22. Dezember:

Große Freiheit

Heute Morgen nach dem Aufwachen, als ich mit einer Tasse heißem Kaffee an meinem Wohnzimmerfenster stand, hab ich zu lange auf das traurige, leerstehende Haus auf der anderen Seite unserer Straße gekuckt. Von innen ist es vermutlich gar nicht so traurig, da ist bestimmt ordentlich Alarm. Weil in dem Haus inzwischen ja ein Großteil der Hamburger Taubenpopulation wohnt. Aber von außen nagt das Wetter unaufhörlich Risse in die Fassade. Es war mal eine schöne Fassade. Hellgrün mit Bögen und Frauenköpfen aus Stuck über den Fenstern. Aber seit dem letzten Sommer bröckelt es heftig. Und das Haus steht seit über einem Jahr leer, keiner weiß, was damit wann passieren soll.

Die verfallende Front erinnert mich an Venedig im Winter. Ich war mal da. Ich war noch ein junges Ding gewesen, mein Vater hatte sich noch keine Kugel in den Kopf gejagt, und wir machten jedes Jahr so kleine Weihnachtstouren in fremde Städte. Nur ein paar Tage, um das Fest der Liebe besser zu überstehen. Mein Vater hatte damit angefangen, nachdem meine Mutter gegangen war. Ich war drei Jahre alt, da verbrachte ich den Heiligabend zum ersten Mal in einer Hotellobby, in Lissabon. Für mich war’s okay. Und ich spürte, dass es für meinen Vater nur so ging. Christopher Riley und ich hatten letztlich immer ein paar sehr gute Tage miteinander. Das erste Weihnachten ohne ihn hab ich damals gar nicht mitgekriegt. Ich hab am 22. Dezember angefangen zu trinken und erst am 27. damit aufgehört. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Ich könnte schon wieder.

In der obersten Etage des grünen Hauses hängen noch Vorhänge, weiße, alte Spitzengardinen. Ein Stückchen davon hat sich über Nacht durch einen Spalt im ehemaligen Schlafzimmerfenster geschlichen, und seitdem weht es da ein bisschen im Wind, während ab und an eine Schneeflocke fällt. Daran ist mein Blick kleben geblieben, und in meinem Herzen ist es immer trister geworden. Bis ich’s nicht mehr ausgehalten hab und zum Hafen gerannt bin.

Vielleicht versuche ich morgen, in das grüne Haus reinzukommen und die Gardinen abzunehmen, bevor sie da hängen, bis sie schwarz werden.

Ich laufe vom Fischmarkt aus immer an der Elbe entlang, immer nach Westen. Aus dem Kopfsteinpflaster wird erst vernachlässigter Asphalt, dann Schotter, dann Sand. Aus den schick renovierten Klinkerbauten links und rechts werden erst eingeschossige Lagerbauten, gespickt mit ein paar Panoramawohnblöcken für Reiche, dann sehe ich nur noch Wasser und Bäume, zwischendrin hier und da ein Häuschen für einen Kapitän oder sonst irgendeinen Romantiker. Ich laufe bis zur Himmelsleiter, der schönen alten Treppe, die zur Elbchaussee führt, und schon vorher kucke ich viel nach oben. Bleibe stehen, stecke die Hände tief in die Manteltaschen und halte mein Gesicht in die Richtung, in der die Elbe ins Meer fließen muss. Sollten alle viel öfter machen: in den Himmel kucken und gleichzeitig versuchen, am Meer zu riechen. Das macht die Seele sauber. Und schon gegen Mittag fühle ich mich besser. Ich steige in Övelgönne aufs Schiff, fahre bis zu den Landungsbrücken und sehe mir an, wie die Elbe langsam ein paar Eisschollen ausbrütet. Dann kaufe ich mir ein Fischbrötchen und laufe noch eine Weile in die andere Richtung, durch diese ewig langen neuen Straßen der Hafencity. Als die Dämmerung langsam übers Wasser gekrochen kommt, ruft der Faller an und fragt, ob ich Lust hätte, ihn ein bisschen zu begleiten. Klar hab ich Lust.

*

Ich hab den Faller unauffällig ins Karolinenviertel bugsiert. Von dem Obdachlosen hab ich ihm noch gar nichts erzählt. Ich werde das Gefühl nicht los, mich eventuell lächerlich zu machen, weil der arme Mann mich so beschäftigt. Aber das ist natürlich Blödsinn, meine Freunde sind allesamt mitfühlende Menschen.

»Faller«, sage ich.

Er hat vor dem Bioladen an der Ecke kurz angehalten, um sich eine Roth-Händle anzuzünden.

»Faller, hier lag gestern ein Obdachloser rum.«

»Chastity, mein Mädchen«, sagt er, zieht an seiner Zigarette und lugt Robert-Mitchum-mäßig unter seiner Hutkrempe hervor. »Ich hab eine Information für Sie: In Großstädten liegen jede Menge Obdachlose rum.«

»Er war zu Brei geprügelt, Faller.«

Er lässt seine Zigarette im Mundwinkel hängen, schiebt seinen Hut ein Stück nach hinten und steckt die Hände in die Manteltaschen.

»Und?«

»Ich hab einen Krankenwagen und die Kollegen von der Lerchenstraße gerufen«, sage ich.

»Ich meine, wer hat den Mann denn so zugerichtet?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Die Kollegen arbeiten sicher dran.«

»Natürlich«, sagt der Faller und zieht seinen Hut wieder tiefer ins Gesicht. Er weiß genauso gut wie ich, dass ein obdachloses Opfer niemanden zu einer Hochdruckermittlung anspornt. Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten, wenn alle ihre Familien um die Ohren haben.

Ich stecke mir eine Lucky Strike an und kucke in den Himmel. Der ist dicht, die Dächer der etwas höheren Häuser sind in Wolkenwatte gepackt. Es schneit sehr viel heftiger als heute Morgen. Fast ein richtiges Gestöber, aber nur fast.

»Wo ist eigentlich Ihre Mütze, Chastity?«

»Hat sich im letzten Herbst aufgelöst«, sage ich, »wie so manches.«

»Das geht ja gar nicht«, sagt der Faller. »Lassen Sie uns mal da drüben reingehen.«

Er überquert die Marktstraße, ohne nach links und rechts zu schauen, er läuft wie ein König, als würde das alles hier ihm gehören. Er bleibt vor einem Laden stehen. Die Fassade ist in elegantem Dunkelrot gestrichen. Okay: Es ist eine Boutique. Da hängen Kleider im Schaufenster. Ich bin weder der Kleidertyp noch der Boutiquentyp.

»Ich bin nicht der Boutiquentyp«, sage ich.

»Da drin gibt es sehr gute Sachen«, sagt der Faller. »Meine Tochter kauft hier immer ein.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, dann gehen wir rein.

Als wir zehn Minuten später wieder rauskommen, hab ich eine Mütze auf. Eine graue Mütze mit einem dicken Bommel dran. Und, ich betone das jetzt ausdrücklich, ich sehe damit nicht lächerlich aus. Ich sehe aus wie eine Frau aus Sankt Pauli. Ich sehe ehrlich gesagt super aus mit meiner neuen Mütze. Und sauwarm ist sie auch.

»Viel besser«, sagt der Faller, der vielleicht Stylist werden sollte. Er mustert mich noch mal kurz, als wir uns langsam wieder in Bewegung setzen.

Das Schönste an der Mütze ist wahrscheinlich, dass der Faller sie mir gekauft hat.

»Und jetzt los«, sage ich. »Wir sind ja nicht zum Einkaufen hier, sondern zum Arbeiten. Also, Sie zumindest.«

Der Faller schlägt die Hacken zusammen und salutiert. »Yes, Ma’am!«

»Da vorne kommen ein paar Bars und Cafés«, sage ich, »die klappern wir alle ab und machen Sie ein bisschen bekannt.«

Der Faller macht das super mit dem Bekanntmachen. Er verhält sich wie ein Gast und nicht wie ein Polizist. Er setzt sich an die Theke, bestellt was zu trinken, sieht sich um und ist freundlich. So wie er es früher gemacht hat, wenn er auf dem Kiez ermittelt hat. Erst mal nur die Nase reinhalten. Nicht gleich mit großem Geschiss antanzen. Beim Bezahlen erzählt er dann, wer er ist und was er macht, und sagt, dass er ab heute öfter vorbeischauen wird. Wenn einer der Gastronomen irritiert ist, zeigt der Faller Gespür und fügt hinzu: Falls Ihnen das recht ist.

So hatten wir es eigentlich auch in dem französischen Café mit der gestreiften Markise vor, aber dazu kommen wir nicht mehr. Ein paar Meter vor dem Café, links auf einer Mischung aus unbebautem Grundstück, inoffiziellem Fahrradhof und struppigem Parkplatz, kauert ein Mann. Halb sitzt, halb liegt er, mit dem Rücken an eine Mauer gedrückt. Er stöhnt ein bisschen, wir hätten es gar nicht hören sollen, aber der Faller und ich reden ja nicht viel, wir haben unsere ganz eigene, liebevolle Stille miteinander, und da rutscht einem schon mal was ins Ohr. Der Faller ist zuerst bei dem Mann. Als ich in die Hocke gehe, versucht er leise, mit ihm zu reden.

»Brauchen Sie Hilfe? Hallo? Können wir Ihnen helfen?«

Das Gesicht des Mannes sieht nicht viel besser aus als das von dem, den ich gestern gefunden habe. Aber er ist bei Bewusstsein. Und er hat seine Schuhe noch an.

»Verpisst euch«, sagt er und hustet so laut und gewaltig, dass ich kurz aufstehen muss, sonst hätte mich dieser Husten umgepustet.

»Wir möchten Ihnen helfen«, sage ich. »Sie brauchen einen Arzt.«

»Nix da«, sagt er, »ich brauch gar nix. Und jetzt schert euch zum Teufel.«

»Wer hat Sie denn so zugerichtet?«, fragt der Faller, weiter in der Hocke. »Und jetzt sagen Sie bitte nicht, dass Sie hingefallen sind.«

»Seid ihr Bullen, oder was?«

So was Ähnliches.

»Nein«, sagt der Faller, und das geht ihm erstaunlich locker von der Zunge. »Ist auch egal, wer oder was wir sind. Sie müssen zu einem Arzt.«

Der Mann greift umständlich unter seinen Mantel, holt eine fast leere Rumflasche raus, fasst sie am Hals und hält sie drohend in die Luft.

»Wollt ihr die an eure verdammten Schädel kriegen?«

»Nein«, sage ich.

»Hören Sie auf mit dem Mist«, sagt der Faller und steht auf. »Wenn Sie in dem Zustand hier liegen bleiben, erfrieren Sie heute Nacht. Der große Frost kommt. Ihr Jungs wisst doch, was das heißt.«

»Ich geh gleich nach Hause«, sagt der Mann. Die Flasche hält er immer noch in der Hand, aber er lässt den Arm jetzt langsam sinken, das sieht alles nicht mehr ganz so aggressiv aus.

»Nach Hause«, sage ich, »klar.«

Er sieht mich finster an, und in diesem Moment bekommt sein dunkles, blutiges Gesicht eine Würde, die ich nur von Menschen kenne, die es ernst meinen.

»Lasst mich in Ruhe«, sagt er. »Bitte.«

Ich habe das Gefühl, ihn zu quälen, und das ist ein furchtbares Gefühl. Dem Faller geht es offensichtlich genauso, denn er sagt: »Gehen wir, Chastity.«

Als wir um die Ecke sind, haben wir beide keine Lust mehr, weiter Bars abzuklappern.

»Vielleicht sollten wir ihm eine Decke besorgen«, sage ich. »Ich könnte schnell nach Hause und eine holen, ich wäre in zwanzig Minuten wieder da.«

»In spätestens fünf Minuten ist unser Freund abgetaucht«, sagt der Faller. »Der rechnet sich doch aus, dass wir die Polizei informieren. Und wenn er schon mit uns nichts zu tun haben will, dann wartet er doch sicher nicht, bis die Kollegen da sind.«

Wir laufen durch die Glashüttenstraße in Richtung Heiligengeistfeld. Der Faller bringt mich noch nach Hause, und dann beenden wir den Tag. Es reicht für heute. Das ist uns beiden klar, ohne dass wir es aussprechen müssen. Aber je näher wir dem Heiligengeistfeld kommen, umso langsamer wird der Faller. Er denkt nach, das merke ich.

»Hier stimmt was nicht, oder?«

»Hier stimmt was ganz gewaltig nicht«, sage ich.

»Zwei zusammengeprügelte Männer in zwei Tagen«, sagt der Faller. »Rufen Sie doch mal den Calabretta an. Die Kollegen auf der Wache sind dünn besetzt und haben ja immer genug zu tun. Vielleicht können Sie unsere Jungs von der Mordkommission dazu bringen, die Stadtteilpolizei ein bisschen zu unterstützen.«

Süß. Der Faller betrachtet die Kommissare Calabretta, Brückner und Schulle immer noch als seine Jungs. Wie er zu Kommissar Inceman steht, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht mal, wie ich selbst zu dem stehe.

»Ich sehe ihn sowieso heute Abend«, sage ich. »Der Brückner und der Schulle feiern ’ne Party. Waren Sie da nicht auch eingeladen?«

»Ach ja, stimmt«, sagt er, »hab ich vergessen. Solche Sachen sind nichts mehr für mich. Da komm ich mir vor wie ein Opa zwischen euch jungen Leuten.«

Junge Leute. Haha.

Der Faller bleibt stehen.

»Moment mal.«

Er geht in die Hocke und wischt mit den Händen den Schnee zur Seite. Der Schnee hat rote Punkte.

»Blut?«

»Vielleicht«, sagt der Faller und riecht an seinen Fingerkuppen.

Ich gehe ein paar Schritte weiter, die Blicke auf den Boden geklebt.

»Hier auch«, sage ich.

Diesmal können wir es sogar sehen, ohne in die Hocke zu gehen. Es ist nicht viel Blut, immer nur ein paar Tröpfchen, alle paar Meter.

»Was glauben Sie, Faller?«

Er zündet zwei Zigaretten an und gibt mir eine davon.

»Wenn das nicht unser Mann aus der Hofeinfahrt hier verloren hat, fress ich’n Besen.«

»Tröpfchenweise? Sieht eine Blutspur nach einer Prügelei nicht ein bisschen verwischter aus? Als würde man was hinter sich herziehen?«

»Ja«, sagt der Faller. »Es sei denn, der, der blutet, wird getragen. Dann sieht’s genau so aus.«

Ein Mann, der getragen wird. Da muss ich immer an Daniel van Buyten denken, wie der mal einen verletzten Mannschaftskameraden vom Platz getragen hat, als er noch beim HSV war. Das sah unglaublich aus. Der erwachsene Mann in seinen Armen wirkte so leicht und zerbrechlich. Und van Buyten wie der stärkste Mann der Welt. Seitdem ist der Belgier mein heimlicher Held in der Bundesliga. Aber wirklich sehr, sehr heimlich. Wegen dem HSV und dem FC Bayern München.

»Oder er wurde gefahren«, sage ich. »Der Schnee ist voller Fahrradspuren.«

»Der Großstadtschnee ist immer voller Fahrradspuren«, sagt der Faller. »Häuptling Dunkle Stirnwolke.«

Ich zeige ihm die Zähne, hole mein Telefon raus und rufe die Kollegen vom Kommissariat in der Lerchenstraße an. Ich erzähle ihnen, was wir gesehen haben. Die sollen sich die Blutspuren mal ankucken. Und einen Streifenwagen durch die Marktstraße schicken, der sorgfältig in die Hauseingänge leuchtet.

*

Das Kurhotel liegt ziemlich genau in der Mitte der Großen Freiheit und ist ein winkeliger Ort. Drei kleine Stockwerke, verbunden durch schäbige, waghalsige Treppen, ganz obendrauf stehen noch vier Quadratmeter Dachterrasse. Mit Fangnetz, damit keiner in den Hinterhof springt. Oder sich über die Dächer der Großen Freiheit auf zur Kleinen Freiheit macht, was ja schon eine reizvolle Vorstellung ist. Der Faller hat mir vor Jahren erzählt, dass das Kurhotel ganz früher mal eine Transenbar war. Ein alter Sankt-Pauli-Klassiker. Jetzt kann man den Laden für Partys mieten. Ich war hier zwischendrin mal mit Klatsche, da war das noch so eine Art Club. Wir lagen auf ranzigen Sofas, hörten düsteren Hip-Hop und wussten nicht so richtig was mit uns anzufangen. Danach sind wir dann zum ersten Mal gemeinsam in meinem Bett gelandet.

Ich mache mir fix einen Knoten in die Haare, denn ich habe das Gefühl, mich ordnen zu müssen.

An der Treppe zum ersten Stock stehen der Schulle und der Brückner und begrüßen ihre Gäste. Sie haben ihre FC-Liverpool-Trikots an und blinkende Elch-Hörner auf ihren flachsblonden Hamburger Haaren. Aus den Lautsprechern über ihren Köpfen dudelt Sechziger-Jahre-Soul.

»Chef!«, ruft der Schulle.

»Was sollen die elektrischen Hörner?«, frage ich.

»Weihnachten!«, sagt der Brückner.

»Und die Trikots?«

»Liverpool!«

Ach ja. Weihnachten und Fußball. War ja das bekloppte Motto der Veranstaltung. Hab ich vergessen. So einen überflüssigen Scheiß kann ich mir einfach nicht merken.

Ein paar Kollegen von den Langzeitvermissten kommen die Treppe runter, sie tragen Celtic-Glasgow-Trikots und Nikolausmützen. Ich kämpfe mich über die schmalen Stufen nach oben Richtung Bar. Wodka wäre jetzt gut.

»Riley!«

Auf einer roten Couch neben der Theke fläzt der Calabretta. Er hat ein hellblaues SSC-Neapel-Trikot an und verstrahlt damit den ganzen Raum. Bisher definitiv das schönste Hemd des Abends.

»Ich hätte schwören können, Sie kommen im Pauli-Trikot«, sagt er.

»Ich mag keine Verkleidungen«, sage ich.

»Trikots sind keine Verkleidung, Trikots sind eine innere Haltung.«

Er kuckt mich mitleidig an. Mit genau diesem leicht knurrigen Gesichtsausdruck und genau diesem Trikot sieht er so verdammt italienisch aus. Manchmal vergesse ich glatt, wo der herkommt und dass der nur aus Versehen in Altona gelandet ist. Eigentlich gehört er nach Neapel in eine Carabinieri-Kaserne.

»Sie hätten wenigstens Ihren Totenkopfpulli anziehen können«, sagt er. »Die Jungs freuen sich doch über so was wie die Schnitzel.«

»Ich hab nicht dran gedacht«, sage ich. »Hab gerade den Kopf voll.«

»Weihnachtsvorbereitungen?«, fragt der Calabretta.

Ich werfe ihm einen Blick zu, der scharf wie eine Rasierklinge ist und hoffentlich ein bisschen weh tut.

»Entschuldigung«, sagt er, »war’n schlechter Witz.« Er weiß genau, wie sehr ich Weihnachten hasse. Wie ich an Weihnachten leide.

»Wo drückt denn der Schuh?«

»Ich brauch erst mal was zu trinken«, sage ich.

»Bringen Sie mir ein Bier mit?«

Klar.

»Ein dünnes Peroni?«, frage ich.

Autsch. Das war kein scharfer Blick, das war ein böser. Der Calabretta legt auf eine verdrehte Art großen Wert darauf, ein Hamburger Jung zu sein.

»Schon gut«, sage ich und hebe die Hände.

Der Typ hinter der Theke hat eine zu große Jeans an, ein zu dünnes T-Shirt und eine zu dicke Wollmütze. Bier-Barkeeper-Uniform. Aber meinen Wodka-Soda mixt er wie ein ganz Großer. Bier mit einer Hand aufmachen kann er auch. Sehr schön. Hier arbeiten dann ja wohl Profis.

»Also«, sagt der Calabretta, als ich mich neben ihn auf die Couch fallen lasse, »was gibt’s, Chef?«

Es kommen fünf Leute in Altona-93-Trikots die Treppe hoch, kucken kurz in den Raum, befinden uns für langweilig und gehen weiter in den zweiten Stock. Gleich danach setzen sich drei Typen auf die Couch gegenüber, zwei davon haben sich in HSV-Trikots auf den Kiez getraut, und einer trägt über seinem ziemlich großen Bauch das Erbärmlichste, was man im Moment tragen kann: ein Barcelona-Trikot. Jeder, der nicht selbst regelmäßig Champions League spielt, macht sich mit einem Barcelona-Trikot echt zum Affen. So was kann man nicht einfach so anziehen. Solche zur Schau gestellten Riesenidole machen klein. Ich tu ja auch nicht so, als wäre ich Giovanni Falcone.

Die Musik wird lauter, es soll bestimmt bald getanzt werden. Spätestens dann mach ich aber einen Abgang.

»Im Karolinenviertel quält einer Obdachlose«, sage ich.

»Aha«, sagt der Calabretta und nimmt einen Schluck Bier aus seiner Flasche.

»Und ganz offensichtlich ziemlich systematisch«, sage ich. »Ich hab da in den letzten zwei Tagen zwei blutende Männer liegen sehen. Einer davon liegt im Krankenhaus im Koma.«

»So was machen Sie, wenn Sie Urlaub haben?«

»War Zufall. Ich bin spazieren gegangen.«

»Aha«, sagt er noch mal. »Und?«

»Das Kommissariat in der Lerchenstraße kümmert sich.«

»Na dann«, sagt er. »Ist doch alles prima.«

»Vielleicht sind die personell ein bisschen überfordert, so kurz vor Weihnachten. Die haben ja fast alle Familie und schieben eh schon permanent Überstunden, wegen der ganzen Einsparungen.«

»Ach, und ich als alleinstehender Bulle hab ja genug Zeit, oder was?«

Keine Ahnung, was dem jetzt über die Leber gelaufen ist. Der Calabretta versinkt liebend gern bis zum Hals in Arbeit, soweit ich weiß. Im Moment aber offensichtlich auch in Selbstmitleid.

»Pardon«, sagt er und poltert mit seiner Bierflasche gegen mein Glas. »Mir geht das einfach echt auf die Nüsse, dass mir alle in einer Tour mein Singleleben aufs Brot schmieren.«

»Tut mir leid«, sage ich, »wollte ich nicht.« Wollte ich wirklich nicht. Ich hab kein Problem mit dem Singleleben. Weder mit seinem noch mit meinem. Da fällt mir Klatsche ein. Es ist nicht nett von mir, mein Leben als Singleleben zu bezeichnen. Ich nehme einen Schluck von meinem Drink. Schon hab ich’s vergessen.

»Ist ja auch egal«, sagt er und trinkt sehr schnell sehr viel Bier, dann macht er »Ahhh!« und stellt die Flasche zur Seite. »So. Bier is’ alle. Und wegen Ihrer Obdachlosen, Chef, das sollen wirklich gerne die Kollegen von der Wache machen, die schaffen das bestimmt locker. Die Jungs und ich, wir sind das LKA. Wir sind die Großen. Wir haben zu tun.«

Der Calabretta und sein Team wollen in den nächsten Tagen mal wieder einen Versuch machen, den Albaner einzubuchten. Der Albaner ist uns seit über fünfzehn Jahren ein böser Stachel im Fleisch, schon der Faller hat ihn immer von der Straße haben wollen, hat es aber nie geschafft. Stattdessen hat der Albaner es geschafft, den Faller jahrelang von Sankt Pauli fernzuhalten, nachdem er ihn damals hat in die Falle tappen lassen.

Und jetzt ist der Calabretta wieder mal ganz dicht dran an ihm. Er hat einen V-Mann eingesetzt, es gibt wohl neue Informationen, neue Beweise. Ich habe mich aus der Sache von Anfang an rausgehalten, ich stecke in der alten Geschichte mit dem Faller zu tief drin, da ist es besser, ein bisschen in Deckung zu gehen. Aber ich wünsche dem Calabretta von Herzen, dass es ihm gelingt, dem Albaner an den Karren zu fahren.

»Der Albaner, hm?«

»Richtig«, sagt der Calabretta, »der hundsverfluchte, hinterfotzige Albaner.« Er steht auf. »Noch’n Drink?«

»Danke«, sage ich, »später.«

Die Musik wird noch mal einen Tick lauter, Siebziger-Disco jetzt, einen Stock höher fangen ein paar Frauen an zu johlen. Vermutlich die Ladys von der Sitte.

»Ich denke«, sagt der Calabretta, »ich werde da oben dringend gebraucht.«

»Das denke ich auch«, sage ich und gebe ihm einen kleinen Schubs mit meiner Stiefelspitze.

Mein italienischer Lieblingskommissar stürmt die Treppen hoch, in Erwartung ausgelassenen Weibervolks. Ich schäle mich aus den Polstern und gehe zum Fenster. Setze mich auf eine schmale, von Millionen Nächten zerkratzte Holzbank und schaue runter in die Große Freiheit. Was für ein herrlicher Name für eine trostlose Straße. Frei ist hier keiner. Die Leute sind entweder zum Geldverdienen oder zum zwanghaften Feiern hier. Alles, was eine große Freiheit ausmacht, Gelassenheit, Weite, Freiwilligkeit, das gibt’s hier nicht. Die Große Freiheit ist nur schön, wenn sie zuhat. An einem Spätsommernachmittag, dann ist keiner da außer der goldenen Sonne, die vom Hafen kommt.

Oder man betrachtet die Freiheit vom Beatles-Platz aus, an einem frühen Samstagabend, dann schichten sich die Leuchtreklamen und die Menschen ineinander, und es wird sich noch nicht geprügelt, und dann entsteht eine Art lebendiges Kaleidoskop aus Vergnügen. Das hat auch was. Aber dann bloß nicht durchgehen. Nur kucken.

Ich bin kein Fan der Großen Freiheit. Von hier oben geht’s allerdings. Nur ein paar bunte Lichter und kaputter Asphalt. Und dann ist da ja noch der Schnee, der gerade wieder langsam fällt und der alles irgendwie zarter macht.

Ich verlasse meinen Fensterplatz und klettere die halsbrecherischenTreppen hinauf bis zur Dachterrasse, mache es mir in einer windstillen Ecke gemütlich, schaue durch das zappelige Fangnetz in den Himmel, horche ins ungewöhnlich stille Sankt Pauli und lasse mir ein paar Schneeflocken auf die Nase fallen.

»Da bist du ja.«

Der Inceman lehnt im Türrahmen. Er trägt ein Olympique-Lyon-Trikot. Hätte ich jetzt gar nicht gedacht. Vielleicht doch ganz interessant, so eine Fußballvereinparty.

»Olympique Lyon?«, frage ich.

Er hebt die Hände.

»Seinen Club sucht man sich nicht aus.«

Seine Kollegen leider auch nicht, und so passiert es manchmal, dass da plötzlich Männer um einen herum auftauchen, die einen komplett wahnsinnig machen, denke ich. Mein Hals wird trocken, weil ich zu lange auf seine Unterarme starre.

Wenn ich hier wegwill, muss ich an ihm vorbei.

»Was möchtest du trinken?«, fragt er.

»Einen doppelten Wodka auf Eis und Zitrone«, sage ich.

Er sieht mich lange an, dreht sich um und geht Getränke holen. Ich warte, bis ich ihn nicht mehr auf der Treppe höre, dann sehe ich zu, dass ich Land gewinne. Ich bin nicht in der Verfassung, um mich erfolgreich gegen meine größte Versuchung zu wehren.

Ich bin auch eigentlich nicht in der Verfassung für die Große Freiheit, das bin ich ja wirklich nie, aber weil es so kurz vor Weihnachten ist, hat sich das Ausgehvolk vermutlich ins Kino geschmissen und sich dort aneinandergekuschelt. Und dann kucken sie gezuckerte Filme. Die Rummsdimeile ist so ruhig wie sonst nur an einem Dienstagvormittag.

*

Das Fenster am Haus gegenüber, das mit der wehenden Spitzengardine, hat dem Druck des Tages nachgegeben und ist einfach aufgegangen.

Jetzt schneit’s ins Zimmer.