31. Dezember:
Raketen, Baby
Es ist wie jedes Jahr am Silvesterabend: Um Punkt sechs Uhr, in der Zeit vor dem großen Ballern, steht der Faller an meiner Tür und wartet auf mich. Und dann machen wir einen Spaziergang, schnurstracks laufen wir auf die Elbe zu, unten am Hafen biegen wir rechts ab, und dann gehen wir und gehen und gehen. Unter unseren Füßen liegt der Schnee, auf der Elbe schwimmen dicht an dicht die Eisschollen, der Fluss ist so voll davon, die können sich kaum noch bewegen. Sie bilden fast eine zusammenhängende Eisdecke, aber nur fast. Das ergibt eine merkwürdige Geräuschkulisse, ein Knirschen und Kratzen und Schubbern. Hin und wieder jagen ein paar Jungs buntes Raketenfeuer in die Luft.
An Silvester weiß der Faller so wenig, wohin mit sich, wie ich das ganze Jahr über. An Silvester kümmert sich der Faller nicht um mich, an Silvester kümmere ich mich um den Faller. Das machen wir seit sieben Jahren so. Seit der Faller am Neujahrsmorgen aufgewacht ist und nichts mehr war wie vorher.
Je nach Gemütslage ist unser alljährlicher Silvesterspaziergang für den Faller entweder ein sentimentaler Toast auf unsere Freundschaft – oder ein Countdown zum Jahrestag seiner Demontage. Heute, ich glaube, weil der Faller sich erkältet hat, geht es geradewegs in Richtung Countdown.
»Vor sieben Jahren um diese Zeit saß ich mit meiner Frau in der Küche und hätte nicht im Traum gedacht, dass mich der Albaner mal so reinlegen könnte«, sagt er und schnieft und schmeißt seine Zigarettenkippe aufs Kopfsteinpflaster am alten Fischmarkt.
Rund um die Fischauktionshalle wird gerödelt und geschoben und geschuftet, für die große Party heute Nacht.
»Vor sieben Jahren um diese Zeit hatte ich bestimmt schon mein erstes Bier«, sage ich, auch um ihn ein bisschen aufzuheitern. »Mein Gott, war ich da noch jung.«
Mein Aufheiterungsversuch kommt nicht so richtig an, der Faller hat die Augenbrauen zu einer dunkelgrauen Linie zusammengezogen und ist mit den schwarzen Ecken seiner Biografie beschäftigt. Er hat seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, seine Schultern sind so angespannt, dass sein Kopf sich fast dazwischen verstecken könnte. Er spult das Ding ab, das damals passiert ist, und das geht so:
Vor sieben Jahren um diese Zeit haben wir telefoniert, weil mir so einsam war und ich nicht wusste, wie ich die Silvesternacht überleben soll. Wir trafen uns an der Würstchenbude vor der Davidwache, der Faller hatte einen bösen Streit mit seiner Frau hinter sich, weil er mich nicht alleinlassen konnte, seine Frau und seine Tochter aber schon. Wir stürzten uns mittenrein, in unsere große Silvesterkieztour, hey ho, das sollte ein Spaß werden. Der Faller war damals eine große Nummer auf Sankt Pauli, bekannt wie ein bunter Hund, und alle mochten ihn. Alle, bis auf ein paar Jungs aus Albanien. Wir blieben eine Weile im Silbersack hängen, da war die Hölle los, da steppten die Opas auf dem Tresen.
Draußen tanzten die Schneeflocken. Wir tanzten erst in die Regina Disko auf der Großen Freiheit und dann in die Washington Bar, wir tanzten, bis uns die Knochen weh taten. Eigentlich tanzen wir ja nicht, weder der Faller noch ich, aber in dieser Nacht war alles anders. Wir waren Könige. Und als das neue Jahr über uns hereinbrach, hatten wir keine Ahnung, was es uns noch alles bringen sollte. Irgendwer, den der Faller kannte, schleifte uns in diese Wohnung über der Hafenstraße, mit einem großen Blick über die Industrieromantik, der uns weich machte in den Knien. Unsere Köpfe waren auch so schon ausreichend aufgeweicht, da hatte der Alkohol ganze Arbeit geleistet. Es wurde nachgeschenkt. Und bei uns gingen die Lichter aus.
Ich bin in der Bar im Erdgeschoss aufgewacht, hatte mich auf der Eckbank zusammengerollt. Kein Faller, nirgends. Ich hab mich in den Tag geschält und gesehen, dass die Tür zu dem Haus offen stand, in dem wir letzte Nacht versunken sind. Ich bin die Treppen hoch, die Wohnungstür war auch auf. Ich bin da rein, mit einem Summen in den Ohren, ich wusste, dass ich mich auf was gefasst machen musste. Ich wusste, dass was passiert war. Die Wohnung wirkte nicht ansatzweise so lauschig und warm wie noch vor ein paar Stunden. Sie war kalt, schmutzig und unbewohnt.
Der Faller lag im Schlafzimmer, auf einem fleckigen Bett. Seine Klamotten waren im Raum verstreut. Neben ihm lag ein Mädchen in roter Unterwäsche. Das Mädchen war tot. Auf dem Mädchen lag ein Zettel. Auf dem Zettel stand:
HALT DICH RAUS, ALTER MANN.
Der Faller hatte dem Albaner in den Wochen und Monaten davor richtig Probleme gemacht. Er hatte sich ja vorgenommen, den Albaner vom Kiez zu vertreiben. Jetzt hatte der Albaner den Spieß umgedreht.
Ich hab erst Klatsche angerufen, der hat das Mädchen weggebracht.
Dann hab ich den Calabretta angerufen, der hat den Faller weggebracht.
Niemand außer Klatsche, dem Faller und mir weiß von dem Mädchen. Der Calabretta kennt nur den Zettel.
Der Faller quält sich seitdem. Denn er kann genauso wenig wie ich mit Sicherheit sagen, dass er das Mädchen nicht auf dem Gewissen hat. Die haben uns ausgeknockt damals. Die haben uns was in die Drinks getan. Wir waren so wehrlos wie die Obdachlosen, die im Bunker vermöbelt wurden. Und wir haben keinen blassen Dunst, was in der Zeit passiert ist, als es in unseren Köpfen dunkel war.
Wir sitzen auf einer Mauer, vor uns liegt der Sandstrand, links neben uns schiebt sich die durchgefrorene Elbe sachte in Richtung Meer. Ich bin ganz nah an den Faller rangerückt, so nah, wie es gerade noch geht, ohne dass es ihm oder mir unangenehm wäre. Wir rauchen. Ziehen mit dem Rauch die kalte Luft ein und beruhigen unsere inneren Schwellungen.
»Die kriegen nicht viel für ihre Prügeleien, oder?«
Der Faller kuckt auf die Elbe, mit grauen Wolken in den Augen. Irgendwie ist der ganze Kerl heute eine einzige graue Wolke.
»Na ja«, sage ich. »War immerhin gefährliche Körperverletzung. Kommt auf den Jugendrichter an. Aber die sind ja vorher alle nicht auffällig geworden. Ich tippe mal auf Jugendstrafe mit Bewährung. Plus halbes Jahr Anti-Aggressionstraining. Mehr wird da wahrscheinlich nicht bei rumkommen.«
Ich schmeiße meine Kippe in den Sand.
»Ich hab immer noch nicht begriffen, warum die das gemacht haben. Die Obdachlosen haben denen nichts getan. Die waren einfach nur da. Es ist doch auch nicht so, dass die irgendwem was wegnehmen. Ich versteh das nicht.«
»Es liegt immer an der Familie«, sagt der Faller. »Wenn es in der Familie nicht stimmt, geht’s schnell schief.«
»In meiner Familie hat gar nichts gestimmt«, sage ich. »Und ich hab auch nicht angefangen, wehrlose Leute zu Brei zu schlagen.«
»Sie sind zu Mitgefühl fähig, Chas. Und das hat Ihnen irgendwer beigebracht. Vermutlich war es Ihr Vater. Er hat Ihnen sein Herz gezeigt, seinen Schmerz. Das war vielleicht nicht schön, aber er hat Sie mitgenommen, in die Welt der Gefühle.«
Ich ziehe an meiner Zigarette und zucke mit den Schultern. Ich tue so, als wäre nichts. Ich tue so, als würden mir nicht die Tränen in die Augen steigen.
»Dass Sie nicht in der Lage sind, in Ihrem Privatleben was draus zu machen, ist eine andere Sache«, sagt der Faller. »Aber Sie kennen die Regeln unseres sozialen Lebens, Sie wissen, was Menschlichkeit ist. Wer das zu Hause nicht mitkriegt, dem nützt auch das schönste Kinderzimmer nichts.«
Er schiebt seinen Hut ein Stück nach hinten, zieht noch mal an seiner Zigarette und schmeißt sie weg.
»Die jungen Leute sehen diesen Egoismus, der um sich greift. Die Gier. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich jeder einfach nimmt, was er haben will. Wir leben in einer Gesellschaft, die in sich gewalttätig ist. Wir achten nicht auf die, die zurückbleiben, nachdem wir uns bedient haben. Das kann junge Männer auf direktem Weg in die Katastrophe schicken. Männer jagen gern. Und sie mögen es, die Beute zappeln zu sehen. Das ist ein hilfreicher Instinkt, wenn man überleben will, aber auch ein sehr gefährlicher. Auf den müsste eine Gesellschaft besser aufpassen, als unsere es tut.«
»Warum haben die Mädchen mitgemacht, Faller?«
Jetzt zuckt er mit den Schultern.
»Mit den Dämonen von Frauen kenne ich mich nicht aus«, sagt er.
Ich mich auch nicht. Ich hab meine ja von meinem Vater geerbt.
»Wissen Sie, was ich gut finde, Chas?«
»Nein, Faller, weiß ich nicht.«
»Dieser Wolfsmensch in seinem Keller, der hat den Kindern und auch allen anderen gezeigt, wie höhere kulturelle Entwicklung geht.«
»Weil er an Weihnachten nicht allein sein wollte?«
Verdammt. Ich muss an meine Mutter denken.
»Weil er auf Gewalt nicht mit Gewalt geantwortet hat. Er hat darüber nachgedacht, und das können wir auch alle nachvollziehen, aber er hat es nicht gemacht. Er hat Yannick und Angel kein Haar gekrümmt. Er hat ihnen was zu essen gemacht.«
Ich muss lächeln. Der Faller hat recht. Der Wolfsmensch hat den Jugendlichen eine doppelte Lektion erteilt. Erst hat er ihnen eine Scheißangst eingejagt. Und dann hat er ihnen gezeigt, wie man miteinander umgeht.
»Trotzdem muss er wahrscheinlich in den Bau«, sagt der Faller, »während die Herrschaften gemütlich frei rumlaufen.«
»Ach«, sage ich, »das ist doch gar nicht so schlecht. Der ist nach ein paar Monaten wieder draußen. Und er hat in der kalten Zeit wenigstens ein Zimmer mit Heizung. Und ein richtiges Bett unterm Arsch.«
»Stimmt«, sagt der Faller. »Der ist erst mal weg von der Straße.«
Er kuckt in den Himmel. Ich mache mit. Die Wolken ziehen schneller als die Elbe.
»Wie sieht’s da eigentlich bei Ihnen aus?«
»Wie sieht was bei mir aus?«
»Das Leben auf der Straße«, sagt er, »das Herz auf der Flucht.«
Er sieht mich an.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Er fehlt mir.«
»Wer?«
»Klatsche.«
»Der würde mir an Ihrer Stelle auch fehlen.«
»Ich würde ihn gerne anrufen«, sage ich.
»Machen Sie doch«, sagt der.
»Geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich hab ihn beschissen«, sage ich.
»Ich weiß«, sagt der Faller.
»Woher wissen Sie das?«
»Wissen alle«, sagt er.
»Aha.«
»Rufen Sie ihn an«, sagt er. »Der kann das ab.«
»Was?«, frage ich. »Das Anrufen oder das Bescheißen?«
»Beides.«
Wir rutschen von der Mauer runter, gehen noch eine Weile am Strand entlang, schmeißen ein paar Steine und Stöcke auf die Eisschollen. Wir feuern Strandgut ab. Dann geht der Faller nach Hause, und ich gehe irgendwohin.
*
Es ist, als würde ich in einem Wirbelsturm stehen, genau in der Mitte. An dem Punkt im Sturm, an dem es ganz still ist. Da stehe ich also, und mein Blick klettert an dem Haus hoch, in dem ich wohne. Ganz langsam, Etage für Etage, Balkon für Balkon. Der Efeu, der zärtlich am ganzen Haus hochkriecht und es vielleicht eines Tages zum Einsturz bringen wird. Die schmiedeeisernen Balkongeländer. Der schmutzige Stuck, hier noch dran, da schon ab. Links und rechts fliegen die Raketen, am Himmel platzt das Feuerwerk auf. Noch eine halbe Stunde, dann ist Mitternacht. Schluss, aus, fertig mit diesem Jahr. Das nächste, bitte. Silvester mag ich vom Prinzip her eigentlich ganz gern.
Meine Wohnung im dritten Stock ist dunkel. Schwarzdunkel. Da ist nicht mal ein Glimmern hinterm Fenster. Die Wohnung nebenan, Klatsches Wohnung, leuchtet ganz sachte. Nicht so wild und fröhlich wie sonst, aber sie leuchtet. Er ist da.
Der Faller hat gesagt, ich soll Klatsche anrufen. Ich weiß nicht. Ich drücke mich lieber ein bisschen im Schatten rum. Nur noch zehn Minuten drück ich mich rum, hier unten im Hauseingang.
Dann nehme ich mein Telefon, wähle Klatsches Nummer und trete ins zuckende Licht der Silvesternacht.
»Hey«, sagt er.
»Ich bin’s«, sage ich.
»Ach nee. Wo steckst du denn?«
»Ich bin unten«, sage ich.
Er antwortet nicht, kommt aber ans Fenster. Hebt vorsichtig die Hand.
»Hallo«, sage ich.
»Hallo, Baby.«
»Nenn mich nicht Baby«, sage ich.
Ich sehe, dass er grinsen muss.
»Was hast du denn noch vor heute?«, fragt er.
»Nichts Besonderes«, sage ich. »Vielleicht ein paar Knallfrösche werfen.«
»Ich hätte Raketen hier«, sagt er.
»Raketen kann ich gut gebrauchen«, sage ich. »Komm doch mal runter.«
»Kommst du danach mit mir nach oben?«, fragt er.
Ich nicke, und er kann es sehen.
»Aber wir machen kein Bleigießen, okay?«
»Niemals«, sage ich. »Bleigießen ist was für Idioten.«
Ich lege auf, sehe, wie er sich eine Zigarette anzündet, dann ist er weg vom Fenster. Ein paar Augenblicke später geht im Treppenhaus das Licht an. Als er vor mir steht, in der einen Hand seine Zigarette, in der anderen Hand fünf Raketen, ist es, als würde warmer Honig in mein Herz laufen. So sieht meine Heimat aus: dunkelblonde, struppige Haare über grünen Augen, Sommersprossen und einem unverschämten Grinsen. Ohne Heimat lebt es sich einfach nicht besonders gut.
»Und?«, fragt er.
»Was und?«
»Bist du wieder da? Kann ich wieder mit dir rechnen?«
»Kannst du«, sage ich.
»Und was mach ich, wenn du wieder abhaust?«
»Du haust ja auch manchmal ab«, sage ich.
»Das ist natürlich richtig«, sagt er, zieht an seiner Zigarette und macht ein Steve-Mc-Queen-Gesicht in Richtung Hafen. »Schlaues Mädchen.«
Er kuckt einmal nach links und einmal nach rechts, so als würde er für uns beide den günstigsten Weg durchs Feuergefecht suchen, und ein bisschen ist es ja auch so. Das Auge des Sturms, in dem ich eben noch stand, hat sich aufgelöst oder ist zumindest eine Straße weiter gezogen. Wir befinden uns mitten im Gewirbel, mitten im Geballer. Um uns herum fliegt alles in die Luft. Es ist zehn Minuten vor zwölf.
»Hier lang«, sagt Klatsche, schmeißt seine Zigarette weg, nimmt meine Hand und zieht mich in Richtung Apotheke, ganz nah an den Häusern entlang. So kurz vor dem Jahreswechsel ist es auf Sankt Pauli immer, als wären die apokalyptischen Reiter unterwegs, aber die lustigen.
»Scheiß Bürgerkrieg«, sagt Klatsche, zieht mich um die Ecke, und wir finden einen sicheren Platz im nächsten Hauseingang. Da stehen wir also, Hand in Hand, und warten auf Mitternacht. Über uns explodiert das Firmament. Gleich wird man von dem ganzen Feuergetöse nichts mehr sehen. Dann wird so viel Rauch über den Dächern stehen und von der kalten Luft nach unten gedrückt, dass die Straßen in dichten Nebel gehüllt sind.
»Hast du eine Uhr dabei, Frau Staatsanwältin?«
Ich hole mein Telefon aus der Manteltasche.
»Noch sieben Minuten«, sage ich.
»Das sollte reichen«, sagt er.
»Wofür?«
»Hierfür«, sagt er, zieht mich an sich und fängt an, mich zu küssen, als gäbe es einen Wettbewerb zu gewinnen. Ich lasse es zu, und ich lasse mir alles wegküssen von ihm. Alles, was die letzten Tage so schwergemacht hat. Das konnte er schon immer. Mir die Last aus dem Kopf küssen. Die Dunkelheit wegwischen. Da hat er irgendeinen Trick auf Lager. Als Schluss ist mit der Küsserei, stellt er mich an der Hauswand ab und sagt:
»Jetzt aber Raketen, Baby.«
Er steckt eine nach der anderen in eine leere Sektflasche, die auf dem Gehweg rumsteht. Er schickt bunte Leuchtkugeln in die Wolken, und ich lasse den Gedanken zu, dass die nur für uns sind.
Wenn ich das richtig sehe, fängt es gerade wieder ganz leicht an zu schneien.
Der Schnee wird sich schwertun heute Nacht.
Das Feuer, das auf Sankt Pauli brennt, ist mächtiger.