ich habe ein Jahr im Bezirkskrankenhaus von Des Moines gearbeitet, und ich kann Ihnen sagen, die beschäftigen ein Heer von Rechtsanwälten und Schuldeneintreibern, deren Job es ist, die finanziellen Verhältnisse der Leute auszukundschaften, die ihre Einrichtungen beanspruchen, und sicherzustellen, dass sie wirklich so arm sind, wie sie vorgeben.

Mag das amerikanische System privater Gesundheitsfürsorge auch noch so schwachsinnig sein, nirgends auf der Welt gibt es eine qualitativ bessere medizinische Versorgung als in diesem Land. Meiner Freundin wurde eine erstklassige und umfassende Behandlung zuteil (nicht zufällig wurde sowohl ihr Krebs als auch ihre Lungenentzündung geheilt). Sie lag in einem Einzelzimmer mit eigenem Bad, hatte einen Fernseher mit Fernbedienung, einen Videorecorder und ein Telefon zur Verfügung. Das gesamte Krankenhaus war mit Teppichboden ausgelegt. An den Wänden hingen farbenfrohe Bilder, und überall standen exotische Palmen herum. In den staatlichen Krankenhäusern Großbritanniens findet man nur in den Räumen der Oberschwestern so etwas wie einen Teppich oder einen Farbfernseher. Als ich vor Jahren in einem solchen NHS-Krankenhaus gearbeitet habe, schlich ich mich eines Nachts in das Zimmer der Oberschwestern und sah mich um. Es war wie im Wohnzimmer der Queen, voll samtiger Möbel und halb leerer Schachteln Milk-Tray-Schokolade.

Die Patienten schliefen dagegen unter nackten Glühbirnen in kalten, widerhallenden Schlafbaracken. Tagsüber vertrieben sie sich die Zeit mit Puzzlespielen, denen mindestens ein Fünftel der Teile fehlte, und warteten auf das Rudel von Ärzten und Studenten, das alle vierzehn Tage auf eiliger Visite für zwanzig Sekunden in die Einförmigkeit ihrer Stunden platzte. Aber das ist lange her. Inzwischen sind auch in NHS-Krankenhäusern rosigere Zeiten angebrochen.

Verzeihung. Mir scheint, ich schweife gehörig vom Thema ab. Statt Sie durch Wisconsin zu führen und Ihnen Wissenswertes über Amerikas führenden Staat in Sachen Milchwirtschaft zu erzählen, ergehe ich mich überflüssigerweise in unkonstruktiven Anmerkungen über das amerikanische und das britische Gesundheitswesen. Kehren wir also endlich zum Thema zurück.

Wie ich schon sagte, ist Wisconsin Amerikas führender Lieferant von Molkereierzeugnissen. Hier werden siebzehn Prozent des amerikanischen Bedarfs an Käse und Milchprodukten erzeugt. Menschenskind, dabei sind mir gar nicht so viele Milchkühe aufgefallen, als ich durch die wogende Weite des Staates brauste. Stundenlang fuhr ich nach Süden, vorbei an Green Bay, Appleton und Oshkosh, und dann nach Westen in Richtung Iowa. Dies war das typische Farmland des Mittleren Westens, eine Studie in Brauntönen, eine Landschaft aus bewaldeten Hügeln, kahlen Bäumen, verblassten Weiden und abgeernteten Maisfeldern. Alles war von einer Art verhaltener Schönheit. Die vereinzelten Farmen wirkten stattlich und wohlhabend. Alle paar hundert Meter kam ich an einem Bauernhaus mit einem Garten voller Bäume und einer Schaukel auf der Veranda vorbei. Daneben stand eine rote Scheune mit abgerundetem Dach und ein Getreidesilo. Überall türmten sich Berge von Maiskolben auf den Trockengerüsten. Schwärme von Zugvögeln zogen über den blassen Himmel. Der Mais, der noch auf den Feldern stand, sah abgestorben und spröde aus, doch hin und wieder fraß sich noch eine riesige Mähmaschine durch die Reihen und spie leuchtend gelbe Kolben aus.

Über kleine Landstraßen fuhr ich durch das spärliche Nachmittagslicht. Diesen Staat zu durchqueren schien eine Ewigkeit zu dauern, doch das störte mich nicht, denn die Fahrt war angenehm und erholsam. Ein ganz außergewöhnlicher Reiz lag über diesem Tag, über dieser Jahreszeit, in der der Winter seinen Einzug hielt. Gegen vier Uhr wurde es dämmrig. Gegen fünf lugte die Sonne noch einmal aus den Wolken hervor, um hinter den Hügeln in der Ferne zu versinken, wie eine Münze, die man in ein Sparschwein steckt. In Ferryville breitete sich plötzlich der Mississippi vor mir aus. Es verschlug mir fast den Atem. Er war so breit und schön und anmutig, so wie er da lag, flach und ruhig. Im Licht der untergehenden Sonne schien er aus flüssigem Stahl zu bestehen.

Am anderen Ufer, etwa eine Meile entfernt, lag Iowa. Meine Heimat. Ein Kribbeln in der Magengegend ließ mich dichter ans Lenkrad rutschen. Ich fuhr zwanzig Meilen am Ostufer des Flusses entlang und starrte zu den dunklen Felsvorsprüngen auf der anderen Seite hinüber. Bei Prairie du Chien überquerte ich den Fluss auf einer eisernen Brücke mit vielen Verstrebungen. Und dann war ich in Iowa. Ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug. Dies war mein Staat. Mein Nummernschild unterschied sich nicht mehr von den anderen. Und niemand sah mich mehr an, als wollte er sagen: »Was willst du denn hier?« Hier gehörte ich hin.

Fast aufs Geratewohl fuhr ich im schwindenden Tageslicht durch den Nordosten Iowas. Alle paar Meilen begegnete mir ein Farmer auf einem Traktor, der zu einer der in den Hügeln über dem Mississippi verstreut liegenden Farmen ruckelte, wo das Abendessen wartete. Es war Freitag, einer der großen Tage im Alltag eines Farmers. Er würde sich gleich Arme und Hals waschen und sich dann zu seiner Familie an den mit großen Schüsseln beladenen Tisch setzen. Sie würden gemeinsam ein Tischgebet sprechen und sich nach dem Essen nach Hooterville aufmachen, um dort in der kalten Oktoberluft zu sitzen und durch ihren dampfenden Atem das Footballspiel zwischen den Hooterville High Blue Devils und Kraut City zu verfolgen, das mit einem triumphalen Sieg der Heimmannschaft enden würde. Drei der Touchdowns würde Merle Jr., der Sohn des Farmers, erzielen, woraufhin sich Merle Senior anschließend in Ed’s Tavern von der ganzen Gemeinde für die Tüchtigkeit seines Sohnes feiern lassen würde (zwei Bier, niemals mehr). Dann wäre es Zeit, nach Hause zu fahren und zu Bett zu gehen, denn am nächsten Morgen würde er in aller Frühe aufstehen und mit seinen besten Freunden, Ed, Art und Wally, in der frostigen Morgendämmerung zur Rotwildjagd aufbrechen. Gemeinsam würden sie durch die brachliegenden Felder stapfen und die gute Luft und ihr Beisammensein genießen. Plötzlich packte mich ein ungeheurer Neid auf diese Leute und ihre bescheidene Lebensweise. Es muss wunderbar sein, an einem sicheren und zeitlosen Ort zu leben, wo man jeden kennt und von jedem gekannt wird und wo sich einer auf den anderen verlassen kann. Ich beneidete sie um ihren Gemeinschaftssinn, um ihre Footballspiele, um ihre Basare und ihre geselligen Abende in der Kirchengemeinde. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, mich über sie lustig gemacht zu haben. Es waren gute Leute.

Ich fuhr durch die dichte Schwärze, vorbei an Millville, New Vienna, Cascade, Scotch Grove. Ab und zu strahlten die gelb erleuchteten Fenster eines entfernten Bauernhauses warm und einladend zu mir herüber. Manchmal erkannte ich von weitem eine größere Stadt, aus der eine weitaus stärkere Lichtquelle durch die Dunkelheit drang – das Footballstadion der Highschool, in dem gerade das Spiel der Woche in vollem Gange war. Diese Footballstadien erhellen die Nacht und sind meilenweit sichtbar. Hatte ich eine dieser Städte dann erreicht, waren die Straßen wie leer gefegt. All ihre Bewohner sahen sich das Spiel an. Abgesehen von einem Teenager, der einsam und verlassen im Dairy Queen hinterm Tresen stand und den großen Ansturm nach Spielende erwartete, war jedermann im Footballstadion. In Iowa könnte man während eines Footballspiels der Highschools mit einem Konvoi von Lastwagen anrücken und die Stadt ausplündern, man könnte die Bank aufsprengen und das Geld in Schubkarren abtransportieren, und niemand würde es merken. Aber auf solche Ideen kommt hier niemand, denn im ländlichen Iowa gibt es keine Kriminalität. In diesen Gegenden gilt es als Vergehen, das freitägliche Footballspiel zu versäumen. Schwerwiegendere Verbrechen finden nur im Fernsehen und in den Zeitungen statt und in einem weit entfernten, halb mystischen Land mit Namen The Big City.

Ursprünglich wollte ich bis Des Moines durchfahren, doch ich beschloss spontan, in Iowa City Zwischenstation zu machen. Iowa City ist eine Collegestadt, Sitz der University of Iowa, und ich hatte noch ein paar Freunde dort – Leute, die das College besucht hatten und später keine Veranlassung sahen weiterzuziehen. Als ich die Stadt erreicht hatte, war es fast zehn Uhr, und noch immer tummelten sich zechende Studenten in den Straßen. Aus einer Telefonzelle rief ich meinen alten Freund John Horner an, und wir verabredeten uns in der Fitzpatrick’s Bar. Ich hielt einen vorbeigehenden Schüler an und fragte ihn nach dem Weg zur Fitzpatrick’s Bar, aber er war so betrunken, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte, und glotzte mich nur benommen an. Er muss um die vierzehn Jahre alt gewesen sein. Dann wandte ich mich an eine Gruppe von Mädchen in ähnlich berauschtem Zustand und fragte sie, ob sie den Weg zur Bar kannten. Sie nickten alle und wiesen in die verschiedensten Himmelsrichtungen, woraufhin sie in hemmungsloses Gekicher ausbrachen. Sie torkelten vor mir herum wie Passagiere auf einem Schiff bei hohem Seegang. Auch sie waren nicht älter als vierzehn. »Geht’s euch Mädchen immer so gut?«, fragte ich.

»Nur bei homecoming«, antwortete eine von ihnen.

Ah, das war die Erklärung. Homecoming. Einer der gesellschaftlichen Höhepunkte eines Jahres am College. Die homecoming -Feierlichkeiten an amerikanischen Universitäten werden traditionsgemäß in drei Phasen zelebriert: 1. Man betrinkt sich hemmungslos; 2. man übergibt sich auf einem öffentlichen Platz; 3. man wacht auf, ohne zu wissen, wo man ist und wie man dort hingekommen ist, und trägt die Unterhosen verkehrt herum. Ich war offensichtlich irgendwo zwischen die Phasen eins und zwei geraten. Einige der besonders leidenschaftlich Feiernden waren bereits dazu übergegangen, Gossenlieder zu schmettern. Ich bahnte mir den Weg durch die torkelnde Menge und erkundigte mich immer wieder nach der Fitzpatrick’s Bar. Niemand schien von ihr gehört zu haben. Allerdings waren viele der Leute, an die ich geriet, wohl nicht mal mehr in der Lage, sich selbst in einem Raum voller Spiegel zu erkennen.

Schließlich stieß ich per Zufall auf die Bar. Wie alle Bars in Iowa City an einem Freitagabend war sie voll bis unters Dach, und jeder dort sah aus, als wäre er vierzehn Jahre alt. Nur einer nicht – mein Freund John Horner. Jedes seiner fünfunddreißig Lebensjahre stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nirgends fühlt man sich so schnell vor der Zeit gealtert wie in einer Collegestadt. Ich setzte mich zu ihm an die Bar. Er hatte sich nicht sehr verändert. Inzwischen war er Pharmazeut und ein respektables Mitglied der Gesellschaft, aber noch immer blitzte eine Spur von Wildheit in seinen Augen. Seinerzeit gehörte er zu den engagiertesten Drogenkonsumenten der Szene. Obwohl er es immer hartnäckig geleugnet hatte, wusste jeder, dass er sich nur aus einem Grund für das Studium der Pharmazie entschieden hatte: um in der Lage zu sein, exotische Mischungen halluzinogener Drogen zu kreieren. Wir waren seit Ewigkeiten befreundet, mindestens seit der ersten Klasse. Wir grinsten uns breit an, schüttelten uns die Hände und versuchten, uns zu unterhalten, doch es war so laut, dass wir nur zusehen konnten, wie sich der Mund des anderen bewegte. Bald gaben wir es auf, tranken stattdessen schweigend unser Bier, grinsten uns dumm an, wie man das so tut, wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat, und beobachteten die Leute um uns herum. Ich kam nicht darüber hinweg, wie jung und frisch sie alle wirkten. Alles an ihnen schien nagelneu und ungebraucht zu sein – ihre Kleidung, ihre Gesichter, ihre Körper. Als wir unsere Bierflaschen geleert hatten, verließen Horner und ich die Bar und gingen zu seinem Auto. Die frische Luft tat gut. Überall standen Leute gegen Gebäude gelehnt und erbrachen sich. »Hast du schon mal so viele kleine Idioten auf einmal gesehen?«, fragte mich Horner rhetorisch.

»Und sie sind alle erst vierzehn Jahre alt«, fügte ich hinzu.

»Physisch sind sie vierzehn Jahre alt«, korrigierte er mich, »aber emotional und intellektuell bewegen sie sich auf dem Niveau von Achtjährigen.«

»Waren wir auch so in diesem Alter?«

»Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Ich glaube nicht. Vielleicht war ich mal so dumm, aber so oberflächlich war ich nie. Diese Kids tragen Hemden mit angeknöpften Kragen und geben ihr Geld für Schuhe aus. Wenn man sie sieht, könnte man meinen, sie wären auf dem Weg zu einem Osmonds-Konzert. Und sie haben von nichts eine Ahnung. Da unterhältst du dich mit ihnen in einer Bar, und sie wissen nicht mal, wer als Präsident kandidiert. Und von Nicaragua haben sie noch nie was gehört. Es ist beängstigend.« Wir gingen nebeneinander her und dachten darüber nach, wie beängstigend es war. »Aber das ist noch nicht alles«, fügte Horner hinzu. Wir hatten sein Auto erreicht, und ich sah ihn über das Dach hinweg fragend an.

»Das Schlimmste ist, dass sie kein Dope rauchen. Kannst du dir das vorstellen?«

Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Studenten an der University of Iowa, die keine Drogen nahmen – das ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder Student hatte seine Gründe, warum er gerade auf diese Universität wollte, und Dope zu rauchen, rangierte bei jedem ganz oben auf der Liste. »Weshalb sind sie dann hier?«

»Sie kümmern sich um ihre Ausbildung«, klärte Horner mich auf und konnte es selbst kaum glauben. »Sie wollen Versicherungskaufleute und Programmierer werden. Das ist ihr sehnlichster Wunsch. Sie wollen eine Menge Geld verdienen, damit sie sich noch mehr teure Schuhe und Madonna-Alben kaufen können. Sie machen mir manchmal wirklich Angst.«

Wir stiegen in sein Auto und fuhren durch dunkle Straßen zu seinem Haus. Unterwegs erläuterte mir Horner, wie sehr sich die Stadt verändert hatte. Als ich Amerika verließ, um nach England zu gehen, lebten jede Menge Hippies in Iowa City. Auch wenn es noch so unwahrscheinlich klingen mag – die University of Iowa, inmitten all der Kornfelder, zählte jahrelang zu den radikalsten Universitäten des Landes und wurde in ihren besten Tagen nur von Berkeley und Columbia an Radikalität übertroffen. Professoren wie Studenten, alle waren sie Hippies, was nicht bedeutet, dass sie nichts als Drogen und Straßenschlachten im Sinn hatten. Es waren aufgeschlossene und intellektuelle Leute, die an der Politik Anteil nahmen und denen es nicht gleichgültig war, was aus dieser Welt werden würde. Horners Schilderungen legten die Vermutung nahe, dass sich die Bewohner von Iowa City inzwischen einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen hatten.

»Was ist denn passiert? fragte ich Horner, als wir es uns mit einem Bier in seinem Haus bequem gemacht hatten. »Warum haben sie sich so verändert?«

»Genau weiß ich das auch nicht«, antwortete er. »Ich schätze, der Hauptgrund ist, dass der Kampf gegen Drogen für die Reagan-Administration zur fixen Idee geworden ist. Sie unterscheiden nicht zwischen harten und weichen Drogen. Bist du ein Dealer und wirst mit Marihuana geschnappt, wanderst du genauso lange in den Bau, als wäre es Heroin. Also verkauft keiner mehr Marihuana. Alle, die es mal verkauft haben, sind zu Crack und Heroin übergegangen. Schließlich ist es dasselbe Risiko, aber es springt wesentlich mehr Geld dabei heraus.«

»Hört sich verrückt an«, sagte ich.

»Natürlich ist es verrückt!«, antwortete er und wurde ein wenig heftig. Dann beruhigte er sich wieder. »Viele Leute handeln heute überhaupt nicht mehr mit Marihuana. Kannst du dich an Frank Dortmeier erinnern?«

Frank Dortmeier war ein Typ, der säckeweise Drogen zu sich zu nehmen pflegte und Koks durch einen Gartenschlauch schnupfte. »Na klar«, sagte ich.

»Von ihm habe ich immer mein Marihuana bekommen. Dann trat dieses Gesetz in Kraft, dass jeder, der innerhalb von tausend Yards im Umkreis einer Schule Rauschgift verkauft und sich dabei erwischen lässt, für den Rest seines Lebens hinter Gitter wandert. Egal, ob du deiner eigenen Mutter einen kleinen Joint verkaufst oder dich auf die Stufen einer Schule stellst und das Zeug jedem Kind andrehst, das vorbeikommt – sie stecken dich bis in alle Ewigkeit in den Knast. Als dieses Gesetz also in Kraft trat, fing Dortmeier an, sich Sorgen zu machen, denn er wohnt in der Nähe einer Schule. Und als er eines Nachts im Schutz der Dunkelheit mit einem Maßband die Entfernung zwischen seinem Haus und dieser Schule ausmisst, stellt er fest, dass sie genau 997 Yards beträgt. Seitdem verkauft er kein Marihuana mehr.« Traurig trank Horner sein Bier. »Es ist wirklich frustrierend. Ich meine, hast du jemals versucht, in diesem Land ohne Dope fernzusehen?«

»Das muss hart sein«, stimmte ich zu.

»Dortmeier gab mir den Namen seines Lieferanten, damit ich es mir selbst besorgen konnte. Der Typ lebt in Kansas City. Das wusste ich überhaupt nicht. Ich fuhr also den ganzen Weg bis nach Kansas City, nur um ein paar Gramm Marihuana zu kaufen. Es war total verrückt. Überall in seinem Haus lagen Gewehre herum, und der Typ sah ständig aus dem Fenster, als würde er damit rechnen, dass die Polizei ihn jeden Moment auffordern würde, mit erhobenen Händen aus dem Haus zu kommen. Er war mehr oder weniger davon überzeugt, dass ich in Wahrheit ein Beamter des Rauschgiftdezernats bin. Da stand ich nun, ein fünfunddreißigjähriger Familienvater mit Collegebildung und respektablem Beruf, 180 Meilen von zu Hause entfernt und alles andere als sicher, dass ich hier mit heiler Haut wieder herauskommen würde, und all das nur, um mir ein bisschen von dem Zeug zu besorgen, das mich das amerikanische Fernsehen leichter ertragen lässt. Das Ganze war wirklich zu idiotisch. Das ist nur was für Leute wie Dortmeier, für Leute, die drogensüchtig sind und keinen Funken Verstand im Kopf haben.« Horner schüttelte die Bierdose an seinem Ohr, um herauszufinden, ob sie leer war, und sah mich dann an. »Hast du vielleicht zufällig ein bisschen Dope dabei?«

»Tut mir Leid, John«, sagte ich.

»Schade«, sagte Horner und verschwand in der Küche, um uns noch ein paar Bier zu holen.


Ich übernachtete in Horners Gästezimmer und stand morgens zusammen mit ihm und seiner sympathischen Frau in der Küche, trank Kaffee und plauderte, während um unsere Beine kleine Kinder herumwirbelten. Das Leben ist schon merkwürdig, dachte ich. Dass Horner eine Frau und Kinder hatte und einen Bauch und eine Hypothek und dass er sich wie ich der Klippe der mittleren Jahre näherte, all das war mir eigenartig fremd. Wir haben so viele Jahre unserer Kindheit und Jugend gemeinsam verbracht, dass ich wohl erwartet hatte, dieser Zustand würde ewig währen. Mit einigem Schrecken wurde mir bewusst, dass wir uns bei unserem nächsten Zusammentreffen vermutlich über Gallensteinoperationen und die jeweiligen Vorzüge der verschiedenen Doppelfenstermarken unterhalten würden. Bei dieser Vorstellung überkam mich eine tiefe Melancholie, die noch nicht verflogen war, als ich den Wagen von seinem Parkplatz in Downtown zurück auf den Highway lenkte.

Ich fuhr über die alte Route 6. Sie war früher die Hauptverkehrsstraße nach Chicago. Seit jedoch die Interstate 80 nur drei Meilen weiter südlich verläuft, ist sie so gut wie ausgestorben. Auf der gesamten Strecke begegnete mir kaum ein Auto. Anderthalb Stunden fuhr ich meiner Wege, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Ich wollte nichts als nach Hause, meine Mom sehen, duschen und für lange, lange Zeit kein Lenkrad mehr anfassen.

In der Morgensonne sah Des Moines wunderschön aus. Die Kuppel des State Capitol glänzte, und die Bäume waren noch voller Farbe. Die Stadt hat sich sehr verändert. In Downtown überragt heute ein modernes Gebäude das andere, und überall plätschern Brunnen. Ich muss schon die Straßenschilder zu Hilfe nehmen, um mich dort noch zurechtzufinden. Dennoch spürte ich, dass dies meine Heimat ist. Und so wird es hoffentlich immer bleiben. Ich fuhr durch die Stadt, glücklich, dort zu sein, und stolz dazuzugehören.

Auf der Grand Avenue, in der Nähe der Gouverneursvilla, erkannte ich plötzlich meine Mutter im Wagen vor mir. Offenbar hatte sie sich das Auto meiner Schwester geliehen. Ich erkannte sie daran, dass sie sinnlos nach rechts blinkte, während sie geradeaus die Straße entlangfuhr. Im Allgemeinen schaltet meine Mutter den Blinker ein, sobald sie aus der Garage gefahren ist, und lässt ihn dann für den Rest des Tages vor sich hin blinken. Ich habe sie oft darauf aufmerksam gemacht, bis mir schließlich klar wurde, dass die Sache eigentlich von Vorteil ist, denn auf diese Weise sind die übrigen Straßenverkehrsteilnehmer gewarnt, dass sie sich einem Fahrzeug nähern, dessen Fahrer möglicherweise nicht ganz Herr der Lage ist. Ich blieb hinter ihr. An der Thirty-First Street sprang der Blinker von der rechten auf die linke Seite des Wagens über – stimmt, das hatte ich vergessen, von Zeit zu Zeit wechselt sie die Seiten –, um während der letzten Meile die Thirty-First Street hinunter und den Elmwood Drive hinauf bis vor die Haustür fröhlich weiter links zu blinken.

Ich musste ein gutes Stück vom Haus entfernt parken. Trotz meiner kindlichen Ungeduld, meine Mutter wiederzusehen, nahm ich mir noch eine Minute Zeit, um die letzten Einzelheiten der Reise in mein Notizbuch einzutragen – ein Ritual, bei dem ich mir immer sehr wichtig und professionell vorkam. Ich fühlte mich wie der Pilot eines Jumbo-Jets am Ende eines Transatlantikfluges. Es war 10.38 Uhr. Seit ich vor vierunddreißig Tagen zu Hause abgefahren war, hatte ich 6842 Meilen zurückgelegt. Ich machte einen Kringel um diese Zahl, stieg aus dem Wagen, nahm meine Taschen aus dem Kofferraum und ging eilig zum Haus. Meine Mutter war schon drinnen. Ich konnte durch eines der Fenster sehen, wie sie in der Küche ihre Einkäufe auspackte und dabei vor sich hin murmelte. Sie murmelt ständig vor sich hin. Ich öffnete die Hintertür, ließ meine Taschen fallen und rief diese vier amerikanischsten aller Worte: »Hi, Mom, I’m home!«

Sie freute sich sichtlich, mich zu sehen. »Hallo, mein Schatz!«, sagte sie strahlend und umarmte mich. »Gerade habe ich mich gefragt, wann du dich hier wohl mal wieder blicken lässt. Soll ich dir ein Sandwich machen?«

»Das wär prima«, sagte ich, obwohl ich eigentlich keinen Hunger hatte. Es tat gut, wieder zu Hause zu sein.