28. Dezember:

Knock-Out

Die holen wir uns jetzt alle hierher«, sagt der Inceman.

Er sitzt an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium und klickt mit einem Kugelschreiber auf der Stuhllehne rum. Diklacke-diklacke-diklacke. Ich sitze ihm gegenüber auf dem Tisch. Wir haben Kaffeetassen in der Hand und seit jetzt keinen Urlaub mehr. Der Inceman war sowieso durch damit, und ich hab die Personaltante heute Morgen angerufen und ihr gesagt, dass sie sich gehackt legen kann. Der Tschauner hat gestern Abend noch Larissa von Heesen zum Reden gebracht, zumindest ein bisschen. Sie hat die Namen der anderen drei Jugendlichen rausgerückt. Leander Jansens Familie wohnt am Winklers Platz, Benjamin Westermann wohnt mit seinen Eltern und einer kleinen Schwester in der Bernstorffstraße. Katinka Ilicevic, das ist die Freundin von Larissa, die im Wohlers Park so gefroren hat, wohnt mit ihrer Mutter in der Thadenstraße.

»Die knöpf ich mir vor, die kleinen Biester«, sagt der Inceman.

»Dafür bist du gar nicht zuständig.«

»Sag du mir, dass ich zuständig bin, und ich bin’s.«

Das Klicken seines Kugelschreibers wird lauter.

»Wir müssen jetzt langsam mal eine Schippe drauflegen«, sagt er. »Die Kollegen durchsuchen inzwischen nicht mehr nur Sankt Pauli, sondern auch Teile von Altona und der Neustadt. Und keine Spur von Yannick und Angel. Das gibt’s doch gar nicht. Die kleinen Arschlöcher können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«

Wir sehen uns an. Ich versuche, nicht an gestern Abend zu denken. Ich frage mich, was wir jetzt sind, der Inceman und ich. Ich weiß überhaupt nichts.

Ihm scheint es da besserzugehen. Er scheint ziemlich genau zu wissen, was los ist: wir zwei nämlich. Hm.

Ich muss an Klatsche denken und sehe zum Fenster. Es hat wieder angefangen zu schneien. Heftig und von der Seite.

»Und ich will den Tschauner dabeihaben«, sagt er.

»Okay«, sage ich. »Ruf ihn an. Der freut sich.«

Er greift zum Telefon. Tschauner her, die restlichen drei Bandenmitglieder auch, und zwar dalli. Vielleicht ist es diese Entschlossenheit, dieses kompromisslose Jetztaberzack, was ich am Inceman so aufregend finde. Und was mich gleichzeitig total verunsichert.

»Los«, sagt er, als er aufgelegt hat, »wir suchen uns schon mal fünf schöne Zimmerchen für die Herrschaften.«

*

Larissa presst die Lippen aufeinander. Ich glaube nicht, dass wir aus der noch was rauskriegen. Die muss was wiedergutmachen. Hat ja ihre Freunde verpfiffen. Das war nicht so toll von ihr. Und jetzt tut sie so, als wäre sie Jeanne d’Arc. Kuckt gefasst zur Zimmerdecke, bisschen nasse Augen, versucht, nicht zu sehr mit den Füßen zu zappeln. Dafür muss ihre Unterlippe wieder dran glauben.

»Also«, sagt der Inceman und setzt sich zu ihr auf die Tischkante, »jetzt sag schon, Larissa.«

»Ist gar nicht so schwer«, sagt der Tschauner. Er steht hinter ihr und hat die Arme vorm Oberkörper verschränkt. »Erzähl uns einfach, was genau ihr gemacht habt.«

»Und schon lässt der Druck auf dem Herzen erstaunlich nach«, sagt der Inceman.

Unterlippe. Sonst nichts.

»Wir wissen doch sowieso Bescheid«, sagt der Tschauner. »Ihr sollt uns nur sagen, wie ihr die Männer in den Bunker gekriegt habt. Und wer deinen Bruder und seine Freundin geschnappt haben könnte.«

Außerdem will ich wissen, warum ihr das gemacht habt, ihr kleinen Nattern. Ich sitze auf der Fensterbank. Larissa soll mich sehen. Der Inceman glaubt, dass sie nur genügend Druck braucht, dann redet sie schon. Ich glaube das nicht. Ich glaube, von Larissa hören wir nichts mehr.

Sie kuckt von der Zimmerdecke weg und dem Inceman in die Augen. Sie hört auf, ihre Unterlippe zu bearbeiten. Sie wirkt plötzlich ganz ruhig. Hinter ihren Pupillen ist Beton angerührt.

*

Katinka Ilicevic weint. Weint und weint und weint. Ich weiß nicht genau, wen sie beweint. Die Männer, die sie und ihre Freunde gequält haben, oder sich selbst. Ich glaube, da ist sie sich auch nicht so sicher. Und sie weint vor allem, um meine beiden Kollegen aufzuweichen. Aber die sind hart wie die Bunkerwände und rücken keinen Millimeter von ihrer Spur ab.

»Sag uns, was ihr gemacht habt«, sagt der böse Türke.

»Im Knast ist’s kalt ohne Decke«, sagt der böse Tschauner. »Und Decken kriegt nur, wer den Mund aufmacht.«

»Ich frag mich ja, ob deine Freundin Angel ’ne Decke hat«, sagt der böse Türke.

»Ich frag mich eher, ob sie noch lebt«, sagt der böse Tschauner.

Arschkrampen, die beiden.

Aber ihre internationale Härte bringt nichts. Katinka hat keine Kraft mehr zu reden. Sie hat alles rausgeweint.

*

Leander Jansen packt schneller aus, als der Tschauner und der Inceman Fragen stellen können. Er scheint schwer beeindruckt davon zu sein, dass er auf dem Polizeipräsidium in einem Vernehmungsraum sitzt.

»Yannick hat das Zeug besorgt«, sagt er. »Er hatte einen Typen auf dem Kiez, der das eimerweise vertickt.«

»Was vertickt? Welches Zeug?«, fragt der Tschauner.

»Liquid Ecstasy«, sagt Leander. »K.-o.-Tropfen.«

Aha. So ist das also gelaufen. Es hört sich so einfach an. War es wahrscheinlich auch. K.-o.-Tropfen. So ein Dreck. Und so leicht zu haben.

»Und dann?«, fragt der Inceman.

»Hat Yannick das in Ginflaschen gekippt, und dann hat er den Penner ausgesucht und es dem Penner zu trinken gegeben. Wenn der dann hinüber war, haben wir ihn in das Rad von Yannicks Ma geschafft.«

»In was für ein Rad kann man denn einen ausgewachsenen Mann schaffen?«, fragt der Inceman.

»Na, das ist so’n Ding mit so ’ner Kiste vorne dran«, sagt Leander. »Da kann man Kinder und Bierkisten mit rumfahren. Da gehen die Penner locker rein. Muss man nur’n bisschen zusammenfalten.«

Mir wird ganz schwummerig, wenn ich ihm so zuhöre. Der Tschauner wirft dem Inceman einen Blick zu und verlässt das Zimmer. Vermutlich schickt der jetzt gleich zwei Kollegen los. Die sollen das Transportrad von Liliane von Heesen holen.

»Und dann?«

Der Inceman nimmt sich einen Stuhl, dreht die Lehne nach vorne und setzt sich Leander gegenüber. Der redet wie ein Wasserfall. Immer wieder verrückt, wenn so was passiert. Wenn einer einfach auspackt.

»Dann haben wir den Penner in den Bunker gefahren, zum Büro von Yannicks Eltern, und dann hat Yannick den am Haken festgebunden, und wir haben angefangen.«

»Womit angefangen?«

So langsam wird mir richtig schlecht.

»Sandsack halt«, sagt er. »Man kann da draufhauen wie auf einen Sandsack. Bis alles raus ist. Die Typen sind doch eh fertig mit der Welt. Die sind doch eh durch. Die merken das doch gar nicht mehr.«

»Aha«, sagt der Inceman. »Aber ihr habt schon gemerkt, dass das Menschen sind, oder?«

»Yannick hat die Penner dann zurück ins Karoviertel geschafft«, sagt Leander, als wäre das, was der Inceman gerade gesagt hat, gar nicht bei ihm angekommen. »Der hat die da wieder ausgekippt und das Rad von seiner Ma zurückgebracht.«

»Yannicks Mutter hat das nie gemerkt, dass ihr ständig mit ihrem Rad unterwegs wart?«, frage ich.

»Die hat das kaum noch benutzt, seit Yannick und Larissa groß sind«, sagt Leander. »Und Yannick hat es immer ordentlich wieder abgeschlossen, das war das Wichtigste.«

Das war also das Wichtigste. Dass Yannick das Rad wieder ordentlich abgeschlossen hat. Überhaupt scheint das alles nur von Yannick ausgegangen zu sein. Yannick hier, Yannick da. Ein bisschen viel Yannick, finde ich.

»Und du so?«, frage ich, und der Inceman kuckt mich an, und er weiß genau, was ich meine.

»Ich?«, fragt Leander. »Nichts, wieso?«

Mein Gott, der Junge hat ja echt ein Loch im Kopf.

»Welcher der Obdachlosen war denn stark genug?«, fragt der Inceman. »Wer von denen könnte denn in der Lage sein, sich an euch zu rächen?«

»Boah, keine Ahnung. Da müsst ihr echt Yannick fragen.«

*

Benjamin Westermann hält sich an die Vorgaben seiner Eltern: Warte, bis der Anwalt da ist. Vorher sagst du gar nichts. Muss er aber auch nicht mehr. Hat sein Kumpel Leander ja schon erledigt.

»Hast du keine Angst, dass Yannick und Angel was passiert?«, frage ich ihn.

Er zuckt mit den Schultern und spielt mit seiner Baseballkappe.

»Weißt du, dass einer von den Männern, die ihr verprügelt habt, gestorben ist?«

Er zuckt wieder mit den Schultern. Er kuckt mich an und fährt sich mit der Zunge über die oberen Schneidezähne.

»Snake Plissken, hm?«, sage ich.

Er kuckt zum Fenster raus.

»Findest du den auch so toll, Benjamin?«

Er grinst.

»Snake Plissken ist ein riesengroßer Scheißdreck«, sage ich.

Er kuckt mich an, er wird wieder ernst, er sieht für einen kurzen Moment so aus, als wolle er mir an die Gurgel springen.

Dann wartet er ganz in Ruhe weiter auf den Anwalt, den seine Eltern mit Blaulicht hierherbeordert haben.

*

»Interessiert doch eh keinen«, sagt Patric Kober und schiebt sein Kinn nach vorne. »Interessiert doch niemanden, was einer wie ich macht. Oder warum ich irgendwas mache.«

Er hängt auf seinem Stuhl. Seine Fäuste stecken in den Taschen seines Kapuzenpullis. Sie bearbeiten den Baumwollstoff von innen.

Der Inceman sitzt ihm gegenüber, der Tschauner lehnt an der Wand, ich sitze auf einem Hocker in der Ecke. Wir haben schnell gemerkt, dass wir Patric Kober lieber nichts fragen sollten. Den sollten wir einfach reden lassen. Da kommt schon ein bisschen was.

»Meine Schwester ist alles, was mir wichtig ist, kapiert ihr das? Für meine Schwester würd ich sterben, ey. Ihr müsst sie finden. Und dann müsst ihr die Sau einbuchten, die Angel entführt hat. Sonst mach ich euch fertig.«

Ach so.

»Ist das denn überhaupt sicher, dass Yannick und Angel entführt worden sind?«, fragt der Inceman zum Tschauner gewandt.

»Nö«, sagt der Tschauner, »sicher ist das nicht. Die könnten auch mit dem erstbesten Zug nach werweißwo abgehauen sein.«

»Angel haut nicht ab«, sagt Patric, und seine Fäuste drücken von innen an die Taschen seines Pullovers, als wollten sie ihn sprengen. »Ohne mich haut die nicht ab. Und schon gar nicht mit dem reichen Schnürsenkel.«

»Woher kennt ihr euch eigentlich alle?«, fragt der Inceman.

»Angel und der Schnürsenkel gehen auf die gleiche Schule«, sagt Patric.

»Du meinst Yannick von Heesen«, sagt der Tschauner.

Patric Kober nickt.

»Wieso nennst du ihn Schnürsenkel?«

»Weil er einer ist.«

»Und was glaubst du, wer will sich an dem Schnürsenkel rächen?«, fragt der Tschauner.

Patric Kober zuckt mit den Schultern.

Herrgott, irgendwas müssen die doch wissen.

*

Als der Inceman mit den Jugendlichen durch ist, veranlasst er noch schnell, dass ab jetzt eine Hundertschaft einen breiten Streifen nördlich der Elbe auf den Kopf stellt, von Hammerbrook bis Ottensen. Und dann bin ich an der Reihe. Der Herr Kommissar hat mich abgefangen, als ich mich aus dem Staub machen wollte.

»Schön hierbleiben«, hat er gesagt und mich an der Hand genommen. Und weil ich mich geweigert habe, im Flur mit ihm zu reden, hat er mich auf die Herrentoilette gezogen.

»Hier hört uns keiner«, sagt er, »wenn dir das so wichtig ist.«

»Du bist der, der reden will«, sage ich.

»Ich hab keine Lust auf dein Rumgeeier«, sagt er.

»Ich eiere nicht rum.«

»Doch«, sagt er, »du eierst. Du bist uneindeutig. Den ganzen Tag schon. Verkauf mich nicht für blöd, ich merke das.«

Er streicht mir mit der Hand eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Du pfeifst deine Gefühle zurück. Du bist nicht mit diesem Jungen zusammen, oder nicht mehr mit diesem Jungen zusammen, keine Ahnung, du redest ja nicht. Aber mir hältst du auch in einer Tour Stoppschilder vor die Nase. Für so einen Scheiß bin ich zu alt. So einen Scheiß will ich nicht.«

»Was willst du dann?«

Er drückt mich gegen die geflieste Wand und küsst mich auf den Hals.

»Ich will, dass du meine Frau bist. Jetzt und sofort. Und nicht vielleicht.«

Ich schiebe ihn ein Stück weg von mir und sehe ihm in die Augen. Dein und mein und sofort und überhaupt. Da kann ich nicht so gut drauf.

»Da kann ich nicht drauf«, sage ich.

»Du redest wie die Kinder, die bis eben noch in unseren Vernehmungsräumen rumsaßen«, sagt er. »Du solltest nicht so reden. Du solltest selber Kinder haben.«

Er schmeißt mir seine Blicke entgegen, und die sind so dunkel, dass hier gleich die Neonröhren ausgehen.

Diese Blicke machen mich fertig.

Ich ziehe ihn zu mir ran, ich habe, zack, seinen Gürtel in der Hand, ich lasse mich von ihm gegen die Wand pressen, ich lasse mich von ihm hochheben, und dann geht’s so schnell, dass dem Fliesenfußboden schwindelig wird.

*

»Ich kann keine Kinder kriegen«, sage ich, als ich mich wieder anziehe. »Also vergiss es.«

Er lehnt an der Wand, um seine Augen liegen tiefe, dunkle Schatten, er sieht eingefallen aus. Traurig. Er streicht sich mit der Hand eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn und schüttelt den Kopf.

»Was machst du aus mir?«

Was weiß ich denn. Ich bin hier der Amateur.

Die Toilettentür fällt hinter mir ins Schloss, ich stehe wieder auf dem Flur, und ich fühl mich gar nicht gut.

Als wäre ich an eine Achterbahn getackert und könnte nicht mehr aussteigen.

*

Ich sitze auf der Fensterbank und kucke nach unten, die Flasche hab ich fest in der Hand. Je mehr Wodka mir in den Hals läuft, desto ruhiger werde ich. Vor einer halben Stunde ist die Dämmerung über die Stadt gefallen, und solange die Straßenlaternen noch nicht ihre ganze Kraft entfalten, solange sie nur leicht glimmen, werfen die Lichter aus dem Kiosk gegenüber ein warmes, gelbes Licht aufs Kopfsteinpflaster. Der Schnee rieselt nur noch ganz leicht vom Himmel, ab und an spaziert jemand die Straße entlang. Die Gehsteige werden im Moment auf Sankt Pauli nicht so gerne benutzt, die sind zu glatt. Die befreit hier ja keiner vom Eis. Fühlt sich keiner zuständig. Und die Stadtreinigung schon gar nicht.

Ich trinke weiter und weiter und weiter und warte auf die Klarheit, die sich normalerweise mit der Ruhe einstellt. Aber die Klarheit kommt nicht. Es bleibt neblig in meinem Kopf.

Nebenan hat Klatsche die Ramones aufgelegt. Lauter geht’s aber echt nicht mehr.