27. Dezember:

An die Liebe glauben ist gar nicht so einfach

Für mich ist es immer wieder ein Segen, dass Carla ihr Café schon morgens um acht aufschließt.

Wenn ich zum Beispiel kurz nach dem Aufstehen vor einer Leiche gestanden habe. Wenn ich nachts über meine eigenen inneren Leichen gestolpert bin. Oder wenn ich mit einem Kollegen im Bett war, mit dem ich auf keinen Fall noch mal hätte ins Bett gehen sollen.

Gegen sieben hab ich mich beim Inceman rausgeschlichen, bin eine Weile hilflos durch Altona geschlingert, bis ich unten am Wasser gelandet bin. Am Dockland hab ich dann die Fähre genommen und bin zu den Landungsbrücken gefahren. War kein Mensch auf der Fähre. Nur der Käpt’n und ich. War genau richtig.

Jetzt stehe ich vor Carlas Tür, rauche Zigaretten und warte auf sie. Es ist fünf vor acht, da hinten kommt meine Freundin auch schon, sie biegt aus der Rambachstraße in die Dietmar-Koel-Straße ein. Sie hat lustige Fellstiefeletten an den Füßen, einen Mantel mit Pelzkragen überm Kleid und einen dicken Wollschal um den Kopf gewickelt. Sie lächelt mich liebevoll an, als sie mich da vor ihrer Tür stehen sieht.

»Was ist passiert?«, fragt sie und legt mir die Hand auf die Wange.

Sie weiß, wenn ich so früh hier bin, brauche ich ein Rettungsboot, warum auch immer.

»Ich war letzte Nacht nicht zu Hause«, sage ich. »Also, nach Hause kann ich ja sowieso nicht, weil da dieser Zombie aus Amerika rumhängt, aber ich war auch nicht bei Klatsche, da, wo ich eigentlich hingehöre …«

»Moment, der Reihe nach: Welcher Zombie?«

»Meine Mutter ist zu Besuch«, sage ich.

»Was? Und davon erzählst du mir nichts? Bist du irre? Seit wann ist sie da?«

»Seit Heiligabend, morgens«, sage ich.

»Wann haut sie wieder ab?«

»Keine Ahnung. Hoffentlich bald.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie da ist?«

Carla nimmt mich in den Arm, ich bin steif wie eine Portion Stockfisch.

»Ich kann da irgendwie nicht drüber reden«, sage ich. »Ich will einfach nur, dass sie wieder geht. Ich hab das Gefühl, wenn ich niemandem von ihr erzähle, ist sie auch nicht wirklich da. Dann sitzt sie vielleicht in meiner Wohnung, aber in mein Leben schafft sie’s nicht. Ist das vollkommen bescheuert?«

Carla schüttelt den Kopf.

»Nein«, sagt sie, »das ist nicht bescheuert. Das ist wahrscheinlich ganz gut so.«

Sie fummelt eine Zigarette aus ihrer Manteltasche, macht sie an, steckt sie sich in den Mund.

»Und jetzt weiter: Wo warst du, wenn du nicht zu Hause und nicht bei Klatsche warst?«

Sie hat einen Tonfall in der Stimme, als würde sie mit einer Siebenjährigen reden, die was zu beichten hat, und ja, exakt so fühle ich mich auch.

»Ich war bei meinem Kollegen.«

Ich krieg’s nicht so richtig über die Lippen. Ich krieg seinen Namen nicht über die Lippen. Als würde ich es dadurch noch ein bisschen rauszögern können. Als wäre es dadurch noch nicht passiert. Im Grunde mache ich es mit dem Inceman wie mit meiner Mutter: Ich mache Voodoo. Sprich es nicht aus, dann existiert es auch nicht. Es ist unglaublich albern.

»Du warst bei dem schicken Türken, oder?«

Ich kucke zu Boden, und sie zuckt mit den Schultern.

»Na ja. Beim Calabretta warste ja wohl nicht.«

Sie tritt sich die Stiefel ab und schließt auf.

»Jetzt komm erst mal rein.«

Ich fühle mich immer noch keinen Tag älter als siebeneinhalb.

*

Sie hat mir Kaffee gemacht, und dabei hat sie Hörnchen und Brioche gebacken und mir zugehört. Ich hab dann doch geredet, aber nicht viel, gibt ja auch nicht so besonders viel zu sagen. Nur, dass der Inceman mich nicht loslässt. Und dass ich das eigentlich gar nicht will. Weil Klatsche das Beste ist, was mir passieren konnte. Der lässt mich sein, wie ich bin. Der zieht nicht an mir.

Der Inceman zieht. Der hat was vor mit mir. Und genau das macht mich verrückt. So und so. Ich liebe es, und ich hasse es.

Carla hat gesagt, ich soll’s auf mich zukommen lassen.

Die ist gut, echt.

Ich bin dann direkt in die Wache an der Lerchenstraße, der Tschauner hat Patric Kober und Larissa von Heesen noch gestern Abend vorläufig festnehmen lassen. Larissas Eltern haben natürlich ein Riesentheater gemacht und uns sofort einen Anwalt auf den Hals gehetzt. Die Kleine durfte heute Morgen gehen, ohne dass es zu einer ordentlichen Vernehmung kommen konnte.

»Keine Bange«, sagt der Tschauner, »die Göre kauf ich mir schon noch. Soll sie doch ruhig mit ihrem Anwalt hier angestiefelt kommen, da hab ich kein Problem mit.«

Ich mag den Tschauner.

»Und Patric Kober?«

»Kriegt’s Maul nicht auf«, sagt er.

»Anwalt?«

»Will keinen.«

»Eltern?«

»Die hat das kaum gejuckt, dass wir ihn mitgenommen haben«, sagt der Tschauner. »Und gerade der Mutter schien es auch völlig egal zu sein, dass ihre Tochter verschwunden ist. Der Vater ist ein bisschen unruhiger, was das Mädchen angeht. Aber so richtig ficht die das beide nicht an.«

»Wie war das denn so bei den Kobers zu Hause?«, frage ich.

»Schlimm«, sagt er. »Drei Zimmer Sozialbau im Schmidt-Rottluff-Weg eben, und zwar vom Feinsten. Zwei kleine Jungs vor der Glotze, um neun Uhr abends. Sah so aus, als würden die da auch schlafen, zusammen mit zwei Hunden. Die Mutter war besoffen, der Vater so ein dünner Hering, der sich gegen nichts wehrt.«

Er kuckt mich an.

»Die haben sich nicht mal von ihrem Sohn verabschiedet.«

Ich hole meine Luckies raus und biete dem Tschauner eine an.

»Danke«, sagt er und klemmt sich die Zigarette in den Mundwinkel.

Ich nehme mir auch eine, zünde sie an und schiebe dem Tschauner das Feuerzeug über den Tisch. Er geht zum Fenster und macht es auf, bevor er sich die Zigarette anzündet. Wie vernünftig diese jungen Leute heutzutage sind.

»Was haben Sie jetzt vor?«, frage ich ihn.

»Ich bestelle die kleine von Heesen noch mal in aller Höflichkeit hierher. Und Patric Kober versuche ich weiter weichzuklopfen.«

»Brauchen Sie noch Unterstützung? Die Kollegen haben fast alle frei, oder?«

»Das passt schon«, sagt er. »Wir haben rund dreißig Polizisten von den Hundertschaften aus dem Präsidium laufen. Die wühlen sich seit gestern Abend durch Sankt Pauli. Da sind wir gut aufgestellt. Das Problem ist nur, dass die Kollegen bisher nicht mal einen Schatten von Yannick oder Angel gesichtet haben. Sie sind aber schon in sämtlichen einschlägigen Nischen gewesen und haben alle Orte durchgekaut, an denen sich die Obdachlosen im Viertel so sammeln. Und so viele Möglichkeiten haben die doch auch nicht, zwei junge Leute zu verstecken.«

Er zieht an seiner Zigarette und versucht, erwachsen auszusehen. Das gelingt ihm so gut, dass ich jetzt weiß, wie der Tschauner in zwanzig Jahren daherkommen wird: aufgerauht, erledigt, gut.

»Wir gehen doch inzwischen stark davon aus, dass Yannick und Angel von einem ihrer ehemaligen Opfer gekapert worden sind, oder?«

»Richtig«, sage ich.

»Dann könnten ihnen ihre Gewaltexzesse echt ganz schön um die Ohren fliegen«, sagt der Tschauner. »Sieht nicht gut aus für die beiden.«

Wer Gewalt sät, kriegt irgendwann selber auf die Schnauze, so ist das nun mal im Leben.

Der junge Kollege streckt den Kopf aus dem Fenster und schaut in den Himmel.

»Oder die sind längst tot.«

»Das glaube ich nicht«, sage ich. »Irgendwie glaube ich das nicht. Schon mal einen obdachlosen Killer erlebt? Die haben für so was doch gar nicht die Kraft.«

Er atmet tief ein und wieder aus, holt sich ein bisschen Winterluft ins Gehirn.

»Wir müssen Patric und Larissa zum Reden bringen«, sagt er. »Und wir brauchen die anderen Jugendlichen. Wir müssen herausfinden, was genau die mit wem gemacht haben, und warum. Dann finden wir auch Yannick und Angel.«

»Ich mache mich noch mal auf den Weg ins Karolinenviertel«, sage ich. »Vielleicht grabe ich ja doch irgendwo noch einen aus, der mit mir redet. Rufen Sie mich an, wenn sich bei Patric Kober oder Larissa von Heesen was tut?«

Der Tschauner nickt und schmeißt seine Kippe aus dem Fenster. Ohne zu kucken, ob unten jemand langläuft. Na also. Geht doch.

*

Weihnachten ist vorbei. Heute ist der 27. Dezember. Die Läden haben alle wieder auf. Das Leben kehrt zurück in die Straßen, ein bisschen hier, ein bisschen da. Ich hab sie hinter mir, die besinnliche Stille. Die Pest der Liebe. Dem Christkind sei Dank.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es gewesen sein könnte. Versuche, die Welt mit den Augen von Yannick und seinen Freunden zu sehen. Die Idylle im Karoviertel, die wie alle Idyllen aller Stadtviertel auf der Kippe zur Yuppie-Idylle ist. Die kleinen Flecken auf der Idylle. Hier ein Hippie ohne Dusche, da ein Bettler ohne Beine. Die Romakinder in ihren zu kleinen Winterjacken, die auf dem geschotterten Platz an der Grabenstraße im Schnee spielen. Die alten Recken, die auf den Bänken sitzen und wärmenden Schnaps trinken. Die Punks, die ihre Egal Bar beschützen. Wenn die Obdachlosen wegmussten, warum nicht auch jemand von den anderen, die das Bild verdrecken? Ging es vielleicht gar nicht darum, dass was wegmusste? Ging es nur um möglichst billige Opfer? Oder um was ganz anderes? Gab es irgendwelche Auswahlkriterien?

Ich setze mich auf eine schneefreie Treppe gegenüber dem kleinen Platz und beobachte ein paar Obdachlose bei ihrem Tagwerk. Sie schlurfen durch die Straßen, besorgen sich was zu trinken und besetzen ein paar Ecken. Tagsüber sind die immer in Grüppchen unterwegs. Da kann man nicht so einfach einen rausholen und in den Bunker verschleppen. Aber nachts. Da sind sie meistens alleine. Schlafen jeder für sich, zusammengerollt in einem Hauseingang. Als wäre es nachts besser so.

Es muss nachts passiert sein. Nachts ist es für Sankt Pauli relativ ruhig im Karolinenviertel. Außer der Egal Bar macht alles irgendwann zu. Nachts kann man hier schon unbeobachtet Scheiße bauen. Die Büroetagen im Bunker sind verwaist. Und die Eltern kriegen auch nichts mit davon, schlafen ja alle schön. Clevere kleine Monster. Vielleicht war es wirklich gar nicht schwer, hier geeignetes Prügelmaterial zu finden. Und vielleicht ging’s wirklich vor allem ums Prügeln und um sonst nichts.

Aber wie, bitte schön, soll eigentlich ein einzelner Obdachloser zwei Jugendliche verschleppen? Der muss die schon bewusstlos gehauen haben. Oder die ehemaligen Opfer haben sich eben zusammengetan.

Und wo, zur Hölle, haben sie die beiden hingebracht?

Ich lege meinen Kopf nach hinten, sehe zwei, drei, vier Möwen am verhangenen Himmel. Ich registriere eine kleine Helligkeit, die wohl der Januar schon mal vorgeschickt hat und die ankündigt, dass die dunkelste Zeit des Jahres bald vorbei ist, und dann arbeitet sich die komplizierteste Frau Hamburgs langsam durch die Marktstraße. Ich habe sie vor Jahren schon mal in der Innenstadt gesehen, ich wusste nicht, dass sie immer noch unterwegs ist. Wahrscheinlich ist sie seitdem genau bis hierhin vorangekommen. Sie lebt auf der Straße, hat im Gegensatz zu anderen Obdachlosen aber ihren kompletten Hausstand dabei. Sie tuckert in Begleitung von sieben alten Kinderwägen durch die Stadt, alle bis zum Anschlag gefüllt mit Krempel. Teilweise hat sie die Sachen in Tüten verpackt, das sind vermutlich ihre Klamotten. Viele Dinge stapelt sie aber auch einfach so auf den Wägen. Lampen, Kochtöpfe, Decken, Puppen, einen Spiegel, eine Gitarre, ein Paar Gummistiefel. Und so arbeitet sie sich die Straße entlang. Schiebt den ersten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Schiebt den zweiten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Schiebt den dritten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Das macht sie, bis alle sieben Wägen drei Meter weitergekommen sind. Dann fängt sie wieder von vorne an. Sie regelt ihre umständliche Aktion mit einer nervenzehrenden Ruhe und Gleichförmigkeit, als wäre es vollkommen selbstverständlich, sich so fortzubewegen.

Und ihr Look ist spektakulär: Sie ist relativ klein, aber die hochhackigen grünen Stiefel lassen sie ziemlich langbeinig erscheinen. Zu den Stiefeln trägt sie schwarze Wollstrumpfhosen, die mit Löchern und Laufmaschen übersät sind. Ihr enger Rock ist kurz und auch grün, das Material ist völlig undurchschaubar. Könnte LKW-Plane sein, ich bin mir aber nicht sicher. Obenrum trägt sie eine Art Cape, es ist pink. Auf dem Kopf, über den schwarzen, zum wuschigen Knoten gebundenen Haaren, sitzt ein schwarzer Filzhut. Mit einer roten Stoffrose dran. Niemand könnte sagen, wie alt sie ungefähr ist.

Die Frau sieht eigentlich aus wie eine hochgejazzte Konzeptkünstlerin. Vielleicht schätze ich das alles ja auch völlig falsch ein, und sie ist tatsächlich eine.

Mein Telefon klingelt.

Der Zombie ist dran. Wo zum Teufel hat meine Mutter denn jetzt meine Nummer her? Ich hab sie nicht aus Versehen irgendwo rumliegen lassen.

»Ich fliege heute Nachmittag zurück in die Staaten«, sagt sie.

»Okay.«

»Wenn wir uns noch mal sehen wollen, solltest du langsam nach Hause kommen, Chastity.«

Nach Hause. Wie sie das sagt. Als wäre mein Zuhause auch ihr Zuhause. Ich lege auf und zünde mir eine Zigarette an.

Wenn ich heute Abend meine Wohnungstür aufschließe, wird sie nicht mehr da sein.

Ich rauche und beobachte weiter die Frau mit den Kinderwagen, wie sie sich Stück für Stück in Richtung des alten Schlachthofs arbeitet. Die hat solche Probleme nicht. Die hat andere.

Ich rufe den Calabretta an.

»Was macht unser vermisster V-Mann?«

»Wir haben nichts von ihm gehört«, sagt er. »Ich will heute Nacht mit den Kollegen Brückner und Schulle nach der Wohnung sehen, die wir für ihn auf dem Kiez gemietet haben. Vielleicht finden wir da irgendwas. In seiner Privatwohnung in Lokstedt ist er offensichtlich ewig nicht mehr gewesen. Die haben wir uns gestern angekuckt, da ist alles verwaist.«

Wir wissen beide, dass sich das ziemlich übel anhört.

»Was haben Sie sonst vor?«

»Nichts«, sagt der Calabretta, und ich höre das Zittern in seiner Stimme. »Wir können nur warten.«

*

Auf dem Weg nach Hause komme ich an der Kleinen Pause vorbei, und wie ich so darüber nachdenke, ob ich eigentlich Hunger habe oder nicht, sehe ich den Faller an der Theke sitzen. Er hat ein Glas Apfelsaft und einen abgegrasten Teller vor sich. Ich mache die Tür auf und gehe rein. Schön warm ist es hier.

»Na«, sage ich, »was gab’s denn Feines?«

»Schaschlik«, sagt der Faller, und er freut sich richtig. »Hätten Sie einen Ton gesagt, dass Sie zum Essen kommen, ich hätte natürlich auf Sie gewartet, mein Mädchen.«

Ich rutsche neben dem Faller auf die Bank und bestelle eine Orangenlimonade und eine Portion Pommes.

»Geht klar, Süße«, sagt die Frau hinterm Tresen und zeigt auf den Faller. »Aber lass bloß die Finger von unserm Opi hier, sonst setzt’s was.«

»Ich rühr ihn nicht an«, sage ich und hebe die Hände.

Die liebevolle Beschimpfung der Gäste gehört zur Kernkompetenz der Damen, die in der Kleinen Pause arbeiten, und ich ziehe mir das immer wieder gerne rein.

»Ich nehm dann noch’n Kaffee und ein Snickers, bitte«, sagt der Faller.

»Yo, mein Dickerchen.«

Das Schöne hier ist, dass wirklich ausnahmslos alle beschimpft werden. Bis auf die Kinder. Die heißen einfach »Schatzilein«, kriegen Gummibärchen geschenkt und lieben die Kleine Pause. Das nenne ich mal eine ganz ausgeklügelte Kundenbindung.

»Und? Weihnachten überlebt?«

»Es war noch schlimmer als sonst«, sage ich.

»Wie das denn?«, fragt der Faller. »War der Weihnachtsmann persönlich da und hat Sie gequält?«

»Das war nicht nötig«, sage ich. »Das hat meine Mutter übernommen.«

»Ihre Mutter? Seit wann gibt’s die denn? Lebt die nicht in den USA?«

»Sie wollte an Weihnachten nicht alleine sein. Ihr Mann ist gestorben.«

Der Faller zieht die Augenbrauen hoch.

»Spinnt die?«

»Ich war völlig überfordert, Faller. Sie stand an Heiligabend plötzlich vor der Tür und ist einfach dageblieben. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, meine Nerven sterben ab, oder so was.«

»Wo ist sie jetzt?«, fragt er.

»Im Flieger nach Amerika«, sage ich.

»Gott sei’s gelobt und getrommelt«, sagt der Faller. »Glauben Sie, dass sie noch mal auftaucht?«

»Nein«, sage ich. »Wenn sie nicht völlig amputiert ist, hat sie begriffen, dass sie das nicht tun sollte.«

Meine Limonade kommt, und dann kommen auch meine Pommes. Ich hab keinen Appetit. Aber der Faller achtet ganz genau darauf, dass ich auch schön aufesse.

Als wir draußen auf der Straße sind, hakt er sich bei mir unter, wir gehen die paar Schritte bis zu mir eng aneinandergedrückt. Hamburger Wintergang gegen schnittiges Wetter. Der Faller weiß immer, wann ich das nötig habe. Ich bin froh, dass ich ihm von meinem Besuchshorror erzählt habe. Es einfach niemandem zu sagen hat ja auch nicht geholfen. War keine gute Idee gewesen. Mal sehen, vielleicht lerne ich ja doch irgendwann mal was dazu.

Als wir auf Höhe des Paulinenplatzes sind und ich mich gerade frage, ob ich dem Faller eigentlich was von dem verschwundenen V-Mann sagen sollte, wo wir schon so in Sabbel-Laune sind, klingelt mein Telefon.

»Hallo?«

»Tschauner hier.«

»Hey, Tschauner«, sage ich. »Was gibt’s? Redet Patric Kober jetzt doch?«

»Nein«, sagt er, »da dringt nichts nach außen. Aber die Gerichtsmedizin hat angerufen, wegen dem toten Obdachlosen.«

Ich bleibe stehen, der Faller lässt meinen Arm los.

»Und?«, frage ich.

»Der alte Mann ist nicht an den Schlägen gestorben«, sagt er, »er ist erfroren. Vermutlich lag er die Nacht über auf dieser Treppe.«

Erfroren. Wie kann es in einer so reichen Stadt eigentlich möglich sein, dass Menschen erfrieren?

»Und, was für uns wichtig sein könnte«, sagt der Tschauner, »er hat sich nicht gewehrt. Er hat sich prügeln lassen wie ein Sandsack. Hat wahrscheinlich nicht mal gezuckt.«

»So was gibt’s doch gar nicht«, sage ich. »Da muss man schon vollkommen im Eimer sein, oder?«

»Richtig.«

»Wie hoch war denn der Alkoholgehalt im Blut?«, frage ich. Ich tippe auf Delirium tremens.

»Das ist sehr merkwürdig«, sagt der Tschauner. »Sein Pegel war für einen Schlucki relativ gering, eigentlich so gut wie gar nichts. Null Komma sechs Promille.«

Ist ja wirklich nicht viel. Vielleicht ein Bier. Zwei Bier für einen geübten Trinker. Davon erfriert man beim besten Willen nicht.

»Sonst was gefunden? Irgendwelche Drogen?«

»Nein«, sagt er, »rein gar nichts.«

Ich lege auf und sage zum Faller: »Das finde ich immer schlimm, wenn die Leute sich nicht wehren.«

Ich hole tief Luft, dann wird mir klar, wo mein Haken sitzt. Dass es mir gerade, genau jetzt, gar nicht um den toten Obdachlosen geht.

»Und am schlimmsten ist«, sage ich, »dass ich mich selbst auch nicht gewehrt hab. Ich Flachpfeife. Da krieg ich Besuch von meiner Zombiemutter, und was ist – ich wehre mich nicht für zehn Cent. Schlimm, Faller. Schlimm.«

Der Faller rückt meine Mütze zurecht und streicht mir über die Wange.

»Seien Sie nicht so streng mit sich selbst, mein Mädchen. Man muss gar nicht immer so streng mit sich sein.«

Ich drücke meine Wange ganz sachte gegen seine Hand, bin dankbar, dass es ihn gibt, und denke: Man muss sich auch nicht alles erzählen.

Ein an den Albaner verlorener V-Mann würde dem guten alten Faller nur wie ein Messer im Gehirn sitzen.

*

Als ich meine Wohnungstür aufschließe, knallt mir die Kerbe, die mir mein Leben geschlagen hat, mit voller Wucht ins Herz: Meine Mutter ist weg, und mein Vater ist tot.

Ich sollte Carla anrufen.

Ich sollte Klatsche anrufen.

Ich sollte schnell wieder raus hier und ziellos durch die Gegend rennen.

Ich sollte meine Wohnung ausräuchern.

Womit macht man das gleich? Mit Salbei, oder?

Ich lege mich auf den Wohnzimmerfußboden und starre an die Decke. Ich bin so allein, mir zerreißt es gleich den Bauch. Und Salbei hab ich auch nicht im Hause. Weil ich nie irgendwas im Haus hab.

*

Später am Abend, ich weiß nicht, wie lange ich da schon so auf dem Boden gelegen habe, ruft der Inceman an. Den Bauch hat es mir nicht zerrissen, aber meine sich generell eher in Einzelteilen durchs Leben bewegende Seele sitzt in den vier kalten Ecken des Zimmers und weigert sich, da wieder rauszukommen. Nein danke, keine Decken. Bloß keine Decken. Lohnt sich nicht. Die Kälte kommt von innen.

»Du hörst dich an, als wärst du gerade ohnmächtig gewesen«, sagt er.

Hm.

»Ist schon okay«, sage ich.

»Ich bin in zehn Minuten da.«

Ach.

*

Der Vollmond kriecht über die Dächer und taucht Sankt Pauli in Flutlicht. Im ersten Moment denke ich, dass wohl ein Fußballspiel sein muss, so hell glitzert der Schnee auf den alten Ziegeln und Antennen. Aber wir sind hier ja nicht auf der Insel. In England wird um diese Zeit gespielt, da ist der Fußball heiliger als Weihnachten. In Deutschland ist das natürlich nicht so.

Der Inceman hat sich einfach zu mir gelegt, in Jacke und Stiefeln, er hat es genauso gemacht wie ich. Er hat meine Seelenstücke aus den Ecken geklaubt und sie mir wieder reingestopft. Dann hat er mich geküsst, damit die Seele auch bleibt, wo sie ist. Und so liegen wir jetzt da. Ich in meinem Mantel, er in seiner schwarzen Daunenjacke, er hat mich fest im Arm, und wir sehen uns den erleuchteten Himmel an, und als Klatsche an meine Tür klopft, weiß ich, dass es jetzt so weit ist. Ich erkenne ihn am Klopfen. Und ich erkenne die Zeichen: Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Ich schäle mich vom Boden, der Inceman setzt sich hin und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, und es dauert eine Ewigkeit, bis ich an der Tür bin, meine Schritte wurden offensichtlich mit Spezialkleber am Holzfußboden festgeleimt.

»Hey«, sagt er, lehnt im Türrahmen.

Ich sage nichts, trete nur ein Stück zur Seite, damit er den Inceman an den Wand sitzen sehen kann.

»Wer ist das?«

Ich sehe ihn an. Erst kriege ich kein Wort heraus, dann die falschen: »Das mit uns, das war doch nie so richtig ernst, oder?«

»Das ist nicht wahr, Chastity.«

Er schüttelt den Kopf, senkt den Blick.

»Das ist totaler Blödsinn. Du spinnst.«

Ich weiß, dass es Blödsinn ist. Wir waren kein Spiel. Wir waren etwas Gutes. Aber das krieg ich jetzt nicht über die Lippen.

Und dann ist er auch schon in meiner Wohnung. Zwei, drei große, entschlossene Schritte, zack, was soll der Scheiß hier. Der Inceman steht schon mal auf, als wüsste er, was gleich kommt. Klatsche schnappt ihn am Kragen, zieht ihn dicht vor sein Gesicht und zischt:

»Wenn du ihr weh tust, mach ich dich platt.«

Dann schmeißt er ihn gegen die Wand. Der Inceman lässt es mit sich geschehen. Ich kann in seinem Gesicht sehen, dass er Klatsches Schmerz kennt und dass es ihm leidtut.

Klatsche bleibt noch mal kurz bei mir stehen, bevor er meine Wohnung und mich und alles, was wir waren, hinter sich lässt. Seine grünen Augen funkeln.

»Du blöde Kuh«, sagt er. »Wann fängst du endlich mal an, an die Liebe zu glauben?«