Vierundzwanzigstes Kapitel
... also habe ich ihm gesagt, ich würde den Block für ihn leeren, und dann hab ich ihn geblitzt.« Ich hielt die Luft an. Vor Zertaniks Anwesen waren nur wenige Leute auf der Straße, und niemand würdigte uns im Vorbeigehen auch nur eines Blickes. Ich nehme an, die reichen Leute schlossen sich in ihren Häusern ein, bis die Aufstände vorüber waren.
»Aua«, machte Danello so leise, dass es mir unmöglich war zu erkennen, was er bei dem ganzen Chaos empfinden mochte. »Und das hat dich nicht umgebracht?«
»Nein.«
»Bist du sicher, dass ...«
»Ja.«
»Aua.«
Aylin gab sich weniger beeindruckt. »Du hast einem Schmerzhändler geholfen, Menschen Schmerz zuzufügen ?«
»Nein, ich habe sie geheilt...«
»Du hast ihren Schmerz anderen gegeben, obwohl du wusstest, dass es sie umbringen würde.« Sie maß mich mit finsterem Blick, und ich fühlte mich wieder einmal ganz schrecklich. »Du wusstest es und hast es trotzdem getan.«
Ihr Entsetzen tat weh, aber sie hatte recht. Nachdem ich gesehen hatte, was mit Danello geschehen war, hatte ich es gewusst, und ich hatte es trotzdem getan. Sie hatte das, was ich Lanelle angetan hatte, so widerspruchslos akzeptiert, dass ich angenommen hatte, sie hätte auch für diese Handlungsweise Verständnis. Aber es war etwas anderes. Es war mittlerweile so schwer zu entscheiden, was richtig war und was falsch.
»Du wolltest sterben?«, fragte Tali fassungslos. »Du wolltest mich einfach allein lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Ich wollte nur - ich weiß nicht - ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, sie aufzuhalten.« Ich hätte tun können, was sie von mir wollten, und wäre dabei reich geworden. Ein Teil von mir hatte zustimmen wollen. Ein Teil von mir hatte das so sehr gewollt, damit wir wieder hätten leben können wir früher. Das einzugestehen tat weh, aber ich konnte es auch nicht länger ignorieren.
»Es ist das, was Großmama getan hätte«, sagte ich.
Tali schürzte die Lippen, dachte auf die gleiche Weise über meine Worte nach, wie Mama es getan hätte, und nickte. »Ja, das stimmt wohl.«
»Ich meine, Nya ist eine Heldin«, sagte Danello, als wollte er Aylin zu einem Widerspruch herausfordern. In diesem Moment sah er fast genauso aus wie sein kleiner Bruder, als er mich aufgefordert hatte, ihm den Schmerz seines Vaters zu geben. »Sie war bereit, ihr Leben zu opfern, um uns alle zu retten, genau wie es unsere Eltern getan haben.«
»Danello«, sagte Aylin. »Diese Leute waren unschuldig.«
»Sie hätten es auch dann getan, wenn sie gewusst hätten, was ihnen bevorsteht.«
Aylin verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte: »Das kannst du nicht wissen.«
»Doch, das weiß ich; denn ich hätte es getan. Ich habe mir von ihr Schmerz geben lassen, um zu wissen, wie es sich anfühlt, bevor sie den Schmerz meines Vaters transferierte. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, und es hätte auch nichts an meiner Entscheidung geändert, wenn es mich umgebracht hätte. Ich hätte immer noch jedes Risiko auf mich genommen, um meinen Paps zu retten.«
Aylin antwortete nicht, aber die Zornesfalten auf ihrer Stirn wurden etwas weicher, und sie wandte den Blick ab.
Danello fuhr, ebenfalls ein wenig sanfter, fort: »Und jetzt willst du versuchen, das Leben aller, denen du Schmerz zugefügt hast, zu retten, nicht wahr, Nya?«
»Das will ich, ehrlich. Das hatte ich immer vor, ich hatte nur nicht genug Zeit oder Pynvium zur Verfügung.«
»Siehst du?«, sagte er zu Aylin.
»Du wusstest, was dir bevorstand - die anderen nicht«, murmelte sie, sah aber noch etwas unsicherer aus. »Das ist nicht das Gleiche.«
»Doch«, widersprach Tali, ehe ich etwas sagen konnte. »Diese Leute haben eine Entscheidung getroffen, als sie zu Nya gegangen sind. Großmama hat immer gesagt, wer die Wahl hat, hat die Qual. Manchmal trifft man eine falsche Entscheidung, aber entscheiden muss man sich dennoch. Keiner von uns war dabei. Wir mussten nicht zwischen dem Wohl unserer Familie und einem Rudel adliger Baseeris wählen. Wir mussten uns keiner der Entscheidungen stellen, die Nya hat treffen müssen, und Danello ist der Einzige, der vor der Entscheidung gestanden hat, vor der auch die Leute gestanden haben, denen sie den Schmerz transferiert hat. Nya für Entscheidungen zu verurteilen, die wir nicht treffen mussten, ist nicht fair.«
»Ich verurteile sie nicht«, sagte Aylin hastig.
»Nein?«, fragte Danello.
Aylin klappte den Mund auf und wieder zu. Ihre Wangen röteten sich, und sie seufzte. »Es tut mir leid, Nya.« Dann atmete sie tief durch und strich sich das Haar aus den Augen. »Ihr habt recht. Ich war nicht dabei. Und ich war nicht einmal eine große Hilfe, als du so furchtbar mitgenommen warst. Hätte ich mehr getan, hättest du vielleicht nicht transferieren müssen.«
»Danke«, flüsterte ich. Vielleicht würde doch alles wieder in Ordnung kommen. Vielleicht war ich nicht so tief gesunken, wie ich befürchtet hatte.
»Tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe.«
Danello ergriff meine Hand. »Hast du nicht gesagt, wir hätten Leben zu retten?«
Wir hasteten hinunter zu einem kleinen Mietshaus in der Nähe des Fischereihafens. Die Diele war voll, als wir zu viert dort standen, aber keiner von uns wollte allein draußen warten. Ich klopfte an die Tür, und ein etwa zwölf Jahre alter Junge mit geröteten, verquollenen Augen öffnete. Plötzlich war meine Kehle wie zugeschnürt, und ich brachte keinen Ton heraus. Danello schob sich vor mich.
»Wir sind gekommen, um deinen Vater zu heilen.«
Der Junge tat einen erstickten Schluchzer und schüttelte den Kopf. »Ihr kommt zu spät. Er ist heute Morgen gestorben, gleich nach Sonnenaufgang.«
Ich sank auf die Knie und weinte.