Drittes Kapitel

Jegliche Kraft schwand aus meinen Beinen, und ich plumpste in das Unkraut neben dem Weg zu Millies Mietshaus. Dort blieb ich einfach sitzen, den Korb im Schoß, das Kinn auf dem Korb. Die Tränen waren nicht versiegt, und sie tropften, tip-tip-tip, auf das Weidengeflecht.

Der Seidenmann beobachtete mich immer noch. Beobachtete, wie ich dasaß und weinte. Meinen Korb öffnete und eine Socke hervorzog. Mir die Nase damit putzte. Sie zurücklegte. Beobachtete, wie ich ihn beobachtete. Er rührte sich nicht einmal. Ich bin nicht sicher, ob er auch nur geblinzelt hatte.

Mir bibberten die Füße.

»Nya ?«

Ich schrie auf. Ebenso wie das Mädchen mit den Rattenschwänzchen, das ich nicht hatte herannahen sehen. Ein Schwarm heller Wasservögel erhob sich am Seeufer in die Lüfte, Dutzende winziger Flügel flatterten wie Wäsche in einem Windsturm.

»Enzie!«, rief ich tadelnd. Sie hatte sich eine Weile bei der Gilde ein Zimmer mit Tali geteilt, bis im Mündeltrakt, dem Waisenhaus der Gilde, wo diese ihre potenziellen Heiler heranzog, ein Bett frei geworden war. Aber ich hatte sie nie ohne ihre Gildenuniform gesehen. Mit ihren braunen, von Bändern zusammengehaltenen Haaren, ihrem schlichten grauen Hemd und einer Hose, wie ich sie trug, sah sie eher nach einem kleinen Mädchen aus. Aber ihre Kleider waren neuer als meine und nicht bereits an Knien und Ellbogen geflickt. »Um der Liebe der heiligen Saea willen, schleich dich nicht so an Leute ran!«

»Tut mir leid, Nya.« Enzie setzte sich neben mir in das Unkraut. »Tali wollte, dass ich dir eine Botschaft bringe.«

Mein Frösteln kehrte zurück. »Geht es ihr gut?« Sollte sie meinetwegen in Schwierigkeiten geraten sein, würde ich mich gleich hier vor die Krokodile werfen.

Enzie nickte. »Sie will sich mit dir um drei auf dem schönen Platz treffen. Unter dem Baum.«

Der Blumengarten. Tali hatte ihn mit vier nur den »schönen Platz« genannt. Wir hatten dort Picknick gemacht und auf einer blauen Decke unter dem größten Feigenbaum gesessen, den ich je gesehen hatte.

»Was ist los, Enzie ?« Tali war noch nie feige gewesen. Sie sprach entweder frei heraus, oder sie sprach gar nicht.

»Ich weiß es nicht, ehrlich. Aber ich hab trotzdem Angst.«

Ich beugte mich zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. Armes Mädchen. Sie war gerade erst zehn. Sie hatte Talent, auch wenn sie es noch weitere zwei Jahre nicht würde einsetzen können. Aber es summte in ihr wie die Schwingungen einer Brücke, wenn die Soldaten darübermarschierten. »Schon gut, Enzie.«

Sie schniefte und klammerte sich an mich. Ich rieb ihr in kleinen Kreisen den Rücken. Der Seidenmann beobachtete mich immer noch. Ich starrte ihm eisig entgegen, herausfordernd, auch wenn ich nicht hätte sagen können, welcher Art die Herausforderung war.

Was immer er in meinem Blick sah, er gab nach. Er machte kehrt und ging davon. Ich drückte Enzie noch etwas mehr und fühlte mich plötzlich genauso verängstigt wie sie, ohne zu wissen, warum.

 

Ich lief die vollen drei Meilen durch Geveg zu den Gärten, die, von Millies Mietshaus aus gesehen, auf der anderen Seite der Insel lagen. Die Gärten waren zwar öffentliches Gelände, lagen aber im Adelsbezirk. Gepuderte Frauen mit Perlen in ihrem schwarzen, hoch aufgetürmten Haar musterten mich finsteren Blickes, als ich auf das Tor zuging. Baseeri-Soldaten hielten vor allen vier Eingängen Wache und verscheuchten die Leute, die die Aristokraten hier nicht sehen wollten - was so ziemlich für jeden galt, der nicht aus Baseer stammte. Von Gesetzes wegen sollten sie das nicht tun, und manchmal konnte man sie überreden, wenn man sauber und gepflegt aussah und seine Bitte nicht nuschelnd vortrug, aber niemand betrat die Gärten mit einem Kleiderkorb. Das Kampieren war unter keinen Umständen erlaubt.

Für ein geheimes Treffen hatte Tali sich einen lausigen Ort ausgesucht.

Ich tunkte eine Socke ins Wasser und wusch mich, so gut ich eben konnte. Dann versteckte ich meinen Korb unter einem üppig belaubten Hibiskusbusch, nicht weit vom Osteingang entfernt. Sauber ? Einigermaßen. Gepflegt? Konnte man nicht behaupten. Aber wenigstens nuschelte ich nicht.

Ein Soldat sah mich kommen. Ich schritt stetig aus, als ich mich ihm näherte, um damit deutlich zu machen, dass ich die Absicht hatte hineinzugehen, und das nicht zum ersten Mal.

»Einen Augenblick, Fräulein.« Er trat vor und versperrte mit dem ausgestreckten Arm den Gehweg. Er erinnerte mich stark an einige der Bäume, die im Inneren der Gärten wuchsen: groß, breit, braun mit einem goldenen Kuddelmuddel obenauf. Ungewöhnlich, einem blonden Baseeri zu begegnen. Die meisten hatten glänzendes schwarzes Haar, das in der Sonne schimmerte wie die Schwingen eines Raben. Aber er hatte die spitze Nase und das Kinn der Baseeris. Vielleicht erinnerte er mich doch eher an einen Vogel als an einen Baum. Oder an einen Vogel auf einem Baum.

»Ja?«

»Was führt dich her?«

»Ich treffe mich mit meiner Schwester.«

Er musterte mich von oben bis unten, und in seinen dunklen Augen flackerte Misstrauen auf. Aber auch Nettigkeit, wenn ich sie mir nur zunutze machen konnte.

»Sie hat heute Geburtstag.«

»Ich glaube nicht...«

»Unsere Eltern haben uns zu unserem Geburtstag immer hierher gebracht.« Die Wahrheit bahnte sich ihren eigenen Weg über meine Zunge, und ich konnte nicht aufhören zu reden. »Wir sind die Terrassen hinuntergegangen, und wenn der Wind passend geweht hat, war die ganze Brücke mit rosaroten Blüten bedeckt. Sie sind runtergefallen wie Regentropfen, und ihr Duft war so süß, dass es uns die Tränen in die Augen getrieben hat.« Meine tränten jetzt. An diese Geburtstagsausflüge hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht.

Seine gestrenge Miene wurde ein wenig milder. Dann ließ er den Arm sinken und nickte. »Geh rein. Wünsch deiner Schwester einen schönen Geburtstag von mir.«

»Danke, das mach ich.«

Die Gärten hießen mich willkommen. Der kühle, grün gefärbte Schatten hielt den Rest der Stadt fern, und die Luft roch noch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Kein Blütenmeer heute, aber das Gras war so dicht wie ein flauschiger Teppich und weicher als jedes Bett, in dem ich seit einiger Zeit geschlafen hatte. Über mir erbebten Zweige, als Affen einander durch die Baumkronen jagten und dabei schrill und ekstatisch keiften. Ich ging durch ein braun gekröntes Gewölbe, und die Bäume flüsterten in einer Weise, die mir von jeher das Gefühl gegeben hatte, sie hätten mir ein Geheimnis zu erzählen. Aber dieses Mal war es Tali, die etwas zu berichten hatte.

Sie wartete auf der rot geäderten Marmorbank unter dem großen Feigenbaum am Seeufer, ein heller Fleck inmitten von sanfteren Grün- und Brauntönen.

»Sie haben mich tatsächlich reingelassen!«, rief ich, und mein Lächeln war beinahe aufrichtig.

»Oh, Nya.« Sie sprang von der Bank auf und warf sich in meine Arme, und ihre Tränen benetzten dieselbe Schulter, auf die schon Enzie geweint hatte. Mich befiel ein frostiges Gefühl. Hatte die Gilde sie rausgeworfen?

»Was ist los?«

»Vada ist weg.«

Für einen furchtbaren, schulderfüllten Moment war ich froh. Talis Lehre war noch immer sicher. Vada war ihre beste Freundin in der Gilde, und allzu viele meiner Besuche bei ihr hatten ein rasches Ende gefunden, garniert mit den Worten: »Ich muss los. Vada und ich müssen lernen...« Mich hätte es nicht weiter gestört, wenn Vada die Gilde verlassen hätte, wäre das nur nicht gerade zu einem Zeitpunkt passiert, zu dem schon andere Lehrlinge vermisst wurden. »Bist du sicher, dass sie nicht nur für ein paar Tage nach Hause gefahren ist?«

»Das hätte sie mir gesagt. Wir erzählen einander alles.«

Alles? »Hast du ihr von mir erzählt?«

»Natürlich nicht!« Tali trocknete ihre Augen und ließ sich schnaubend zurück auf die Bank fallen. »Das hat nichts mit dir zu tun. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich weiß es. Sie ist diese Woche schon die Vierte von uns, die verschwunden ist.«

Bei allen Heiligen, es ging wieder los! Aber warum sollte die Gilde ihre eigenen Lehrlinge entführen ?

Tali knetete ihren Rock, und ihre Knöchel waren so weiß wie der Stoff. »Die Leute stellen inzwischen Fragen. Vier Mädchen lösen sich nicht einfach mitten in der Nacht in Luft auf, und ein paar der Jungs sagen, ihre Freunde wären auch verschwunden. Die Gilde schränkt schon die Anzahl der Leute ein, die eine Heilbehandlung bekommen, weil wir so wenige sind. Die Mentoren sagen, wir sollen uns keine Sorgen machen, aber sie verhalten sich, als wäre etwas nicht in Ordnung, wovon sie uns aber nichts sagen wollen.«

Meine Bibberfüße kehrten zurück. Vermisste Lehrlinge. Greifer, die mir folgen. Verlatta belagert. Wie im Krieg, nur dass dieses Mal keine Rufe nach Unabhängigkeit durch die Straßen hallten, die das Geschehen rechtfertigen sollten. Tali musste vorsichtig sein. Wir alle mussten vorsichtig sein, sollte sich mehr als nur ein Greifer hier aufhalten. »Tali, da ist ein...«

»Ich habe Angst. Ich höre Dinge von den Einlitzern.« Sie beugte sich näher heran und deckte ihren Mund seitlich mit einer Hand ab. »Sie sagen, der Block würde manchmal Heiler zurückweisen. Als würde er ihren Schmerz nicht wollen.«

»Was? Tali, du kannst den Einlitzern nicht trauen. Sie sind kaum älter als ich. Pass auf, da ist...«

»Aber sie haben ihre Lehre abgeschlossen. Sie wissen viel.«

»Sie wissen nur wenig, sonst hätten sie sich mehr als nur eine Litze verdient.«

»Sie reden auch über dich.«

»Die Einlitzer?« Wie viele Leute wussten wohl über mich Bescheid. Kein Wunder, dass die Greifer wie der Gestank von Fischen an mir klebten.

»Nein, die Ältesten. Deinen Namen haben sie nicht genannt, aber in den Schlafräumen geht schon den ganzen Tag ein Gerücht über ein Mädchen rum, das Schmerz schiften kann. Da war dieser Hühnerzüchter, der schon beim ersten Tageslicht gekommen ist, um sich behandeln zu lassen, und der hat eine Geschichte erzählt, die so außergewöhnlich war, dass sie die Runde gemacht hat. Die Ältesten haben sogar mich nach dir gefragt. Sie haben dafür sogar die Visite unterbrochen.«

»Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?«

»Sie haben dich Merlaina genannt; also, wozu sich über nichts den Kopf zerbrechen? Niemand außer mir weiß, wer du bist.«

Und dem Greifer. Selbst wenn man auch ihm den falschen Namen genannt hatte, kannte er doch mein Gesicht. Und jetzt auch das von Aylin ...

Eine steife Brise wehte meine Locken auf, und Talis Haar klimperte. Gleichzeitig blickten wir hoch und auf den See hinaus, der so groß war, dass wir das andere Ufer nicht sehen konnten. Schwarzblaue Gewitterwolken verdunkelten den Horizont, türmten sich auf wie die zerklüftete Gebirgskette auf der anderen Seite der Stadt. Berge, die Geveg reich an Pynvium gemacht und damit die Gier des Herzogs geweckt hatten. Mehrere Fischerboote holten ihre Netze ein oder setzten bereits die Segel. Die Seestürme gehörten zur schlimmsten Sorte, und wir bekamen an jedem Sommernachmittag unseren Teil ab.

Tali gab mir ein Brötchen und eine halbe Banane, eingehüllt in etwas, das aussah wie eine Seite aus einem ihrer Schulbücher. »Das habe ich beim Mittagessen für dich rausgeschmuggelt. Tut mir leid, aber mehr ging nicht.«

»Danke.« Ich verschlang das Essen und hoffte, es würde mir das Denken erleichtern. »Was haben die Ältesten mit mir vor?«

»Das haben sie nicht gesagt. Ich wollte es herausfinden, aber ich hatte Angst, sie würden misstrauisch werden, wenn ich zu viele Fragen stelle.«

Ich schluckte den letzten Bissen Brot hinunter. Keine Butter, kein Zimt, trotzdem köstlich. Zu schade, dass sich in dem Brötchen keine Antworten versteckten, so wie in den Glückskeksen, die wir früher immer am Allerheiligentag bekommen hatten. »Tali, du musst vorsichtig sein. Da ist...«

»Ich weiß. Sie dürfen das mit dir nicht herausfinden. Es war dumm von mir zu glauben, es wäre der Gilde egal, dass du nicht normal bist. Sie würden dich einsperren oder nach Baseer schicken, damit der Herzog einen Attentäter aus dir machen kann.«

»Warte.« Mit hochgehobenen Händen gebot ich ihr Einhalt. »Wovon sprichst du?«

»Vom Geschichtsunterricht heute Morgen. Ältester Beit hat sich komisch benommen und seltsame Geschichten erzählt, und dabei hat er sich dauernd über die Schulter umgeschaut, als würde er glauben, jemand könnte hereinkommen. Er hat gesagt, der Herzog hätte Schmerzlöser als Attentäter eingesetzt, und darum wäre es so wichtig, sofort zu melden, wenn man einen sieht. Er hat gesagt, der Herzog hätte eine Möglichkeit gefunden, sie dazu zu bringen, Menschen wehzutun. Ich musste sofort an dich denken.« Ihre Augen glänzten plötzlich. »Denkst du, es gibt noch andere wie dich und das ist der Grund, warum er so dringend Löser sucht, die anders sind? Vielleicht bist du ja nicht die Einzige!«

Leiser, tief tönender Donner hallte zu uns herüber, und eine frische Brise raschelte im Laub. Andere wie ich ? O ihr Heiligen, ich hoffte nicht, aber falls das alles wahr war, dann war der Seidenmann vielleicht hinter uns allen her. »Tali, du hast im Unterricht doch keine Frage gestellt, die sie womöglich auf die Idee bringt, mich zu verdächtigen, oder ? Oder vielleicht irgendetwas gesagt, das andeutet, dass du so jemanden kennst?«

»Nya! Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde.«

Ich kaute an den Überresten meines Daumennagels. Vielleicht kam der Seidenmann aus Baseer und nicht von der Gilde. Es hatte schon immer Gerüchte über Baseeri-Spione in der Stadt gegeben, und die hatten bestimmt einen gewissen Freiraum in Hinblick darauf, was sie ausspionierten. Bei dem Pech, das mich verfolgte, war er in der Nähe gewesen, als die beiden Mündel mich verraten hatten.

Wie groß war die Gefahr, in der ich schwebte ?

»Tali, mir folgt ein Greifer.«

Sie keuchte und blickte sich aufgeregt um. »Hier? Jetzt?«

»Nein, vorhin.« Ich packte ihre Schultern, und die Panik in ihren Augen ließ ein wenig nach. »Er ist verschwunden, als Enzie aufgetaucht ist.«

»Hat er Enzie gesehen?«

»Sie hat ihre Uniform nicht getragen, und er war zu weit weg, um mit anzuhören, was sie gesagt hat. Ich glaube, er weiß nicht, dass ich hierherkommen wollte.« Sicher war ich aber nicht, und ich bezweifelte, dass ich ihn zu sehen bekäme, wenn er von mir nicht gesehen werden wollte. »Pass gut auf, wem du vertraust.«

»Das mache ich, ich verspreche es.« Tränen verschleierten ihre Augen und hinterließen Spuren auf ihren Wangen. »Glaubst du, er hat Vada geholt? Und die anderen auch?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie umarmte mich, drückte ihren Kopf fest zwischen meine Schulter und mein Kinn. »So wie die Greifer, die Mama geholt haben.«

Nein, sie war freiwillig gegangen, um wie Papa in den Kampf zu ziehen, aber gegen Ende des Krieges hatten die Greifer nicht mehr nur unbedeutende Löser geholt. Sie hatten sich Älteste aus der Gilde gegriffen, persönliche Heiler des Adels - kein Schmerzlöser war mehr sicher gewesen.

Der Duft von Geißblatt und Regen lag in der Luft, und ich stellte mir in dem freien Raum über dem Feigenbaum eine blaue Decke vor, mit Schüsseln voll würziger Tomaten und gerösteter Barsche und an den Ecken mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davontrug, und wie Mama ihren Bohnensalat austeilte, während Papa das Brot butterte.

Ein weiterer Krieg. Ein weiterer Bedarf an Schmerzlösern. Was war mit Lösern, die mehr als nur heilen konnten? Sollten sie dieses Mal mich holen, würde ich mich dann als Heilerin an der Front wiederfinden oder irgendwo im Dunkeln, wo ich etwas viel Schlimmeres würde tun müssen?

 

Der Sturm trieb die Boote früh zurück in den Hafen. Windgepeitschte Tropfen trafen schmerzhaft auf meine Wangen und durchtränkten meine Kleider. Aber das hielt mich von den Docks und meiner Chance, mein Zimmer zurückzubekommen, auch nicht mehr fern als der seidige Mann, der eine Attentäterin aus mir machen wollte. Traurigerweise hielt der Regen auch sonst niemanden vom Hafen fern. Dutzende von Leuten standen an jedem Entladeplatz Schlange, einige mit Körben in den Armen. Ein paar Kinder klammerten sich an die Beine der Wartenden oder kauerten sich in ihre Arme. Niemand beschwerte sich, wenn Leute mit Kindern bevorzugt genommen wurden, aber der eine oder andere machte schon ein finsteres Gesicht. Wenigstens konnte mich hier kein Greifer holen, ohne dabei aufzufallen. Aber selbst wenn, wäre mehr als fraglich, ob das jemanden interessieren würde.

 

Die Arbeit war schnell vergeben. Bei Sonnenuntergang war nur noch ein Boot draußen, aber mindestens vierzig Leute rempelten sich gegenseitig an, um die Aufmerksamkeit des Vorarbeiters am zugehörigen Liegeplatz auf sich zu ziehen. Ich hatte den Vorarbeiter einmal getreten, nachdem er mich in den Hintern gezwickt hatte, also ging ich davon, zitternd im Regen, während die letzte Sonnenwärme dahinschwand.

Wo konnte ich hingehen ? Ich holte mir meinen versteckten Korb zurück und setzte mich an eine trockene Stelle im Windschatten des Fähramts, halb verborgen hinter einem Hibiskusstrauch. Auf dem See versperrten die inzwischen leeren Fischerboote die Kanäle, die zu den Docks führten, und zwei Fähren mit noch mehr Leuten, die Arbeit und Unterkunft suchen würden, warteten darauf, dass der Hafenmeister ihnen das Signal zum Anlegen erteilte. Eine war eine überladene Flussfähre aus Verlatta. Die Landesflagge flatterte am Hintersteven. Die andere war eine kleine Seefähre, die Leute vom Hafen zur Kaffeeinsel beförderte. Alle paar Sekunden hallte ein scharfes Krachen über den See, wenn die Wellen die Fähren aneinanderstießen. Das Bedürfnis, den Flüchtlingen ein herzhaftes »Haut ab!« entgegenzubrüllen, verfing sich in meiner Kehle. Schreien würde mich auch ganz bestimmt weiterbringen.

Ein Kreischen zerriss die Luft über dem See, und einen verwirrten Herzschlag lang dachte ich, ich hätte vielleicht tatsächlich geschrien. Ich ließ meinen Korb fallen, und er rollte in den Regen, wurde immer schneller, als er das abfallende Ufer in Richtung See hinunterpurzelte. Donner grollte, als ich von meinem trockenen Plätzchen unter dem Wetterschutz forthastete. Meine Füße glitten im Schlamm aus, und ich fiel auf die Knie, aber ich bekam den Korb noch zu fassen, ehe er ins Wasser fallen konnte.

Erneut klang ein durchdringendes Kreischen auf, wie von einem Schwein, das geschlachtet werden soll. Die kleinere Fähre neigte sich hart nach Steuerbord und krachte mit der Seite an die größere. Gedämpfte Schreie vermischten sich mit dem Prasseln des Regens. Der Wind heulte, und ein neuerliches Krachen hallte herüber.

Ich drückte meinen Korb an die Brust, als ein großes Stück des Decks abbrach und in die peitschenden Wogen stürzte. Kisten folgten. Blitze flammten auf, und ihr Licht fiel auf Leute, die ins Wasser stürzten. Gnade, ihr Heiligen! Ich drehte mich um, suchte mit den Augen die Küste ab, obwohl ich nicht sagen kann, was ich dort zu finden hoffte. Rettungsboote? Rettungsleinen?

Die Menge auf den Docks schob sich vorwärts, aber niemand tat etwas anderes, als zu gaffen und mit den Fingern zu zeigen.

»Tut doch was!«, brüllte ich. Der Wind verschluckte meine Worte, nicht dass mir andernfalls jemand zugehört hätte. Die Fähren zerschunden sich gegenseitig. Passagiere stolperten über die Decks, rutschten auf dem feuchten Holz aus. Wogen und Wind drückten die kleinere Fähre immer weiter unter Wasser. Sie krachte gegen die Mauer, die den Kanal vom See trennte, und prallte zurück. Wellen klatschten gegen die Mauern, die Fähren, die Küste, wurden höher und höher.

Und immer noch taten die Leute nichts.

Ich ließ meinen Korb fallen, rannte zum Fähramt und hämmerte mit der Faust an die Tür.

»Hilfe! Die Leute da draußen brauchen Hilfe!

Niemand antwortete. Waren sie bereits unterwegs, um zu tun, was immer in dieser Situation zu tun war? Sie mussten doch einen Plan haben!

Ich rannte den Deich entlang und zurück zum Ufer, glitt auf dem Gras aus und trampelte das Schilf nieder. Blitze zerrissen den Himmel und umrahmten die Silhouetten dreier Menschen, die über Bord gingen und in die schwarzen, wirbelnden Fluten stürzten. Ehe ihre Köpfe wieder auftauchen konnten, schwang die Fähre erneut herum und blockierte die Wasseroberfläche. Holz prallte knirschend gegen Steine. Ich bemühte mich, das Bild zu verdrängen, wie Leiber zwischen ihnen zerquetscht wurden, aber ich konnte an nichts anderes denken.

Weiter entfernt auf der linken Seite brach ein kleines Fischerboot durch die Wellen, erkämpfte sich einen Weg zu den sinkenden Fähren. Die Mannschaft kämpfte mit Rudern, die nie dazu gedacht waren, das Boot durch die stürmischen Fluten zu befördern. Wellen krachten an die Bordwand, und das Boot neigte sich schwer nach Backbord, kippte immer weiter zur Seite. Ich hielt den Atem an, ging noch ein paar Schritte näher ans Ufer, als könnte ich das Boot von der Küste aus wieder aufrichten.

Wind fegte über die Docks, und das Boot richtete sich allein wieder auf, aber die verbleibende Schieflage verriet, dass zu viel Wasser eingedrungen war, als dass es sich auf Dauer würde halten können. Die Hälfte der Mannschaft trieb bereits im Wasser und kämpfte gegen die Strömung an, die sie weiter auf den See hinausziehen wollte. Die Wogen wählten ihre Opfer nach dem Zufallsprinzip aus, hoben einen Mann an die Küste, zogen einen anderen hinab in die Finsternis.

»Haltet durch«, brüllte ich und quetschte mich durch das Schilf. Bleiche Hände schossen außerhalb meiner Reichweite aus dem Wasser und wurden abgetrieben. Rot blitzte zwischen den weißen, schaumigen Wogen auf, aber die blutigen Arme waren nicht nah genug, dass man sie packen konnte. Schreie. Mehr Schreie. So viele Schreie.

Ich musste näher ran! Wasser wirbelte um meine Hüfte, zerrte an meinen Beinen, versuchte mich hinaus zu dem Ort zu ziehen, an dem die Schreie erklangen. Mein Herz leistete mehr, als meine Hände je konnten.

Ein Platschen zu meiner Rechten.

Ich drehte mich um, suchte das Wasser ab. Orange flackerte für einen Augenblick auf, und ich stürzte mich darauf. Meine Finger trafen etwas Weiches und Warmes, Kleidung und Haut. Bitte, Heilige Saea, lass sie leben. Ich griff zu, hielt mit beiden Händen fest und zog.

Ein Matrose rollte aus den Wogen heraus, hustete und spuckte Wasser. So viel Blut auf seiner Stirn. Eine tiefe Wunde, das stand fest, womöglich auch noch eine Knochenprellung. Ich zerrte ihn aus dem Wasser, durch das Schilf und die Uferböschung hinauf. Mein Hand bedeckte die Wunde an seinem Kopf, und ich zog, nicht viel, aber genug, um die Wunde zu schließen und die Blutung zu stoppen. Mein Kopf puckerte oberhalb des linken Auges.

Fischer und Hafenarbeiter tauchten neben mir auf der Böschung auf und bildeten, ein dickes Seil um die Leibesmitte geschlungen, eine Kette. Der größte Mann pflanzte seine Füße in die schlammige Uferböschung, nicht weit von der Stelle, an der ich im Gebüsch kauerte. Ich hangelte mich hinüber und packte das Seil einen Fuß weit vor ihm.

»Bleib zurück.« Er versetzte mir einen Stoß, und ich wäre beinahe zu Boden gegangen.

»Ich kann helfen!«

»Hilf den Verwundeten.«

Männer, stämmig von der harten Arbeit, schubsten mich zur Seite und dehnten die Kette bis ins Wasser hinein aus. Ich zog mich zurück und suchte die Küste nach Überlebenden ab, aber die Männer hatten niemanden an Land gebracht.

Mehr Farbblitze und abgehackte Schreie drangen in mein Bewusstsein. Ich rannte am Ufer entlang, weg von den Männern und ihrer Seilkette. Fährenpassagiere näherten sich der Küste, kämpften darum, ihre Köpfe über Wasser zu halten.

Ich ging wieder ins Wasser. Holzstücke und Gerätschaften umtanzten mich, als die Fluten die Wrackteile an die Küste schwemmten. Ein Schatten tauchte vor mir auf, und ich warf mich zur Seite und schluckte einen Mund voll Wasser. Eine Kiste schwamm vorbei und krachte hinter mir gegen ein Fass. Wasser aus der Lunge hustend, entdeckte ich eine Frau, deren Arm sich nie wieder beugen würde, und schleppte sie ans Ufer. Meine Finger waren steif, als ich einen Mann herauszog, der von nun an hinken würde. Mein Herz wurde taub, als ich einen Jungen berührte, zu still, zu kalt, ihn noch zu heilen.

Der Regen wurde stärker, als wollte er die Wellen niederdrücken, damit wir mehr Menschen retten konnten, aber tatsächlich war er eher hinderlich als hilfreich. Ein schauerliches Krachen, lauter als der Donner, sorgte dafür, dass sich allerlei Köpfe drehten. Sekunden später lief die größere Fähre auf das Wrack auf. Der Rumpf brach, Holz wurde von den Spanten gerissen. Menschen, die sich an die Reling klammerten, stürzten auf dem schiefliegenden Deck und rutschten in die Wogen.

Ich machte weiter, zog sie heraus, zerrte sie an Land.

Auch, als das Schreien endete und das Weinen begann.

 

Ich ging langsam, unter Schmerzen, wusste kaum mehr, wo mein eigener Schmerz begann und der, den ich genommen hatte, endete. Gildeheiler rannten mit Tragen an mir vorbei, platschten durch Pfützen und beschmutzten ihre Uniformen. Die meisten waren Lehrlinge und Träger weniger Litzen. Ich sah mich nach Tali um, konnte sie aber nirgends entdecken. Mein Korb war verschwunden. Gestohlen, fortgetreten, ich wusste es nicht, aber das machte nun auch nichts mehr aus. Ich hatte nichts mehr außer Schmerzen.

Tali würde heute Nacht beschäftigt und morgen erschöpft sein. Bei so vielen Verletzten mochte der Block bereits voll sein, bevor die Nacht endete. Hatten Sie noch einen zusätzlichen Vorrat für Notfälle? Zwei heuballengroße Pynvium-Blöcke, das wäre ein Reichtum, wie ich ihn mir nicht einmal vorstellen konnte, aber würden sie bei so viel Leid reichen?

Musik und Gelächter lockten mich zu Aylins Lusthaus, aber Aylin war nicht dort. Glückliche, trockene Gesichter leuchteten hinter den Fenstern, unbehelligt von dem Leiden auf den Docks. Die Schmiede war geschlossen, aber der Kamin auf der Rückseite strahlte Wärme ab. Ich lehnte mich an ihn, geschützt von einem Dach, das den größten Teil des Regens von mir fernhielt.

»Ich kann nirgends hin.« Die Worte purzelten einfach heraus und erschreckten mich. Konnte ich zur Gilde gehen? Vielleicht würden sie mir den Schmerz nehmen, ehe sie erkannten, dass ich nicht für die Heilung bezahlen konnte. Vielleicht gaben sie mir wenigstens einen Platz zum Schlafen. Ich drückte mich fester an die Ziegelsteine. Närrische Gedanken. Ginge ich zur Gilde, könnten diese Mündel oder der Älteste mich sehen. Das Risiko war viel zu groß, nur um eine Nacht im Trockenen zu verbringen.

Ich hielt nach Aylin Ausschau, aber sie tauchte nicht auf, nicht einmal, als der Regen aufhörte und der Mond herauskam. Also ging ich einfach los, lauschte den Zikaden und der Musik. Morgen würde ich zu den Schmerzhändlern gehen. Ich hatte Schmerz zu verkaufen, haufenweise. Wenn sie merkten, was ich war, konnte ich immer noch weglaufen. Darin wurde ich immer besser.

Und wenn sie der Gilde von mir erzählten?

Dann würde ich schneller laufen. Oder mich von ihnen fangen lassen und sie zwingen, mir zu erzählen, warum sie ...

Hände schossen hervor, zogen mich in die Finsternis zwischen den Häusern. Eine Hand legte sich über meinen Mund, während der andere Arm meine Brust umschlang und meine beiden Arme an meinem Körper festklemmte.

»Keinen Laut!«

Leichter getan als gesagt.