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Wir fanden ein stilles Plätzchen in der Hauptbar des Ranchero und zogen uns mit unseren Getränken dorthin zurück. Zwei Mitglieder einer englischen Rockgruppe bedachten sich gegenseitig lautstark mit Kraftausdrücken und sorgten damit für eine Art verbaler Geräuschkulisse. Tracy Simon drehte nervös ihr Glas zwischen den Händen.
»Sie hat Ihnen erzählt, was mit ihr passiert ist?«
»Bis zu einem gewissen Punkt«, bestätigte ich. »Ihr Gedächtnis läßt zu wünschen übrig.«
»Wenn ein Mensch sich in einer psychologischen Krise befindet und noch dazu unter Drogen steht, funktioniert sein Gedächtnis nun einmal nicht zum besten!«
»Vielen Dank, Frau Doktor«, versetzte ich. »Auf welche Art hat sie denn ihr Augenlicht verloren?«
»Jemand hat ihr Säure ins Gesicht gekippt«, erklärte Tracy in ruhigem Ton. »Äußerst fähige Chirurgen haben durch Transplantationen und Plastiken ihr Gesicht wiederhergestellt. Selbst wenn Sie sehr genau hinschauen, können Sie nur ein paar ganz feine Narben erkennen. Bloß neue Augäpfel konnten sie ihr trotz aller Kunstfertigkeit nicht verpassen.«
»Sie haben eine Begabung für drastische Schilderung.«
»Schließlich haben Sie mich gefragt.« Sie spielte weiter mit ihrem Glas.
»Und es ist an Bord der Yacht geschehen?«
»Das sagt sie.«
»Glauben Sie ihr nicht?«
»Ich weiß nicht recht. Es passierte jedenfalls, bevor ich sie kennenlernte.«
»Wie sind Sie beide überhaupt zusammengekommen?«
»Ich war von Beruf Krankenschwester, gab dann meine Tätigkeit jedoch auf, um die strahlend schöne Frau eines strahlend schönen Schauspielers zu werden. Leider fand er jedoch nach dem ersten Jahr, daß ich nicht strahlend schön genug sei, und setzte sich mit einer anderen ab. Ich erwog, wieder in meinen Beruf zurückzugehen, und dann meldete sich Don Blake telefonisch bei mir. Er war der Agent meines Verflossenen, und wir hatten uns immer gut miteinander verstanden. Don hatte eine ganz besondere Aufgabe für mich, wie er mir sagte, äußerst diskret und streng vertraulich und ob ich interessiert sei. Warum nicht, meinte ich. Also brachte er mich am folgenden Wochenende hinaus zu seinem kleinen verschwiegenen Haus in Montana. Als ich sah, in welcher Verfassung Sam sich befand, meldeten sich wohl sofort meine Mutterinstinkte.«
»So ähnlich hat es Sam auch ausgedrückt«, bestätigte ich. »Sie hält Sie nicht für eine geborene Lesbierin und bezweifelt sogar, ob Sie bisexuell sind. Aber sie empfindet es als großen Trost, wenn Sie sie in ihre Arme nehmen und auf Ihre behutsame, weibliche Art zärtlich zu ihr sind.«
Tracy lächelte verzerrt. »Sie sind ein ziemlich boshafter Kerl, Holman!«
»Sie meinte auch, falls Sie einen Mann brauchten, würde die logische Wahl auf mich fallen. Und wenn es passiere, wollte sie lieber nichts davon erfahren. Ich dachte, es ist besser, Sie zu informieren, was Samantha gesagt hat. Das räumt gleich alle Unklarheiten aus.«
»Okay«, versetzte sie kühl. »Nun haben Sie also alle Unklarheiten ausgeräumt.«
»Blake wurde von ihnen beiden nach einem Wochenende zurückerwartet, tauchte aber nie wieder auf. Stimmt das?«
»Ja.«
»Haben Sie versucht, sich mit ihm in Verbindung zu setzen?«
»Das Haus in Montana hat keinen Telefonanschluß. Ich hätte natürlich, als ich zum Einkaufen fuhr, von der nächsten Ortschaft aus telefonieren können, aber ich unterließ es. Ich dachte, Don hätte sicher seine guten Gründe dafür, nicht wieder zurückzukommen. Entweder das oder es mußte ihm irgend etwas zugestoßen sein.«
»Sie wollten sich keine Gewißheit verschaffen?«
»Ich will ehrlich sein«, antwortete sie. »Ich hatte Angst. Sam hatte mir von der Yacht und den Leuten darauf erzählt. Ich überlegte immer wieder, ob Don nicht vielleicht nur verschwiegen hatte, was mit Sam passiert war und sie in Montana versteckt hielt, um sie zu schützen. Falls Don etwas Schlimmes zugestoßen war, befürchtete ich, sie könnten Sam über mich aufspüren, wenn ich versuchte, mich mit Don in Verbindung zu setzen.«
»Er hat eine halbe Million Dollar aus ihrem Vermögen auf ein Konto überwiesen, das auf Ihren Namen läuft, sagte mir Samantha.«
»Das stimmt.«
»Ist das nicht eine große Versuchung?«
»Eine Versuchung, was zu tun?«
»Reich zu werden. Sie könnten Sam jederzeit im Stich lassen. Das Geld steht zur Ihrer Verfügung. Wer würde einer blinden Frau glauben, die in dem Wahn lebt, Samantha Dane zu sein?«
»Sie sind wirklich ein besonderes Ekel, Holman«, stellte sie fest. Ihre Stimme klang jedoch nicht böse. »Ich würde Sam niemals verlassen, und geldgierig bin ich auch nicht. Als Krankenschwester kann ich immer genug für mich verdienen. Was sollte ich mit einer halben Million anfangen? Mir ein eigenes Krankenhaus einrichten vielleicht?«
»Sie haben versucht, Don Blake zu erreichen, seit Sie hier in Los Angeles sind.«
»Bei seiner Privatnummer meldet sich niemand, und von seinem Büro bekommt man die Auskunft, er sei in Europa.«
»Glauben Sie das?«
»Ich habe mich bemüht, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Nein, im Grunde glaube ich es nicht.«
»Ist er verheiratet?«
»Nur mit seinen Klienten.«
»Ich werde versuchen, ihn aufzustöbern«, sagte ich.
»Eine Frage noch«, meinte sie. »Wie lange werden Sie mit dem Geld auskommen?«
»Einen Monat, schätze ich. Es sei denn, es kommen unerwartete Ausgaben auf mich zu. Wie zum Beispiel ein schneller Trip nach Europa, um mich nach Don Blake umzusehen.«
»Billig scheinen Sie mir gerade nicht zu sein!«
»Das ist doch bloß ein Taschengeld für eine Frau mit einem Bankkonto, wie dem Ihren, Tracy.«
Sie lächelte zögernd. »Ich vergesse immer wieder, wie reich ich bin.«
»Wann hat Blake die halbe Million für Sie bereitgestellt?«
»Etwa eine Woche bevor er verschwand.«
»Das läßt vermuten, er habe Vorsorge für Sie beide treffen wollen, falls ihm etwas zustößt.«
»Das klingt ja direkt unheimlich, Holman.«
»Ich muß jetzt los«, erklärte ich. »Es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten, Tracy.«
»Ich wünschte, ich könnte, was Sie betrifft, das gleiche behaupten.« Ihre Hände machten sich wieder mit ihrem Glas zu schaffen. »Uneingestanden ist vielleicht jeder von uns ein wenig bisexuell. Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, Holman? Was Sam brauchte und noch immer braucht, ist eine besonders liebevolle Zuneigung. Es genügt nicht, ihr bloß freundlich über die Wange zu streicheln.«
»Sie brauchen mir das nicht näher auseinanderzusetzen«, entgegnete ich.
»Sie Widerling!« stieß sie gepreßt hervor. »Ich dachte, Sie würden wenigstens ein Minimum an Verständnis aufbringen.«
Ich fuhr zu meinem mit Hypotheken belasteten Häuschen in Beverly Hills zurück. Es war später Nachmittag oder früher Abend, je nachdem mit welcher Lebenseinstellung man es betrachtete. Gegen meine bessere Einsicht rief ich Manny Kruger an. Manny leitet seit acht Jahren die Werbeabteilung der Stellar-Filmgesellschaft, und jeder, den er nicht kennt, kann sich gleich freiwillig umbringen, weil er in Los Angeles sowieso nicht zählt. Manny hatte eine neue Sekretärin. Das konnte ich an der Stimme erkennen. Sie klang honigsüß und sinnlich und voll köstlicher Versprechungen. Manny hat ständig neue Sekretärinnen.
»Wer ist am Apparat?« wollte die honigsüße Stimme wissen.
»Rick Holman«, erläuterte ich, und sie erkundigte sich, wen ich denn verträte. »Eine neue terroristische Organisation«, sagte ich. »Wir haben nur noch keinen Namen für sie, aber wir suchen bereits eifrig danach. Bestellen Sie Mr. Kruger, in seinem linken oberen Schreibtischfach ist eine Atombombe deponiert. Und wenn er nicht sofort mit mir spricht, geht er innerhalb von fünf Sekunden mitsamt dem Rest von Los Angeles in die Luft.«
Es folgte eine Stille von etwa fünfzehn Sekunden. Dann meldete sich Manny Kruger.
»Unterlaß das doch«, beklagte er sich. »Gute Sekretärinnen sind sowieso schon schwer zu finden, auch ohne daß du sie in Angst und Schrecken versetzt.«
»Ist sie blond?«
»Rothaarig. Allerdings weiß ich nicht, ob die Farbe echt ist, weil sie mich noch nicht hat nachgucken lassen. Aber ich bin hart am Ball.«
»Don Blake«, sagte ich.
»Nein, Manny Kruger.« Er röhrte vor Vergnügen über seinen eigenen Scharfsinn.
»Ich habe eben auf den Knopf gedrückt«, teilte ich ihm mit. »Möchtest du noch eine letzte Botschaft hinterlassen, bevor du dich in Atome auflöst?«
»Er ist ein Agent. Sogar ein guter, falls so etwas möglich ist«, räumte Manny widerwillig ein. »Eigentlich fast ein netter Bursche.«
»Wie ich hörte, soll er in Europa sein.«
»Na und?«
»Was hast du gehört?«
»Gar nichts. Ich habe keine Veranlassung, etwas über Don Blake zu hören.«
»Und wie steht es mit Morris Darrach?«
»Von dem habe ich auch nichts gehört.«
»Ein Wirtschaftsboss, nicht wahr?«
»Wenn du so gut über Leute Bescheid weißt, warum belästigst du mich dann?« fragte er mit der ihm eigenen Kruger-Logik.
»Von dir erfahre ich noch mehr, weil du mein Freund bist«, erklärte ich. »Im Laufe der Jahre habe ich dir schon so oft die Kastanien aus dem Feuer geholt, daß du dich eigentlich überschlagen müßtest, mir einen Gefallen zu tun.«
»Ich sollte dir lieber mit einem stumpfen Gegenstand über den Schädel schlagen, wenn du das nächstemal vorbeikommst«, grunzte er. »Okay. Also Morris Darrach ist in der Tat ein sehr reicher Mann. Er fing mit einem ererbten Vermögen an, was immer ein günstiger Ausgangspunkt ist, und machte aus der Lebensmittelfabrik seines Vaters innerhalb von zehn Jahren einen multinationalen Konzern. Dann begann er sich auch anderweitig zu engagieren. Und jetzt besitzt er ein paar Zeitungen, eine Fernsehproduktion und drei Radiostationen. Außerdem einen Buchverlag und einen weiteren, der sich auf Taschenbücher beschränkt. Er ist ein mächtiger Mann. Manche Köpfe zucken und manche Hände zittern, wenn sein Name genannt wird.«
»Wie steht es mit den Köpfen und Händen, die für Stellar arbeiten?«
»Auch dort wird bisweilen gezuckt und gezittert, wenn Darrach nämlich an der Finanzierung eines neuen Filmprojekts beteiligt ist. Er ist ein großer Vertreter von Rationalisierung am Arbeitsplatz. Wenn beispielsweise ein Regisseur zwei Tages braucht, um eine Szene in den Kasten zu kriegen, ist er gehalten, seine Gründe dafür schriftlich und möglichst in dreifacher Ausfertigung zu erläutern.«
»Finanziert er im Augenblick gerade einen Film bei euch?«
»Gott sei Dank nein!« versetzte Manny mit Inbrunst. »Seit Samantha Dane ihren letzten Film für ihn nie zu Ende gedreht hat, scheint er das Interesse für die Filmindustrie verloren zu haben. Es wurde damals ja dann Della August eingesetzt, und der Film erwies sich als Pleite, als er endlich herauskam. Morris Darrach ist ein Mann, bei dem es keine Mißerfolge geben darf.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Bin ich Morris Darrachs Hüter?«
»Laß es mich anders formulieren«, sagte ich geduldig. »Wo könnte ich mich nach ihm umsehen?«
»An einer Million Stellen, einschließlich seiner Yacht, die sich momentan wahrscheinlich irgendwo in der Nähe der griechischen Inseln befindet. Er besitzt ein paar superschicke Büros in der Stadt, aber wenn er wirklich arbeitet, tut er das in einem ganz kleinen Loch am Wilshire Boulevard. Sein Konzern heißt Seefalke-Unternehmungen und ist nach dem Namen der Yacht benannt. Falls er augenblicklich arbeitet, dürftest du ihn dort finden.«
»Danke, Manny«, sagte ich. »Wohin könnte ich mich wenden, um mir meine Zukunft prophezeien zu lassen?«
»Bleib einfach am Apparat und hör mir zu«, erwiderte er. »Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein.«
»Ich hatte eigentlich an eine richtige Expertin wie Teresa Klune gedacht«, erklärte ich.
»Don Blake, Morris Darrach und jetzt Teresa Klune«, meinte er in gequältem Ton. »Die drei passen doch höchstens in einem Alptraum zusammen.«
»Vergiß nicht, daß du auch zu meinem Alptraum gehörst«, erinnerte ich ihn.
»Wenn ich dir jetzt etwas sage, lach bitte nicht«, versetzte er scharf. »Ich habe ihre Privatnummer hier.«
»Heißt das, du hast dir deine Zukunft bereits voraussagen lassen?«
»Vor etwa einem Jahr«, gestand er unbehaglich ein. »Es gab damals dieses mächtige Tauziehen innerhalb der Studios. Überall wurden die Messer gewetzt. Ich fühlte mich verunsichert. Deshalb suchte ich bei ihr Rat.«
»Was hat sie dir gesagt?«
»Gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, riet sie mir. Es würde alles vorbeigehen und nur andere treffen. Sie behielt übrigens recht.«
»Wieviel hat dich das gekostet?«
»Bitte! Damit reißt du eine Wunde auf! Eintausend Dollar für eine Stunde ihrer kostbaren Zeit, und dann sagt sie mir auch noch, gar nichts zu tun. Aber das war richtig.«
»Na, dann rück mal raus mit der Privatnummer.«
Er gab sie mir und meinte dann: »Ich muß jetzt auflegen, Rick. Ich bekomme schon Knoten ins Gehirn, wie immer, wenn ich mit dir rede. Und laß dir nicht einfallen, etwa meine Sekretärin zu belästigen!«
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete ich indigniert. »Wie heißt sie übrigens?«
»Sein Name ist Charles Flavier«, gab Manny reserviert Auskunft.
»Der Rotschopf ist ein er?«
»Wahrscheinlich hat dich nur die Stimme getäuscht«, erklärte Manny selbstzufrieden. »Ein unglücklicher Unfall auf der Farm seiner Eltern, als er noch ein Kind war. Es hatte etwas zu tun mit einer Melkmaschine und einer blöden Kuh, die im falschen Moment auf die falsche Stelle getreten ist.«
»Sag brav auf Wiedersehen, Manny«, befahl ich ihm.
»Auf Wiedersehen, Manny«, wiederholte er gehorsam. Dann legte er auf.
Ich wählte die Nummer, die er mir gegeben hatte, und eine kühle Altstimme meldete sich nach dem vierten Läuten.
»Teresa Klune am Apparat.«
»Hier spricht Rick Holman«, erklärte ich ihr. »Ich bin ein guter Freund von Manny Kruger, und er hat Sie mir empfohlen. Ich brauche dringend einen Rat. Selbstverständlich bin ich bereit, Ihr Honorar zu...«
»Einen Rat weswegen?« fiel sie mir ins Wort.
»Ich habe immer wieder diesen eigenartigen Traum«, erwiderte ich. »Offen gestanden handelt es sich eher um einen Alptraum. Da ist eine Yacht wie mir scheint, irgendwo in der Karibik, und ich erkenne ein paar Leute an Bord. Sie streiten und zanken offenbar die ganze Zeit miteinander. Ich bin sicher, dieser Traum hat eine große Bedeutung für mich, wenn ihn mir nur ein Experte zu erläutern vermag. Jemand wie Sie, Miss Klune.«
»Heute abend um neun«, sagte sie reserviert. »Mein Honorar beträgt eintausend Dollar für eine Konsultation, Mr. Holman.«
»Gut«, antwortete ich.
»Haben Sie meine Adresse?«
»Nur Ihre Telefonnummer.«
Sie nannte mir die Adresse und legte dann auf. Vermutlich würde sie Erkundigungen über mich einziehen. Ich hatte also schon einen Fuchs in den Hühnerstall gelassen. Oder besser anders herum, ein Huhn in den Fuchsbau. Das Problem für mich war jetzt, überlegte ich sauer, am Leben zu bleiben, während ich mich bemühte, möglichst raffiniert vorzugehen.