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Um keine Zeit zu verlieren, fuhr ich auf die Interstate 26 und folgte ihr 200 Meilen quer durch South Carolina, quer durch eine Landschaft aus verschlafenen Tabakfeldern und lachsfarbener Erde. Meinem Reiseführer entnahm ich, dass ich mich nun nicht länger im Tiefen Süden befand, sondern die Staaten des Mittleren Atlantik erreicht hatte. An der Hitze und dem grellen Licht änderte das allerdings nichts, und auch die Menschen, die mir unterwegs an Tankstellen und in Cafés begegneten, sprachen mit dem Akzent der Südstaatler. Selbst die Sprecher im Radio klangen wie Südstaatler, sowohl durch das, was sie sagten, als auch durch die Art, wie sie es sagten. Ein Nachrichtensender berichtete, dass die Polizei von Spartanburg nach zwei schwarzen Männern fahnde, »die ein weißes Mädchen vergewaltigt« hätten. So etwas hört man wirklich nur im Süden.
Je mehr ich mich Columbia näherte, desto mehr Werbeschilder für Motels und Schnellrestaurants häuften sich in den Feldern entlang der Straße. Doch das waren nicht die gedrungenen, rechteckigen Reklametafeln meiner Jugend, mit verführerischen Illustrationen und dreidimensionalen Kühen. Das waren großflächige, unfreundliche Hinweisschilder, die auf den Spitzen von zwanzig Meter hohen Metallmasten thronten. Ihre Mitteilungen waren kurz und bündig. Sie wollten den Reisenden nicht mit etwas Unwiderstehlichem in Versuchung führen. Die Botschaften der alten Tafeln dagegen waren im Plauderton gehalten. Etwa so: LERNEN SIE DAS MODERNE SKYLINER MOTOR INN KENNEN UND LIEBEN. ENTSPANNEN SIE SICH IN UNSEREN NEUEN, SENSOMOTORISCH VIBRIERENDEN BETTEN. KINDER ZAHLEN DIE HÄLFTE. GRATIS-TV. ALLE ZIMMER MIT KLIMAANLAGE. EISWÜRFEL GRA-TIS. JEDE MENGE PARKPLÄTZE. HAUSTIERE WILLKOMMEN. JEDEN DIENSTAG VON 17.00–19.00 UHRALL-U-CAN-EAT BUFFET MIT ERLESENEN MEERESFRÜCHTEN. ALL-ABENDLICH BITTET DAS VERNON STURGES GUITAR OR-CHESTRAZUM TANZ. (BITTE – KEINE NEGER). Die alten Tafeln glichen riesigen Postkarten und lieferten nützliche Informationen. Man hatte etwas zum Lesen. Man erhielt ein wenig Stoff zum Nachdenken und nebenbei einen winzigen Einblick in die Kultur der Region. Seit damals muss sich die Menge der Passanten erheblich verringert haben. Die modernen Schilder informierten lediglich über den Namen des Unternehmens und gaben eine knappe Wegbeschreibung. Schon aus meilenweiter Entfernung konnte man sie entziffern: HOLIDAY INN, AUSFAHRT 26E, 4 MEILEN. Manchmal waren die Instruktionen ausführlicher: BURGER KING 31 MEILEN. AUSFAHRT 17B. 5 MEILEN BIS US 49 SOUTH. AN DER AMPEL RECHTS. 2 1/2 MEILEN IN RICHTUNG WESTEN, AM FLUGHAFEN VORBEI. Wer fährt einen solchen Umweg, um einen Whopper zu essen? Doch die Schilder taten ihre Wirkung, kein Zweifel. Hat man nach Stunden untätigen Autofahrens ein Stadium trägen Stumpfsinns erreicht und sieht dann, von Hunger und Fettmangel gepeinigt, das Schild MCDONALD’S NÄCHSTE AUSFAHRT, lenkt man den Wagen fast unweigerlich auf die Abbiegespur und folgt den Hinweisschildern, bis man sich vor einem dieser Plastiktische wiederfindet. Wie oft war mir das in den letzten Wochen passiert! Wie oft saß ich dann vor einer kleinen Schachtel mit einem Cheeseburger darin, den ich eigentlich gar nicht wollte, und das nur, weil ich instinktiv einem dieser Schilder gehorcht hatte!
An der Staatsgrenze von North Carolina änderte sich die Landschaft schlagartig. Wie von bundesstaatlicher Seite verordnet, endete die Einöde, und das Land hob und senkte sich in stetem Wechsel. Ein Dickicht aus Lorbeer, Rhododendronbüschen und Palmetto breitete sich über die Hügellandschaft. Auf jeder Erhebung weitete sich das Land und die von Dunst umhüllten Blue Ridge Mountains, Ausläufer der Appalachen, kamen zum Vorschein. Die Appalachen erstrecken sich über 2100 Meilen von Alabama bis nach Kanada und waren einst höher als der Himalaya (jahrelang habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, dieses Wissen, das ich auf einem Streichholzheftchen gelesen hatte, anwenden zu können). Im Laufe der Erdgeschichte hat die Gebirgskette an Mächtigkeit verloren und wirkt heute eher idyllisch als dramatisch. Jeder Gebirgszug der Appalachen hat seinen eigenen Namen – Adirondacks, Poconos, Catskills, Alleghenies. Ich fuhr in Richtung Smokies, wollte aber unterwegs am Biltmore Estate bei Asheville, North Carolina, einen Zwischenstopp einlegen.
Biltmore ein im Stil eines Loire-Châteaus erbautes Schloss mit 255 Zimmern auf einem über 4000 Hektar großen Gelände – war 1895 von George Vanderbilt errichtet worden und zählte einmal zu den größten Bauwerken Amerikas. Hatte man das Biltmore-Gelände erreicht, wurde man angewiesen, sein Auto zu parken und sich anschließend in ein Gebäude am Eingang zu begeben, um das Eintrittsgeld zu entrichten. Das kam mir merkwürdig vor, bis ich zu ahnen begann, dass ein Nachmittag in Biltmore ein kostspieliges Vergnügen sein würde. Angaben über die Höhe der Eintrittspreise waren nirgends zu entdecken, doch den kreidebleichen Gesichtern der Leute, die mit der Eintrittskarte in der Hand von der Kasse kamen, konnte ich entnehmen, dass sie horrend sein mussten. Trotz all dieser Alarmsignale traf mich fast der Schlag, als ich an der Reihe war und die unsympathische Kassiererin mir mitteilte, Erwachsene hätten 17,50 Dollar und Kinder 13 Dollar Eintritt zu zahlen. »Siebzehn Dollar und fünfzig Cents!«, kreischte ich. »Inklusive Abendessen und Galakonzert?«
Die Frau war offensichtlich an hysterische Anfälle und bissige Bemerkungen gewöhnt. Mit monotoner Stimme ließ sie verlauten: »Die Eintrittsgebühr berechtigt zum Besuch des George-Vanderbilt-Hauses, von dessen 250 Räumen fünfzig der Öffentlichkeit zugänglich sind. Für eine Besichtigung sollten Sie sich zwei bis drei Stunden Zeit nehmen. In der Gebühr enthalten ist außerdem ein Rundgang durch die weitläufigen Gärten, der etwa eine halbe bis eine Stunde in Anspruch nimmt. Ebenfalls enthalten ist eine Führung durch die Weinkellerei mit audiovisueller Präsentation und Weinprobe. Wir empfehlen eine Führung über das gesamte Gelände, die wir gegen eine Zusatzgebühr gern für Sie arrangieren. Sollten Sie anschließend den Wunsch verspüren, Ihr Geld weiterhin zum Fenster hinauszuwerfen, steht Ihnen unser Deerpark-Restaurant zur Verfügung. Dem preisbewussteren Gast empfehlen wir das Stable Café. Schließlich haben Sie im Carriage House Gift Shop Gelegenheit, überteuerte Geschenke und Andenken zu erwerben.«
Doch da war ich schon wieder auf dem Highway, unterwegs in Richtung Great Smoky Mountains, die glücklicherweise keinen Eintritt kosteten.
Ich fuhr einen Umweg von zehn Meilen, um die Nacht in Bryson City zu verbringen – zweifellos eine gemäßigte Form der Selbstbeweihräucherung. Bryson City war ein kleiner unscheinbarer Ort voller Motels und billiger Grillrestaurants, in einer schmalen Flussniederung am Rande des Great Smoky Mountains National Park gelegen. Wer nicht zufällig selbst Bryson heißt, kann sich diesen Abstecher getrost sparen. Aber auch wenn man Bryson heißt, hält sich das Vergnügen in Grenzen, glauben Sie mir. Ich nahm ein Zimmer im Bennett’s Court Motel, ein wundervolles altes Haus, in dem sich seit 1956 absolut nichts verändert zu haben schien. Vielleicht hatte man gelegentlich ein bisschen staubgewischt. Es war eines dieser Motels, wie ich sie von früher kannte. Die Zimmer lagen entlang einer überdachten Veranda mit Blick auf eine Wiese mit zwei Bäumen und einen winzigen Swimmingpool aus Beton, der zu dieser Jahreszeit leer war, von ein paar feuchten Blättern und einem genervten Frosch einmal abgesehen. Neben jeder Tür stand ein Stuhl aus Metall mit bogenförmiger Rückenlehne. Über dem Gehsteig hing ein altes Neonschild mit den Worten BENNET’S COURT / ZIMMER FREI / KLIMAANLAGE / GÄSTEPOOL / TV, die Schrift in Grün und Pink, darunter ein blinkender Pfeil in geschmackvollem Gelb. Man konnte hören, wie das Neongas hineinströmte. Als ich klein war, hatten alle Motels solche Schilder. Heute sieht man sie nur noch hin und wieder in entlegenen Kleinstädten am Rande von Nirgendwo. Bennet’s Court war eindeutig das geeignete Motel für Amalgam.
Ich brachte mein Gepäck aufs Zimmer, probierte das Bett aus und schaltete den Fernseher ein. Sofort erschien ein Werbespot für Preparation H, eine Salbe gegen Hämorrhoiden. Der Ton war eindringlich. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht erinnern, aber es klang ungefähr so: »Hallo, Sie da! Haben Sie Hämorrhoiden? Dann nehmen Sie Preparation H! Das ist ein Befehl! Merken Sie sich den Namen, Sie vergesslicher Idiot! Preparation H! Und auch wenn Sie keine Hämorrhoiden haben, besorgen Sie sich trotzdem Preparation H! Man kann nie wissen!« Dann fügte eine andere Stimme flink hinzu: »Jetzt auch mit Kirschgeschmack erhältlich.« Nachdem ich so lange im Ausland gelebt hatte, war ich an die in Amerika üblichen aggressiven Verkaufstaktiken nicht mehr gewöhnt. Ich fühlte mich unbehaglich dabei. Außerdem verunsicherte mich, dass amerikanische Fernsehsender übergangslos zwischen Werbung und Programm hin und her schalten. Da verfolgt man gebannt, wie Kojak Verbrecher jagt, und mitten in einer wilden Schießerei beginnt jemand, eine Toilettenschüssel zu scheuern. Bis einem klar wird, dass es sich um einen Werbespot handelt, vergehen einige Sekunden, in denen man keine Ahnung hat, was zum Teufel da los ist. Und nun würden sie minutenlang Werbung zeigen. Während einer Werbepause des amerikanischen Fernsehens kann man Zigaretten holen gehen, eine komplette Pizza verdrücken und hat, bis die Sendung fortgesetzt wird, immer noch Zeit genug, seine Toilettenschüssel zu scheuern.
Die Preparation-H-Werbung wurde ausgeblendet, und den Bruchteil einer Sekunde später, bevor der Zuschauer noch Gelegenheit hatte zu entscheiden, ob er nicht lieber auf einen anderen Kanal umschalten wollte, tauchte ein applaudierendes Publikum auf dem Bildschirm auf. Man hörte das muntere Geklimper von Hawaii-Gitarren und sah glückliche, festlich gekleidete Menschen mit leichtem Dachschaden. Die Sendung hieß Grand Ole Opry. Je länger ich den Gesängen und Späßen lauschte, desto tiefer sank mir in einer Art stumpfsinnigen Staunens die Kinnlade auf die Brust. Mir war, als wäre ich Zeuge einer Gehirnoperation. Haben Sie jemals ein Kind beim Spielen beobachtet und sich dabei die Frage gestellt, was wohl in seinem kleinen Kopf vorgehen mag? Dann sehen Sie sich irgendwann einmal fünf Minuten lang diese Sendung an, und Sie werden beginnen zu verstehen.
Wenige Minuten später riss mich die nächste Werbesendung aus meinem Dämmerzustand. Ich schaltete den Fernseher ab und machte mich auf den Weg, um Bryson City zu erkunden. Es gab mehr zu sehen, als ich erwartet hatte. Hinter dem Gerichtsgebäude entdeckte ich ein kleines Geschäftsviertel und stellte mit Genugtuung fest, dass fast jedes Unternehmen ein »Bryson City« in seinem Namen führte. Da gab es die Bryson-City-Wäscherei, die Bryson-City-Kohle- und Holzgesellschaft, die Bryson City Church of Christ, Bryson City Electronics, die Bryson-City-Polizei, die Bryson-City-Feuerwehr, das Bryson-City-Postamt. Allmählich wurde mir klar, was George Washington empfinden müsste, wenn er heute von den Toten auferstehen und in den District of Columbia zurückkehren würde. Ich weiß nicht, wer der Bryson war, den diese Stadt so offenkundig ehrte; ich kann nur sagen, dass ich noch nie einen Ort gesehen habe, in dem mein Name so allgegenwärtig war. Ich bedauerte, weder ein Brecheisen noch einen Schraubenschlüssel zur Hand zu haben, denn viele Schilder hätten erstklassige Souvenirs abgegeben. Besonders gut gefiel mir das Schild der Bryson City Church of Christ, das ich gern neben meine Haustür in England gehängt hätte und dazu wöchentlich eine andere Botschaft, wie etwa »Die Zeit der Reue ist gekommen, o Engländer.«
Es dauerte nicht lange, und das Unterhaltungsangebot von Downtown Bryson City war erschöpft. Fast ohne es zu merken, befand ich mich wieder auf dem Highway und marschierte stadtauswärts in Richtung Cherokee, der nächsten Stadt in der Tiefebene. Ich folgte ihm ein Weilchen, doch außer heruntergekommenen Tankstellen und Imbissbuden gab es nichts zu sehen. Die Straße hatte so gut wie keinen Seitenstreifen, auf dem ich hätte laufen können, so dass die Autos im Abstand von wenigen Zentimetern an mir vorbeisausten und der Fahrtwind beängstigend an meiner Kleidung zerrte. Entlang der Straße standen Tafeln und handgeschriebene Schilder und priesen den Herrn: HALTET EUER LEBEN FEST – LOBET JESUS CHRISTUS, GOTT LIEBT DICH, AMERIKA, oder noch unergründlicher: WAS, WENN DU MORGEN STIRBST? (Na ja, dachte ich, dann zahlt wahrscheinlich niemand die Raten für die Tiefkühltruhe.) Ich kehrte um und ging in die Stadt zurück. Es war 17.30 Uhr, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, womit ich mir in Bryson City die Zeit vertreiben sollte.
Am Ufer des rauschenden Flusses erspähte ich einen A&P-Supermarkt. Er schien geöffnet zu haben. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, schlenderte ich darauf zu. Auch früher habe ich häufig die Zeit in Supermärkten totgeschlagen. Als wir ungefähr zwölf Jahre alt waren – und dermaßen unausstehlich, dass es eine wahre Wohltat gewesen wäre, uns ein tödliches Gift zu injizieren –, gingen Robert Swanson und ich im Sommer oft in den Hinky-Dinky-Supermarkt an der Ingersoll Avenue in Des Moines. Dort gab es nämlich eine Klimaanlage. Wir stellten Dinge an, für die ich mich heute schäme. Wir öffneten die Unterseiten von Mehltüten und beobachteten, wie sich das Mehl über den Boden ergoss, wenn eine Frau die Tüte nichts ahnend aus dem Regal nahm, oder mischten seltsame Artikel wie Goldfischfutter und Brechmittel unter die Lebensmittel in den Einkaufswagen der Leute, sobald die uns den Rücken kehrten. Ich hatte nicht die Absicht, derartigen Unfug nun bei A&P zu treiben – vorausgesetzt, ich würde mich dort nicht allzu sehr langweilen. Ich hoffte lediglich, es könnte irgendwie tröstlich sein, an einem Ort wie diesem auf Nahrungsmittel aus meiner Jugendzeit zu stoßen. Und das war es auch. Es war fast, als träfe ich alte Freunde wieder – Skippy-Erdnussbutter, Pop-Obsttörtchen, Welch’s Grapefruitsaft, Sara-Lee-Kuchen. Ich wanderte durch die Gänge und stieß beim Anblick altbekannter Lebensmittel leise Freudenschreie aus. Das Ganze heiterte mich unvorstellbar auf.
Dann fiel mir plötzlich etwas ein. Vor Monaten, noch in England, war mir im New York Times Magazine eine Werbung für Slipeinlagen aufgefallen. Diese Slipeinlagen hatten Vertiefungen, die ihrerseits einen eigenen, als Warenzeichen eingetragenen Namen hatten. Das fand ich bemerkenswert. Können Sie sich vorstellen, Ihren Lebensunterhalt mit dem Erfinden eingängiger Namen für die Vertiefungen einer Slipeinlage zu verdienen? Leider konnte ich mich nicht an den Namen erinnern. Die Langeweile trieb mich also in die Abteilung für Slipeinlagen, wo ich vor einem erstaunlich vielfältigen Angebot stand. Eine so umfangreiche Auswahl hatte ich nicht erwartet. Wer hätte gedacht, dass in Bryson City so viele Damenslips des Schutzes bedurften. Bisher hatte ich diesem Thema kaum Beachtung geschenkt, doch nun war mein Interesse geweckt.
Ich weiß nicht, wie lange ich in den Regalen herumgestöbert und die Gebrauchsanweisungen der verschiedenen Marken studiert habe. Vermutlich eine ganze Weile. Vielleicht hatte ich sogar angefangen, mit mir selbst zu reden, wie ich das manchmal tue, wenn ich mit Herz und Seele bei der Sache bin. Als ich dann jedenfalls auf eine Packung New Freedom Thins mit Funnel-Dot Protection™ stieß und mir im Triumph der Ausruf »Aha! Hab ich euch endlich, ihr kleinen Scheißdinger!« entwich, sah ich im Augenwinkel., wie mich der Manager und zwei Verkäuferinnen vom anderen Ende des Ganges beobachteten. Mir stieg die Schamröte ins Gesicht. Ungeschickt stopfte ich die Packung ins Regal zurück. »Ich seh mich nur um!«, brachte ich wenig überzeugend heraus und hoffte, einen nicht allzu gemeingefährlichen oder geisteskranken Eindruck zu machen. Schleunigst begab ich mich in Richtung Ausgang. Mir fiel ein, dass ich einige Wochen zuvor im The Independent (die lebendigste der seriösen Tageszeitungen Großbritanniens – Sie sollten umgehend ein Exemplar anfordern!) gelesen hatte, dass Heterosexuellen in zwanzig US-amerikanischen Staaten, die meisten davon im Tiefen Süden, jeglicher Oral-oder Analverkehr bis heute per Gesetz verboten ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich hatte nichts dergleichen im Sinn. Ich will damit vielmehr sagen, dass man in einigen dieser Orte mit einer verbissenen Intoleranz in sexuellen Dingen rechnen muss. Demnach war nicht auszuschließen, dass dort auch Gesetzesparagrafen existierten, die den gesetzwidrigen Umgang mit Slipeinlagen unter Strafe stellten. In einem Teil der Welt wie North Carolina konnte ich wegen fahrlässiger Perversion ohne weiteres fünf bis zehn Tage in den Knast wandern. Umso glücklicher war ich, als ich, ohne von den Behörden abgefangen zu werden, mein Motel erreichte. Während der restlichen Zeit meines kurzen Aufenthaltes in Bryson City verhielt ich mich äußerst umsichtig.
Der Great Smoky Mountains National Park bedeckt eine Fläche von über 200 000 Hektar in North Carolina und Tennessee. Erst seitdem ich dort war, weiß ich, dass er der beliebteste aller amerikanischen Nationalparks ist. Jedes Jahr lockt er neun Millionen Besucher an, dreimal mehr als jeder andere Nationalpark. Selbst früh an diesem Sonntagmorgen im Oktober wimmelte es von Menschen. Entlang der Straße von Bryson City nach Cherokee am Rande des Parks lagen Motels, heruntergewirtschaftete Autowerkstätten, Stellplätze für Lkw-Anhänger und Imbissbuden über das Ufer des funkelnden Flusses verteilt. Zu beiden Seiten stiegen dunkel die Berge auf. Früher einmal muss es hier sehr schön gewesen sein, jetzt war es schmutzig und verwahrlost. Noch schlimmer war Cherokee selbst. Die Stadt liegt im größten Indianerreservat in der Osthälfte der Vereinigten Staaten und war voll gestopft mit Souvenirläden, die billigen Indianerschmuck feilboten. Auf den Dächern und an den Wänden stand unübersehbar zu lesen MOKASSINS! INDIANI-SCHER SCHMUCK! TOMAHAWKS! GESCHLIFFENE EDEL-STEINE! SCHEISSE ALLER ART! Vor einigen Läden hockte ein Braunbär in einem Käfig – das Maskottchen der Cherokee, wie ich vermutete. Rund um jeden Käfig hatten sich kleine Jungs versammelt und versuchten unter den Anfeuerungsrufen ihrer Väter, das Tier zu reizen, bis es einen Beweis seiner Wildheit zum Besten gab. In anderen Laden konnte man sich für fünf Dollar zusammen mit einem echten, aufgedunsenen und verkaterten Cherokee-Indianer in Kriegsaufmachung fotografieren lassen, was bei den Besuchern allerdings auf wenig Interesse zu stoßen schien, so dass die indianischen Fotomodelle zusammengesunken auf ihren Stühlen saßen und ebenso teilnahmslos wirkten wie die Bären. Soweit ich mich erinnern kann, bin ich niemals in einem auch nur annähernd so hässlichen Ort wie diesem gewesen. Doch auch hier traten sich die Touristen gegenseitig auf die Füße, und fast alle waren sie so unschön wie der Ort – fette, in schreienden Farben gekleidete Menschen, vor deren Bäuchen Kameras baumelten. Wie kommt es nur, dass alle Touristen fett sind und sich wie Schwachköpfe kleiden, fragte ich mich, während ich den Wagen durch die Menschenmenge lenkte.
Noch bevor ich mich eingehender mit dieser Frage beschäftigen konnte, war ich aus Cherokee heraus und im Nationalpark, und all die grellen Farben lagen hinter mir. In Amerika überlässt man das Land innerhalb eines Nationalparks den Kräften der Natur. So entsteht eine Wildnis – eine oft erzwungene Wildnis. Anders als in Großbritannien sind amerikanische Nationalparks unbewohnt. Einst waren die Smoky Mountains von Hinterwäldlern bevölkert. Sie lebten in Hütten in entlegenen Senken hoch oben in den Wolken. Als man das Land unter Naturschutz stellte, mussten sie das Gebiet räumen, so dass die Region heute frei von jeder menschlichen Behausung ist. Statt die traditionelle Lebensweise zu erhalten, machte die Parkverwaltung ihr den Garaus. Die enteigneten Hinterwäldler zogen in die Städte am Rande des Parks, lebten vom Verkauf minderwertiger Souvenirs und trugen entscheidend dazu bei, dass die Städte verwahrlosten. Dies scheint mir eine sehr fragwürdige Art, Probleme zu lösen. Einige der Hütten wurden als Museumsstücke konserviert. Ein solches Museumsstück befand sich in unmittelbarer Nähe des Visitors’ Centres am Parkeingang. Ich stellte den Wagen ab und sah mir die Hütte an. Sie unterschied sich nicht im Geringsten von den Hütten in New Salom, Illinois – das Dorf, in dem Lincoln gelebt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ich unter einer Überdosis Blockhütten litt, doch je mehr ich mich der Hütte näherte, desto deutlicher spürte ich die ersten Anzeichen einer schmerzhaften Entzündung der Gehirnnerven. Daher trat ich umgehend den Rückzug zum Auto an.
Die Smoky Mountains selbst waren ein Genuss. Es war ein perfekter Oktobermorgen. Die Straße führte steil bergauf, durch dichte, von Sonnenlicht gefleckte Laubwälder, durchzogen von Bächen und Pfaden, um dann in luftiger Höhe den Blick auf die atemberaubende Gebirgslandschaft freizugeben. Überall entlang der Straße durch den Park hatte man Parkbuchten angelegt. Dort konnte man das Auto abstellen und mit Ausrufen wie »Ooh!« und »Wow!« seiner Verzückung angesichts des Panoramas Ausdruck verleihen. Alle Aussichtspunkte waren nach Gebirgspässen benannt, deren Namen eher nach Appartementhäusern für Yuppies klangen – Pigeon Gap, Cherry Cove, Wolf Mountain, Bear Trap Gap. Die Luft war klar und dünn, und die Sicht reichte bis zum Horizont. Bis weit in die Ferne türmten sich die Berge und gingen von saftigem Grün und dunklem Blau allmählich in dunstiges Grau über. Vor mir lag ein Meer aus Bäumen – so jungfräulich wie eine Landschaft in Kolumbien oder Brasilien. In dieser wogenden Weite deutete nichts auf die Anwesenheit des Menschen hin. Es gab keine Städte, keine Wassertürme, keine Rauchfahnen über entlegenen Gehöften. Nur unendliche Ruhe unter einem strahlenden Himmel. Eine einsame Kumuluswolke bauschte sich in weiter Ferne und ließ ihren Schatten über einen Berg wandern.
Der Oconaluftee Highway durchquert den Park auf einer Länge von nur dreißig Meilen, windet sich aber so steil und kurvenreich durch die Berge, dass die Fahrt den ganzen Vormittag dauerte. Gegen 10.00 Uhr strömte der Verkehr in beiden Richtungen bereits ununterbrochen. An den Aussichtspunkten einen freien Parkplatz zu finden, wurde immer schwieriger. Dies war mein erster ernsthafter Zusammenstoß mit echten Touristen – Rentner mit ihren Wohnwagen auf dem Weg nach Florida, junge Familien, die nicht an die Schulferien gebunden waren, Hochzeitsreisende. Mir begegneten Pkw’s und Wohnwagen, Wohnmobile und Motor Homes aus Tausenden von Meilen entfernten Staaten – aus Kalifornien, Wyoming, British Columbia. Und an jedem Aussichtspunkt scharten sich die Leute um ihre Fahrzeuge, sperrten Türen und Kofferräume auf und verzehrten den Inhalt ihrer Kühltaschen oder tragbaren Kühlschränke. Alle paar hundert Meter parkte ein wuchtiges Winnebago oder Komfort-Motor-Home – komplette Eigenheime auf Rädern, die gleich drei Parkplätze füllten und so weit auf die Fahrbahn ragten, dass sich die ankommenden Autos nur mit Mühe an ihnen vorbeizwängen konnten.
Die ganze Zeit hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass hier irgendetwas fehlte. Schließlich kam ich drauf. Es gab keine Wanderer, wie man sie in England treffen würde – in kurzen Hosen, mit festem Schuhwerk, knielangen Strümpfen mit Troddeln daran und kleinen Rucksäcken voller Marmite Sandwiches und mit Tee gefüllten Thermosflaschen. Auch die Pulks von Radfahrern in hautenger Kleidung, die sich keuchend über die Berghänge quälten und den Verkehr aufhielten, gab es hier nicht. In den Smoky Mountains waren es die klobigen Motor Homes, die den Verkehr aufhielten. Einige zogen einen an ihrer Stoßstange vertäuten Pkw wie ein Beiboot hinter sich her. Ein solches Gefährt hatte ich auf der gesamten Strecke die Berge hinunter bis weit hinter die Grenze von Tennessee vor mir. Es war so breit, dass der Fahrer es kaum in der Spur halten konnte. Ständig drohte es, entgegenkommende Fahrzeuge in die malerischen Abgründe links der Straße zu stupsen.
So sieht heutzutage leider für viele Menschen der Ferienalltag aus. Dahinter steckt das Prinzip, sich allzeit und allerorten mit dem gewohnten Komfort zu umgeben – und so wenig frische Luft wie möglich zu atmen. Wen die Reiselust packt, der klettert in seinen dreizehn Tonnen schweren Blechpalast, fährt 400 Meilen quer durchs Land, hermetisch abgeriegelt von den Naturelementen, und steuert einen Campingplatz an, wo er als Erstes sein fahrbares Heim an das Stromnetz und die Wasserversorgung anschließt, um nur nicht eine Minute länger als nötig ohne Klimaanlage, ohne Geschirrspüler oder Mikrowelle auskommen zu müssen. Diese rollenden Eigenheime sind wie Lebenserhaltungssysteme auf Rädern. Astronauten fliegen mit weniger überlebenstechnischen Hilfsmitteln zum Mond. Die Besitzer von Wohnmobilen vertreten einen anderen, in dieser Hinsicht meistens noch verrückteren Menschenschlag. Wie besessen statten sie ihr Fahrzeug mit den verschiedensten Vorrichtungen aus, um gegen alle erdenklichen Eventualitäten gewappnet zu sein. Ihr Leben wird mehr und mehr von dem Furcht erregenden Gedanken beherrscht, sie könnten eines Tages in eine Notsituation geraten und nicht in der Lage sein, sich ohne fremde Hilfe aus ihr zu befreien. Vor Jahren wollte ich zusammen mit einem Freund zwei Tage am Lake Darling in Iowa zelten. Bevor wir aufbrechen konnten, versuchte der Vater meines Freundes – begeisterter Besitzer eines Wohnmobils –, uns hartnäckig die verschiedensten hilfreichen Dinge aufzudrängen. »Ich habe hier einen famosen, kleinen Solardosenöffner«, sagte er. »Wollt ihr den nicht mitnehmen?«
»Nein danke. Wir sind ja nur zwei Tage weg«, entgegneten wir.
»Wie wär’s denn mit dieser Kombination aus Taschenlampe und Tranchiermesser? Ihr könnt das Gerät am Zigarettenanzünder im Auto anschließen und damit SOS blinken, wenn ihr euch in der Wildnis mal verfahren solltet.«
»Nein danke.«
»Dann nehmt wenigstens diese batteriebetriebene Mikrowelle mit.«
»Nein, wirklich, wir brauchen nichts.«
»Und wie zum Teufel wollt ihr euch da draußen, am Arsch der Welt, Popcorn machen? Habt ihr euch darüber mal Gedanken gemacht?«
Ein ganzer Industriezweig lebt von diesem Absatzmarkt (und die New Yorker Zwingle Company mischt dabei zweifellos kräftig mit). Auf den Campingplätzen des ganzen Landes sieht man diese Leute um ihre Fahrzeuge stehen, eifrig damit beschäftigt, ihre neuesten Errungenschaften zu vergleichen – von Methangas betriebene Eiswürfelmaschinen, tragbare Tennisplätze, insektenvernichtende Flammenwerfer, aufblasbare Rasenflächen. Es sind merkwürdige und gefährliche Menschen, um die man einen großen Bogen machen sollte.
Am Fuß der Berge endete der Nationalpark, und sofort bot das Land wieder einen verwahrlosten Anblick. Einmal mehr verblüffte mich diese Zweiteilung, die man in Amerika praktizierte – auf der einen Seite verbietet man innerhalb eines Nationalparks jeglichen Kommerz, während man tatenlos zusieht, wie vor seiner Haustür die hemmungslose Profitgier wütet, obwohl die Landschaft dort nicht weniger reizvoll sein mag. Amerika hat bis heute nicht begriffen, dass man an einem Ort leben kann, ohne ihn zu verunstalten, dass die Schönheit der Natur nicht hinter Zäune gehört, als wäre ein Nationalpark so etwas wie ein Zoo.
Im Laufe der Fahrt nahm die Hässlichkeit ungeahnte Ausmaße an. Ich erreichte Gatlinburg, eine Gemeinde, die sich offensichtlich zum Ziel gesetzt hatte, alle Rekorde des schlechten Geschmacks zu brechen. Ich befand mich in der Welthauptstadt der Scheußlichkeiten. Cherokee war dagegen geradezu manierlich. Die Stadt bestand aus wenig mehr als einer einzigen meilenlangen Hauptstraße, von vorne bis hinten voll gestopft mit einer verschwenderischen Fülle von Touristenattraktionen. Hier stand alles beieinander – die Elvis Presley Hall of Fame, das Stars Over Gatlinburg Wax Museum, zwei Spukhäuser, das National Bible Museum, das Hillbilly Village, Ripley’s Believe It or Not Museum, das American Historical Wax Museum, etwas Undefinierbares mit dem Namen Paradise Island, etwas noch Undefinierbareres mit dem Namen World of Illusions, die Bonnie Lou And Buster Country Music Show, Carbo’s Police Museum (»mit ›Walking Tall‹, dem Todesauto von Sheriff Buford Pusser«), das Guinness Book of Records Exhibition Centre und, nicht zu vergessen, das Irlene Mandrell Hall of Stars Museum und Einkaufszentrum. Unter das Riesenaufgebot an Attraktionen mischten sich Dutzende von Parkplätzen, laute, überfüllte Restaurants, Fastfood-Stände, Eisdielen und jede Menge Souvenirläden, in denen man Poster mit der Aufschrift WANTED erstehen konnte, um dann seinen eigenen Namen darauf zu setzen, oder lustige Baseballmützen mit einem echt wirkenden Plastikfäkalienkringel auf dem Schirm. Scharen übergewichtiger Touristen in schriller Kleidung, mit vor den Bäuchen baumelnden Kameras, schoben sich gemächlich die Straße entlang, schleckten Eiskrem, Zuckerwatte oder Maiskolben und manchmal auch alles auf einmal. Und auf den Schirmen ihrer Baseballmützen wippte keck ein Plastikkringel.
Ich fand’s herrlich. Früher sind wir nie in Städte wie Gatlinburg gefahren. Mein Vater hätte sich eher einer Gehirnoperation mit einer Black-&-Decker-Schlagbohrmaschine unterzogen, als eine Stunde an einem solchen Ort zu verbringen. Um seinen Ansprüchen gerecht zu werden, musste ein Ferienvergnügen zwei Voraussetzungen erfüllen: Es musste pädagogisch wertvoll sein und durfte nichts kosten. Auf Gatlinburg traf weder das eine noch das andere zu. Die idealen Sehenswürdigkeiten waren für ihn Museen mit freiem Eintritt. Mein Dad war der anständigste Mensch, der mir je begegnet ist, aber in den Ferien machten seine Prinzipien ihn blind. Nur um einen Dollar Eintrittsgeld zu sparen, behauptete er noch immer hartnäckig, ich wäre acht Jahre alt, als mein Gesicht schon von Pickeln übersät war und an meinem Kinn die ersten Stoppeln wuchsen. Im Urlaub war er so übertrieben knauserig, dass es mich jedes Mal wunderte, dass er uns nicht zu irgendwelchen Abfalleimern auf Nahrungssuche schickte, wenn uns der Magen knurrte. Daher empfand ich Gatlinburg als berauschendes Erlebnis. Ich fühlte mich wie ein Priester, den man in Las Vegas mit den Taschen voller Vierteldollarmünzen auf die Menschheit loslässt. All die Geräusche, all der Glamour und vor allem die Tausenden von Möglichkeiten, innerhalb kürzester Zeit Unmengen von Geld zu verjubeln, versetzten mich in einen wahren Rauschzustand.
Ich bahnte mir den Weg durch die Menschenmenge und blieb zögernd vor dem Eingang von Ripley’s Believe It Or Not Museum stehen. Während ich mir die Plakate ansah, spürte ich förmlich, wie mein Vater in seinem tausend Meilen entfernten Grab unruhig wurde. Den Plakaten entnahm ich, dass es hinter den Mauern dieses Museums einen Mann zu bestaunen gab, in dessen Mund drei Billardkugeln gleichzeitig hineinpassten. Außerdem wartete ein Kalb mit zwei Köpfen, ein menschliches Einhorn und Hunderte ebenso faszinierender Absonderlichkeiten auf den Besucher. Der unermüdliche Robert Ripley hatte sie aus allen Teilen der Welt zusammengetragen und zur Freude kultivierter Touristen wie mich nach Gatlinburg geschafft. Der Eintritt betrug fünf Dollar. Als ich meine Brieftasche zückte, begann mein Vater, sich vor lauter Empörung im Grabe umzudrehen. Während ich dann eine Fünfdollarnote herauszog und sie mit schuldbewusster Miene der unsympathischen Kassiererin überreichte, rotierte er bereits mit Schwindel erregender Geschwindigkeit. »Verflixt nochmal«, dachte ich, als ich das Museum betrat, »auf diese Weise kriegt der alte Mann wenigstens etwas Bewegung.«
Das Museum war ausgezeichnet. Mir ist schon klar, dass fünf Mäuse eine Menge Geld sind für ein paar Minuten Zerstreuung. Ich sah es vor mir, wie mein Vater und ich uns draußen vor dem Eingang in den Haaren lagen. Mein Vater würde sagen: »Kommt nicht in Frage. Das ist doch Halsabschneiderei! Für das Geld kannst du dir etwas anschaffen, wovon du dein Leben lang was hast.«
»Eine Packung Teppichfliesen, oder was?«, würde ich mit geschultem Sarkasmus kontern. »Oh, bitte, Dad, sei doch dieses eine Mal nicht so geizig. Da drin ist ein Kalb mit zwei Köpfen.«
»Nein, Sohn, tut mir Leid.«
»Ich werd auch immer brav sein. Ich werde jeden Tag den Müll rausbringen, so lange, bis ich verheiratet bin. Dad, da drin ist ein Typ, der kann drei Billardkugeln auf einmal in den Mund stecken. Da ist ein menschliches Einhorn drin. So was bekommt man nur einmal im Leben zu sehen.«
Doch er würde sich nicht umstimmen lassen. »Ich will davon nichts mehr hören. Wir werden jetzt alle ins Auto steigen und die 175 Meilen zum Molasses Point Historical Battlefield fahren. Da werdet ihr eine Menge über den Krieg von 1802 zwischen Amerika und Ecuador lernen, und das kostet mich nicht einen Penny.«
Nun sah ich mir jedenfalls Ripley’s Believe It Or Not Museum an und genoss jedes einzelne Ausstellungsstück und jede Geschmacklosigkeit. Es war außerordentlich interessant. Ja, wirklich. Wo sonst hat man Gelegenheit, eine ausschließlich aus Hühnerknochen bestehende Kopie des Flaggschiffs von Kolumbus, der Santa Maria, zu sehen? Oder ein aus Würfelzucker errichtetes, knapp zweieinhalb Meter langes Modell des Circus Maximus oder die Totenmaske von John Dillinger oder ein Zimmer, das einzig und allein aus Streichhölzern gebaut worden war, und zwar von einem gewissen Reg Polland aus Manchester, England (gut gemacht, Reg; Großbritannien ist stolz auf dich)? Es handelt sich hier um Dinge von bleibendem Erinnerungswert. Erfreut stellte ich fest, dass England zudem mit einer etwa aus dem Jahr 1940 datierenden Schornsteinkappe vertreten war. Ob Sie’s glauben oder nicht. Believe it or not. Es war einfach wunderbar – sauber, gut präsentiert, manchmal sogar glaubwürdig. Ich verbrachte dort eine glückliche Stunde.
Hochzufrieden kaufte ich mir anschließend eine Portion Eiskrem, so groß wie ein Babykopf, und bummelte in der Nachmittagssonne durch die Menschenmassen. Ich ging in eine Reihe von Souvenirläden und probierte Baseballmützen mit Plastikkringeln auf. Doch die billigste, die ich finden konnte, kostete 7,99 Dollar. Aus Respekt vor meinem Vater beschloss ich, dass das für einen Nachmittag des Guten zu viel sei. Zur Not könnte ich mir auch selber eine basteln, dachte ich, während ich zum Auto zurückkehrte, um Kurs auf die gefahrvollen Berge von Appalachia zu nehmen.