Zwölftes Kapitel

Höllenqualen rissen mir die Knie unter dem Körper weg. Ich brach neben Talis Pritsche zusammen. Messer rotierten in meiner Lunge, Nadeln bohrten sich in meinen Bauch. Schmerzen, für die ich nicht einmal Namen hatte, fraßen sich durch meine Gelenke. Ich stöhnte, und selbst das tat weh. Wie hatte Tali das nur so lange aushalten können ?

»Oh nein, Nya, nein!« Tali glitt von ihrer Pritsche, ging neben mir in die Knie und bewegte sich so schwerfällig, als rechne sie damit, dass jede Bewegung schmerzen müsse. Aber das war nun mein Part.

»Lauf«, hauchte ich. »Beeil dich.«

»Warum hast du das getan? Du hättest es nicht tun dürfen.«

»Geh. Danello. Braucht. Dich.« Jedes Wort zog sich wie eine scharfe Klinge über meine Zunge.

Sie schlang die Arme um mich. »Ich lasse dich nicht allein.«

»Geh!«

»Nicht ohne dich.«

Die Vierlitzerin, die ich überwältigt hatte, mochte inzwischen wieder zu sich gekommen sein. Schon bald würde jemand sie finden - falls das nicht schon geschehen war. Ich biss die Zähne zusammen und sammelte so viel Schmerz, wie ich nur konnte, in dem Hohlraum zwischen Herz und Bauchraum. Der Schmerz ließ ein wenig nach, aber ich konnte ihn dort nicht lange festhalten. Meine Finger prickelten, drängten mich, den gesammelten Schmerz fortzupressen.

Wenn ich nur könnte.

»Tali, du musst gehen«, keuchte ich, hielt mich krampfhaft an den Worten fest. »Wenn sie dich schnappen, könnten sie dich töten.«

Zorn verfinsterte ihre Miene. »Das haben sie schon versucht.«

»Dann verschwinde, ehe sie's noch einmal tun.«

»Ich lass dich nicht allein.«

Die Tür wurde geöffnet, und Tali schnappte keuchend nach Luft.

»Tali«, flüsterte ich hastig. »Tränen.« Weinen würde sie zweifellos verraten. Niemand, der in diesem Raum arbeitete, würde wegen eines Haufens nutzloser, verwaister 'Vegs eine Träne vergießen.

Sie legte den Kopf schief, dann schossen ihre Finger empor, und sie wischte die Tränen fort. Ich aber konnte sogar in dem trüben Licht noch erkennen, dass sie geweint hatte.

»Du wirst nicht glauben, was passiert ist!«, sprudelte Lanelle hervor. Kione oder die Schritte einer anderen Person hatte ich nicht gehört. War sie allein ? Mein Hals lieferte mir überzeugende Argumente, mich nicht umzudrehen, um mich zu vergewissern. »Ältester Nostomo hat Sersin gefesselt in Behandlungsraum drei gefunden. Ist das zu glauben? Die Wachen sind überall. Das ganze Gebäude wurde abgeriegelt!«

Ich bewegte den Kopf ein wenig, und eine neue Woge des Schmerzes brach über mich herein. Ich tat einige meinen Bauch beruhigende Atemzüge und betete, dass Tali genug Zeit blieb zu entkommen.

»War sie verletzt?«, fragte Tali. Goldig, ihre Sorge, aber nun war nicht der richtige Zeitpunkt, sich den Kopf über Leute zu zerbrechen, die sie tot sehen wollten. Sie war heute keine Heilerin, zumindest nicht, bis sie die Gilde verlassen hatte und bei Danello eingetroffen war.

»Ich weiß es nicht. Sie ist noch bewusstlos. Aber ich habe gehört, man hätte Blut auf dem Boden gefunden.«

Blut? Wie konnte ich Blut übersehen haben? Hastige Hände schaffen nichts Gutes, wie Großmama zu sagen pflegte. Tali musste verschwinden. Sofort.

»Warum sollte irgendjemand Sersin angreifen?« Lanelle kam in mein Blickfeld und hielt ruckartig inne. Röte zog sich über ihre Wangen. »Was ist passiert? Ist sie aus dem Bett gefallen?« Das klang beinahe wie echte Besorgnis.

»Äh, sie hatte einen Anfall.«

»Wirklich? Das ist ein neues Symptom, aber es steht nicht auf der Beobachtungsliste. Ältester Vinnot sagt, wir würden, wenn wir sie beobachten, genug über diesen Schmerz lernen, um eine völlig neue Behandlungsmethode zu entwickeln, vielleicht sogar eine, bei der gar kein Pynvium benötigt wird! Er stellt spezielle Nachforschungen für den Herzog persönlich an, und ich darf dabei helfen. Ich habe alles in meinem Notizbuch festgehalten. Wie lange hat der Anfall gedauert ?«

»Ich, äh ...«

Als spontane Lügnerin hatte Tali noch nie viel getaugt. Als sie ein Kind war und eine Vase zerbrochen hatte, hatte sie behauptet, die Krokodile wären es gewesen. Hatte sie ihre Hausaufgaben vergessen, hatte der Wind sie zum Fenster hinausgeweht.

»Oohh.« Ich fing an zu zucken und zu stöhnen, würgte sogar ein bisschen Speichel hervor. Dieses Mal musste ich nicht viel vortäuschen.

Lanelle verzog das Gesicht, und ein Ausdruck der Scham huschte über ihre rosaroten Wangen. »Was habe ich mir nur dabei gedacht. Wir sollten sie zuerst zurück ins Bett schaffen.«

»Wird wohl das Beste sein.«

Sie ging in die Knie, streckte die Hand nach mir aus und hielt inne. Falten gruben sich in ihre Stirn. »Das ist doch ...«

»Nimm du ihre Schultern«, sagte Tali hastig und stupste Lanelle vorwärts, sodass sie mir nicht mehr ins Gesicht starren konnte. »Ich nehme ihre Beine.«

Ich brachte einen Seufzer in meinem nächsten Stöhnen unter. Sie mochte eine schlechte Lügnerin sein, aber sie konnte schnell reagieren, wenn es nötig war.

Lanelle hob mich vorsichtig an, achtete darauf, an keiner Stelle zu viel Druck auf meinen Körper auszuüben. Sie ging pfleglicher mit mir um, als ich es erwartet hatte; andererseits hatte sie es nun schon tagelang mit schmerzgepeinigten Lehrlingen zu tun. Ich wette, sie behandelte sie so sorgsam, damit sie nicht schrien und ihr Kopfschmerzen bereiteten.

Sie legten mich auf die Pritsche. Meine Haut brannte, als Tali die Decke über mich zog. Ich schluckte meinen Schrei hinunter, konnte aber nichts gegen das Zittern tun.

Heilige, macht, dass sie es nicht merkt. Tali musste sich jetzt zusammenreißen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich meinetwegen Sorgen zu machen. Wieder sammelte ich den Schmerz und verdrängte ihn, soweit ich nur konnte.

»Soll ich, äh, noch bleiben?«, fragte Tali. »Ich könnte dir noch eine Weile helfen.«

Vielleicht war ich mit der Anerkennung für ihre rasche Auffassungsgabe doch etwas voreilig gewesen. Ich versuchte, den Befehl Tali, geh! mittels eines bösen Blickes in ihr Hirn zu brennen, aber sie sah mich gar nicht an. Lanelle stand an meiner Schulter und musterte Tali mit der gleichen seltsamen Miene, mit der sie mich zuvor angeblickt hatte. Wir sahen uns bemerkenswert ähnlich, und in dem trüben Licht mochten wir durchaus als Zwillinge durchgehen, aber mein Bauch sagte mir, dass Lanelle nicht so dumm war, wie sie sich gab.

»Wie war noch dein Name ?«

Panik zerschmetterte meine Herrschaft über den Schmerz. Er raste durch meinen ganzen Leib. Schweiß prickelte auf meinem Körper wie winzige Spinnen. Ein Keuchen bahnte sich einen Weg über meine Lippen, dicht gefolgt von einem Schluchzer.

Tali fiel auf die Knie und ergriff meine Hand. »Ny-nein, nein, kämpf nicht dagegen an.«

»Geh!«, flüsterte ich.

Ihre Augen weiteten sich, als hätte ich sie getreten. Sie schluckte und tätschelte meine Hand. »So ist es gut, entspann dich.«

Wenn ich nur die Kraft hätte, ihr einen Tritt zu verpassen!

Lanelle zupfte an ihrer Schulter. »Lass sie in Ruhe. Es wird ihr besser gehen, wenn sie wieder eingeschlafen ist. Das ist bisher das Einzige, was ihnen hilft.«

»Ja, da hast du wohl recht.« Tali erhob sich und musterte mich mit einer Miene, in der sich viel zu viel Besorgnis spiegelte. Lanelle war bereits zu misstrauisch.

Wieder prickelten meine Fingerspitzen, die genau wussten, was mein vernebelter Geist übersehen hatte. Ich brauchte kein Pynvium, um meinen Schmerz abzuladen - ich brauchte nur eine Person, der ich ihn übertragen konnte. Lanelle war ihre Helferin. Sie verdiente es, zu erfahren, wie es sich anfühlte, auf einer dieser Pritschen zu liegen, oder nicht? Sie haben sie auch belogen. Möglicherweise weiß sie von nichts. Ich versuchte, mein Gewissen zum Schweigen zu bringen, das sich fast so anhörte wie Großmama.

Lanelle stand am Kopfende meiner Pritsche, gerade ein paar Handbreit von meiner Schulter entfernt. Die Entfernung änderte sich ständig, verlagerte sich vor und zurück wie die Wellen an der Küste. Ich schloss die Augen, um den Schmerz noch einmal zusammenzuquetschen und mich zu konzentrieren. Es ging hier nicht um mich, sondern um sie alle. Lanelle könnte ihnen allen helfen, wenn sie mir und Tali zur Flucht verhalf. Die Kuh, die geopfert werden muss, um die Herde zu retten.

»Ich bin übrigens Lanelle. Ich glaube, wir wurden uns noch gar nicht vorgestellt.«

»Tali.«

Ich konnte beinahe hören, wie sie schluckte. Sie sah mich an, und ich krümmte die Finger, zeigte ihr, so gut ich konnte, was sie tun sollte. Lock sie näher zu mir.

»Das kommt mir bekannt vor.«

»Dann habe ich dir meinen Namen wohl doch schon genannt. Oder vielleicht hatten wir mal gemeinsam Unterricht.«

»Vielleicht.« Dann legte sie die Stirn in Falten und zeigte mit dem Finger auf Tali. »Warum ist deine Uniform so zerknittert?«

»Ich, äh ...«

Ich versuchte, mich aufzusetzen, mich mit meinem verkrüppelten Leib auf Lanelle zu stürzen, ihre Füße zu packen und meinen Schmerz loszuwerden. Wieder verlor ich die Konzentration, und Schmerz explodierte unter meiner Haut.

Tali atmete hörbar ein und trat einen kleinen Schritt näher zu mir. Tonlos formte ich nein mit den Lippen, sammelte erneut den Schmerz und krümmte die Finger.

Lanelle verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, was geht hier vor? Du benimmst dich sonderbar.«

Tali keuchte auf und wandte den Blick ab. »Ich bin auf deiner Pritsche eingeschlafen«, platzte sie heraus.

»Du bist eingeschlafen?«, wiederholte Lanelle, als wüsste sie nicht recht, was sie sagen sollte.

»Ja, ziemlich dumm von mir, was?« Sie kicherte. »Also, was hast du vorhin erzählt, Sersin wurde angegriffen?«

Lanelle stierte sie noch einen Moment länger forschend an, dann gewann der Tratsch den Kampf gegen den Argwohn. »Ist das zu glauben? Man hat sie in einem der Behandlungsräume gefunden. Mit ihren eigenen Litzen gefesselt!«

»Das ist ja furchtbar. Sind wir hier oben auch in Gefahr?«

»Das glaube ich nicht. Kione bewacht die Tür.« Lanelle trat einen Schritt auf die Tür zu - und auf mich. Meine Finger zuckten. Beinahe in Reichweite.

Klong!

Klirrendes Pynvium. Der Beutel!

»Was ist das?«

»Das, äh ...«

Lanelle ging in die Knie und öffnete den Beutel. Dann zuckte sie zurück, als wäre etwas mit Zähnen herausgesprungen. »Da drin ist Pynvium!«

»Wirklich?«

Nicht einmal ich nahm Tali ihren unschuldigen Ton ab.

Die Tür wurde aufgerissen, und Schritte donnerten herein. Mehrere Leute in Stiefeln, was bedeutete, dass es sich um Wachmänner handeln musste. Lanelle richtete sich unsicher und mit blassem Gesicht auf. Tali war so weiß wie ihr Unterkleid.

»Guten Morgen, Mädchen«, sagte ein Mann mit einer weichen, aber befehlsgewohnten Stimme. Sie klang beinahe freundlich, bis man genau hinhörte - dann nahm man die verborgene Schärfe wahr. Eine Sägezahnschärfe, keine Klinge, die einen sauberen Schnitt hinterlassen würde.

Lanelle verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Guten Morgen, Herr.«

»Irgendwelche Probleme heute?«

»Nein, Herr. Es war alles ruhig.« Sie trat näher und schob das Pynvium mit dem Fuß unter meine Pritsche. Vielleicht brütete Lanelle in ihrem Köpfchen, das nicht ganz so leer war, wie ich es mir gewünscht hatte, bereits einen eigenen Plan aus. Wie beispielsweise, das Pynvium zu stehlen und ein Vermögen damit zu machen.

»Ist irgendwas Ungewöhnliches vorgefallen?«

»Eigentlich nicht. Diese Patientin hatte einen Anfall und ist aus dem Bett gefallen, aber sie hat sich nichts dabei getan.«

»Gerade erst?« Schritte, dann fiel ein Schatten über mich. Ich blickte auf und blieb sogleich an den schweren, geflochtenen, goldenen Abzeichen an seinen Schultern hängen.

Der Erhabene stand über mir, nahe genug, ihn zu berühren.